Einleitung
Laut Hilfsmittelverzeichnis sind Einlagen „funktionelle Orthesen zur Stützung, Bettung oder Korrektur von Fußdeformitäten“ 1. Diese gängige Einteilung findet sich beispielsweise auch in Standardwerken wie der „Orthopädischen Technik“ von Hohmann und Uhlig 2. Dabei wird unter „Stützung“ eine Kopie des Sohlenreliefs in gewaltlos erreichbarer Stellungsverbesserung, unter „Bettung“ ein Belastungsausgleich oder eine Entlastung einzelner Sohlenabschnitte und unter „Korrektur“ eine Wachstumslenkung verstanden 3. Die Einteilung erfolgt also mittels Beschreibung der vorherrschenden Funktion einer Einlage.
Eine „sensomotorische“ Einlage, also eine Einlage, die für sich in Anspruch nimmt, über die Stimulation sensorischer Elemente eine motorische Reaktion hervorzurufen, passt nicht in diese klassische Namensgebung, da der Ausdruck „sensomotorisch“ nur einen indirekten Hinweis auf die Funktion der damit bezeichneten Einlage darstellt. Zwar wird möglicherweise auch hierbei durch die biomechanische Wirkung der für solche Einlagen typischen Pelottierungen eine gewaltlos erreichbare Stellungsverbesserung erreicht – gleichzeitig wird aber aus dieser Stellungsverbesserung heraus auch eine verbesserte muskuläre Kontrolle (entweder nur des Fuß- bzw. Sprunggelenksystems oder aber auch der gesamten Körperhaltung) postuliert. Die korrekte Beschreibung der Funktion einer „sensomotorischen“ Einlage wäre dann also „eine die Muskelaktivität beeinflussende“ Einlage. In diesem Ziel gleichen sich alle „sensomotorischen“ Einlagen – der Weg dahin kann aber völlig verschieden ausgestaltet sein.
Eine erste Strukturierung „sensomotorischer“ Einlagen kann laut Beratungsausschuss Orthopädieschuhtechnik der DGOOC über die Höhe und Festigkeit der verwendeten Pelottierung erfolgen. Unterschieden wird demnach zwischen zwei Typen von Einlagen 4:
- „sensomotorischen, propriozeptiven Fußorthesen“ mit höheren Pelottierungen (3–20 mm) aus einem Material mit einer Härte von bis zu 40 Shore‑A (Abb. 1) und
- „neurologischen“ Einlagen („d. h. Fußorthesen bei neurologischen und neuroorthopädischen Krankheitsbildern“) mit Pelottierungen von bis zu 4 mm und einer Härte bis zu 60 Shore‑A (Abb. 2).
Diese Unterscheidung nach Aufbauhöhe und Festigkeit der Pelottierungen erscheint durchaus sinnvoll. Denn wie anhand der Abbildungen 1 und 2 erkennbar ist, gibt es einen deutlichen optischen Unterschied zwischen beiden Varianten. Die Zuordnung der flacheren Variante zu neurologischen und neuroorthopädischen Krankheitsbildern deckt sich aber nicht mit Aussagen aus der einschlägigen Literatur: So werden höher pelottierte Einlagen durchaus auch bei neurologischen Erkrankungen eingesetzt 5, während flachere Einlagen häufig auch bei reinen Haltungsschwächen ohne neurologische Grunderkrankung zum Einsatz kommen 6. Insofern muss die von der DGOOC vorgenommene Einteilung kritisch hinterfragt werden.
Der Begriff der „sensomotorischen“ Einlage legt nahe, dass diese Einlagen die sensorische Wahrnehmung (Afferenz) am Beginn des sensomotorischen Regelkreises in der Weise beeinflussen, dass am Ende eine veränderte – im Idealfall optimierte – motorische Reaktion (Efferenz) steht. Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs lässt sich das sensorische System zunächst grob in Exterozeptoren (zur Umweltwahrnehmung) und Propriozeptoren (zur Eigenwahrnehmung) unterteilen. Wenn aber Propriozeption integraler Bestandteil des sensomotorischen Systems ist, erscheint die bisweilen vorgenommene Unterscheidung zwischen „sensomotorischen“ und „propriozeptiven“ Einlagen zumindest sprachlich unscharf.
Unterstützt werden die Wahrnehmung und auch die Bewegungskoordination durch das vestibuläre System, den Gleichgewichtssinn. Nicht vergessen werden darf bei dieser Unterteilung die Nozizeption (Schmerzempfindung). Diese ist allen anderen Wahrnehmungsarten übergeordnet und führt somit zu nicht willkürlich beeinflussbaren Reaktionen. Das hat zur Folge, dass jede Einlagenversorgung, die als schmerzhaft empfunden wird, nicht eine willentlich kontrollierte, sondern eine unwillkürliche Reaktion zur Folge hat. Möglicherweise war dies auch der Grund, weshalb die Übungseinlage nach Spitzy sich nicht durchsetzen konnte, obwohl dabei ein „sensomotorischer“ Grundgedanke verfolgt wurde: Bei der Spitzy-Einlage, die laut Baur et al. in den 1940er Jahren eine gewisse Popularität erreicht hatte, handelte es sich um eine einfache Ledersohle, auf die im Bereich der Längswölbung eine Kugel aufgebracht war. Über den Schmerz beim Absinken der Längswölbung sollte eine muskuläre Anhebung erfolgen. Im Grundsatz handelte es sich also um einen sensomotorischen Behandlungsansatz. Vermutlich konnte sich dieses Versorgungskonzept aber deswegen nicht etablieren, weil eine Schmerzvermeidung statt durch die gewünschte Aktivierung des M. tibialis posterior auch über viele andere, eher unphysiologische Variationen des Gangbildes möglich war.
Nach diesen Vorüberlegungen würde man also bei einer als „sensomotorisch“ betitelten Einlage erwarten, dass sich bei deren Verwendung eine veränderte Muskelaktivität beispielsweise durch EMG-Ableitung nachweisen lässt. Insbesondere bei den höheren Pelottierungen wird man aber auch eine biomechanische Auswirkung auf den Fuß nicht vernachlässigen können.
Um beiden Aspekten gerecht zu werden, beschreibt der vorliegende Artikel zunächst die biomechanische, stützende Wirkung der höher pelottierten „sensomotorischen“ Einlagen und im Anschluss daran deren Effekt auf die muskuläre Steuerung, wie er von den Protagonisten einer solchen Versorgung postuliert wird. Abschließend wird auf „neurologische“ Einlagen eingegangen. Als Beispiel für die höher pelottierte Variante wird die Versorgung eines Knickfußes mit einer sensomotorischen Einlage vorgestellt.
Biomechanisches Erklärungsmodell für die einzelnen Elemente der „sensomotorischen“ Einlagenversorgung beim Knickfuß
Das Grundproblem eines Knickfußes ist die Valgusstellung des Fersenbeins durch ungenügende aktive Stabilisierung. Aus dieser Eversionsstellung im unteren Sprunggelenk ergibt sich ohne Ausgleichsbewegung in der Fußwurzel ein Absinken des Fußinnenrandes. Durch die Bodenreaktionskraft bei Vorfußkontakt wird die mediale Seite jedoch angehoben, sodass sich eine relative Supination des Vorfußes im Verhältnis zum evertierten Rückfuß ergibt. Dadurch wird die Längswölbung abgeflacht und der Vorfuß in Abduktion gedrängt. Die Vorfußabweichung ergibt sich also aus der Kompensation des abweichenden Rückfußes, sodass bei einer Versorgung die Rückfußkorrektur als Erstes betrachtet werden muss.
Mediale Anstützung am Fersenbein
Wenn das Grundproblem eines Knickfußes die Valgusstellung der Ferse ist, so muss eine Einlagenversorgung auch am Fersenbein ansetzen und versuchen, dieses aufzurichten. Hier kommt das vielfach beschriebene Sustentaculum tali ins Spiel, an dem nach verbreiteter Lehrmeinung der höchste Punkt der medialen Längswölbungsstütze verortet werden soll. Schon die Bezeichnung „Längswölbungsstütze“ deutet aber an, dass dieses Element gar nicht die Aufgabe hat, das Fersenbein aufzurichten, sondern die Längswölbung zu unterstützen. In der entsprechenden Abbildung bei Hohmann/Uhlig 7 befindet sich dementsprechend ein dicker Pfeil als Symbol für die Krafteinleitung unter dem höchsten Punkt der Einlage am Taluskopf – dort, wo sich auch anatomisch der höchste Punkt der Längswölbung befindet, nicht am weiter hinten liegenden Sustentaculum tali (Abb. 3). Trotzdem ist im Begleittext zur Abbildung zu lesen, „die Unterstützung erfolgt unter dem Sustentaculum tali“.
Offensichtlich muss also bei einer Einlagenversorgung die Entscheidung getroffen werden, ob in erster Linie die Längswölbung gestützt werden soll (dann gehört die Anstützung in den Bereich des Taluskopfes) oder ob das Fersenbein aufgerichtet werden soll (dann gehört die Anstützung in den Bereich unterhalb des Sustentaculums).
Die Höhe dieser Anstützung hängt biomechanisch gesehen davon ab, wie viel Unterstützung benötigt wird, um die Neutralposition des Fersenbeins einzustellen. Bei zu wenig Unterstützung verbleibt das Fersenbein in einer Valgusposition. Unter Lastübernahme entsteht somit ein valgisierendes Moment, und das Fersenbein drückt mit hoher Kraft auf den Unterstützungspunkt. Ist die Unterstützung hingegen ausreichend, und das Fersenbein steht senkrecht, kommt es nicht zu einem valgisierenden Moment, und das Stützelement wird nicht als schmerzhaft wahrgenommen. Als weiterer Parameter fließt die Drucktoleranz des Anwenders mit in die Höhenfestlegung ein. Beide Aspekte beeinflussen außerdem die Festigkeitsauswahl des verwendeten Materials. Da eine Valgisierung des Fersenbeins während der Lastübernahme einen physiologischen Dämpfungsmechanismus darstellt, darf die Härte dieses Stützelementes nicht zu hoch gewählt werden, um noch eine dynamische, kontrollierte Valgisierung zuzulassen.
Anhand dieser Darstellung wird deutlich, dass bei der konventionellen stützenden Einlage die Unterstützung des Wölbungssystems im Vordergrund steht, während bei der „sensomotorischen, propriozeptiven“ Einlage die Stützung des Calcaneus die Basis für alle übrigen im Folgenden betrachteten Elemente bildet.
Laterale Anstützung am Fersenbein
Wird eine derart kräftige Anstützung auf der Medialseite des Fersenbeins angebracht, besteht die Gefahr, dass es von dieser Anstützung abrutscht und dadurch doch wieder ein Fersenvalgus entsteht. Um dies zu verhindern, wird ein lateraler Gegenhalt benötigt. Bei klassischen Korrektureinlagen wird ein solcher Gegenhalt durch einen Außenlappen verwirklicht. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Weichteile seitlich des Fersenbeins überhaupt für eine Kraftübertragung geeignet sind. Unstrittig dürfte sein, dass die Fußsohle originär zur Kraftübernahme gedacht ist. Was liegt also näher, als den Gegenhalt (statt mittels eines Außenlappens) über ein in Relation zur medialen Stütze flacher gestaltetes plantares Element zu verwirklichen (Abb. 4). Da dieses Element als Gegenhalt zur medialen Stütze ebenfalls auf das Fersenbein einwirken soll, gehört es in den vorderen Bereich des Calcaneus und nicht ans Cuboid, wo es in der konventionellen Einlagenversorgung teilweise zum Einsatz kommt. Durch eine geschickte Balance des medialen und des lateralen Stützelementes lässt sich also zum einen die Neutralstellung in der Frontalebene einstellen, zum anderen aber auch der vordere Teil des Calcaneus anheben, auf diese Weise die Neigung in der Sagittalebene verbessern und damit auch die Spannung auf den plantaren Strukturen reduzieren.
Außenrandanhebung
In der terminalen Standphase erfolgt bei einer physiologischen Muskelsteuerung durch den Zug des M. triceps surae und die Aktivität des M. tibialis posterior eine Varisierung des Fersenbeins, also eine Inversion des unteren Sprunggelenkes. Das würde dazu führen, dass ohne Kompensation in der Fußwurzel der erste Strahl keinen Bodenkontakt bekäme. Daher initiiert gleichzeitig die Fibularismuskulatur die pronatorische Umwendbewegung, um das Abrollen über den ersten Strahl zu ermöglichen. Diese physiologische Verwringung stabilisiert die Fußwurzel und ermöglicht dadurch den belastbaren Vorfußhebel, über den dann die aktive Abstoßbewegung möglich wird.
Beim Knickfuß steht der Vorfuß jedoch, wie oben hergeleitet wurde, eher in einer relativen Supination. Es wird daher am Vorfuß auf der Außenseite ein Element benötigt, das die physiologische Pronation unterstützt. Um hier aber nicht mit einer schiefen Ebene zu arbeiten, auf der es zu einer Rutschbewegung käme, wird der erste Strahl isoliert tiefergelegt und die Metatarsalen II bis V auf einem horizontalen Plateau angehoben.
Retrokapitale Stütze
Will man die Pronationsunterstützung konsequent umsetzen, so darf diese nicht erst unter den Metatarsalköpfchen beginnen, sondern muss die gesamte Länge der Metatarsalstrahlen einschließen. Folgt man dabei der anatomischen Form der Metatarsalen, entsteht automatisch eine retrokapitale Erhöhung. Je nachdem, wie stark das Wölbungssystem durch die relative Pronation des Vorfußes schon kollabiert ist, kann auch eine zusätzliche Anstützung zur Aufrichtung der Querwölbung sinnvoll sein.
Zehenbank
Neben der oben erwähnten Verwringung des Fußes trägt in der Abrollbewegung auch die Dorsalextension der Zehen mittels Verspannung der plantaren Strukturen zu einem stabilen Vorfußhebel bei („Seilwindenmechanismus“). Dieser Effekt wird in der Literatur als Verspannung der Plantaraponeurose bei Dorsalextension der Zehengrundgelenke beschrieben 8. Durch eine Zehenbank kann diese Verspannung unterstützt werden. Eine echte Zehenbank würde aber zu Platzproblemen im Schuh führen; somit hat sich eine Schrägbettung der Zehenbeeren als Kompromiss etabliert. Die passive Verspannung der plantaren Strukturen bei der Abrollung ist auch der Grund dafür, weshalb alle plantaren Stützelemente an der Einlage nur so hoch sein dürfen, wie der Fuß es bei Dorsalextension der Zehen zulässt – andernfalls kann es wieder zu unerwünschten nozizeptiven Effekten kommen.
So weit die rein biomechanische Betrachtung der einzelnen Elemente der „sensomotorischen“ Knickfußeinlage.
„Sensomotorisches“ Erklärungsmodell für die einzelnen Elemente der „sensomotorischen“ Einlagenversorgung beim Knickfuß
Die obenstehende Auflistung der mechanischen Funktionen der einzelnen Elemente einer „sensomotorischen“ Einlage verdeutlicht, dass sich für alle Elemente eine biomechanisch plausible Begründung herleiten lässt. Für die „sensomotorische“ Wirkung der konturierten Variante gibt es im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle, die jeweils unterschiedliche propriozeptive Elemente als Begründung für die Tonusbeeinflussung anführen: Das eine Modell schreibt die sensomotorische Wirkung dem Golgi-Sehnenorgan zu, das andere der Muskelspindel. Auf diese beiden Erklärungsmodelle wird im Folgenden genauer eingegangen.
Postulierte Einlagenwirkung über das Golgi-Sehnenorgan
Das Golgi-Sehnenorgan liegt im Übergang vom Muskel zur Sehne und ist für die Messung der Muskelspannung zuständig. Neben einer allgemeinen Regelfunktion dient es dem Überlastungsschutz: Wird die Spannung im Muskel zu groß, wird der Muskeltonus heruntergefahren („autogene Hemmung“); gleichzeitig wird der Tonus der antagonistischen Muskulatur erhöht. Die Wirkung des Golgi-Sehnenorgans kennt jeder, der schon einmal einen Wadenkrampf hatte: Über die passive Dehnung des hypertonen Muskels (Triceps surae) bei Dorsalextension wird die Spannung im Muskel noch weiter erhöht und als Reaktion darauf der Krampf gelöst.
Aus der Funktion des Golgi-Sehnenorgans lässt sich die Grundregel ableiten, dass ein Muskel, der einen zu hohen Tonus hat, gedehnt werden muss, um den Tonus zu senken. Umgekehrt wird daraus in den einschlägigen Erklärungsmodellen geschlossen, dass ein Muskel, der zu wenig Aktivität zeigt, verkürzt werden muss, um ihn zu aktivieren.
Mediale und laterale Anstützung am Fersenbein
Überträgt man dieses Erklärungsmodell auf die Knickfußversorgung, so führt die Aufrichtung des Fersenbeins aus der Valgusstellung bei der Lastübernahme zu einer Verlängerung auf der lateralen Seite und damit zu einer Hemmung der Fibularisgruppe; auf der medialen Seite kommt gleichzeitig zu einer Verkürzung und damit zu einer Aktivierung des M. tibialis posterior.
Retrokapitale Stütze und Zehenbank
Damit sich der M. tibialis posterior in der Tiefe der Wade anspannen kann, benötigt er wie jeder andere Muskel bei seiner Aktivierung eine entsprechende Vergrößerung seines Durchmessers. Liegt darüber ein hypertoner M. triceps surae, wird ihm dies aber schwerfallen. Entsprechend der Lösung des bereits erwähnten Wadenkrampfs wird also eine plantare Dehnung über die Zehenschrägbettung und die Dehnung zwischen den Calcaneusstützen und der retrokapitalen Anstützung benötigt.
Außenrandanhebung
Soll die Fibularisgruppe in der Vorfußbelastung dann aktiv die Verwringung des Fußes unterstützen, muss sie durch die Außenrandanhebung verkürzt und damit aktiviert werden.
Die Einlagenkonstruktion nach dem sensomotorischen Erklärungsmodell korreliert also komplett mit der Konstruktion nach dem biomechanischen Modell. Welche Wirkung letztendlich für die positive Beeinflussung des Gangbildes verantwortlich ist oder ob hier eine Synergie aus beiden geschilderten Effekten besteht, konnte bislang noch nicht wissenschaftlich belegt werden. Die häufig genannte Studie von Baur et al. über die Aktivierung der Fibularismuskulatur bei Sportlern beschreibt die Wirkung einer Längswölbungsstütze, keiner Calcaneusstütze, und ist somit zwar methodisch hochwertig, gibt aber über den falschen Einlagentyp Auskunft 9.
Wegener et al. beschreiben positive Effekte einer „sensomotorischen“ Einlagenversorgung nach Jahrling bei Patienten mit Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung. Bei diesem Krankheitsbild ist aber der sensomotorische Regelkreislauf sowohl in der Afferenz als auch in der Efferenz erheblich gestört, sodass die Ergebnisse eher für eine biomechanische Wirkungsweise sprechen 10.
Nancy Hylton, deren Versorgungssystem viele Parallelen zur „sensomotorischen“ Einlagenversorgung aufweist, hat positive Versorgungserfahrungen auch für Spina-bifida-Patienten geschildert. Wenn ihre Orthese bei dieser Klientel, bei der typischerweise ebenfalls sowohl die afferenten als auch die efferenten Bahnen gestört sind, positive Wirkungen zeigt, kann es sich zumindest bei diesen Anwendern nur um einen biomechanischen Effekt handeln.
Diese biomechanische Wirkung kann auch als Erklärung für den positiven Effekt der Versorgung mit „sensomotorischen“ Einlagen bei Spitzfußgängern gelten. Denn Ursache eines funktionellen Spitzfußes ist häufig nicht eine Spastik der Wadenmuskulatur, sondern im Gegenteil deren Hypotonus. Durch die mangelnde willkürliche Anspannung der kontrollierenden Muskulatur sind Kinder nicht in der Lage, das komplizierte Gebilde „Fuß“ koordiniert zu unterstützen. Dies gelingt trotz medialem Kollaps zwar noch einigermaßen im beidbeinigen Stand – wenn aber in der Dynamik eine Einbeinunterstützung mit der Übernahme des vollen Körpergewichts kontrolliert werden muss, kommt es zu einer unkontrollierten maximalen Anspannung der gesamten stabilisierenden Muskulatur. Da die Plantarflexoren deutlich mehr Volumen aufweisen als die Dorsalextensoren, entsteht daraus ein funktioneller Spitzfuß. Wird nun der Fuß und hier vor allem das Fersenbein durch eine individuelle Einlage gestützt, macht das Kind die Erfahrung, dass gar keine maximale Anspannung der Muskulatur erforderlich ist, um Stabilität zu erhalten. Vor diesem Hintergrund hat es dann möglicherweise die Chance, koordinierte willkürliche Bewegungen zu entwickeln.
Wissenschaftlich belegen lässt sich der vorgestellte biomechanische Erklärungsansatz letztlich ebenso wenig wie der sensomotorische. Im Gegenteil existiert sogar eine Untersuchung von Stacoff et al., die Zweifel an rein biomechanischen Erklärungsmodellen schürt 11. In der genannten Studie wurden bei fünf gesunden Probanden externe Marker für die Ganganalyse direkt im Fersenbein verankert, um so dessen Bewegung erfassen zu können. Verglichen wurde die Fersenbeinbewegung bei Läufern a) ohne Einlagen, b) mit medialer Anstützung in der Längswölbung und c) mit medialer Anstützung am Fersenbein, allerdings waren dort die Stützelemente nur maximal 1 cm hoch. Die Beeinflussung der Calcaneusposition durch die Einlagen erwies sich als gering und vor allem als unspezifisch; die Unterschiede zwischen den einzelnen Probanden waren größer als zwischen den verschiedenen Einlagen.
Andererseits gibt es eine Studie zur Auswirkung eines Längswölbungstapes auf die Aktivität des M. tibialis posterior, bei der die externe Aufrichtung der Längswölbung im Durchschnitt um 0,58 cm mit einer um 6,9 % verringerten Aktivität des Muskels einherging, was in komplettem Gegensatz zu den sensomotorischen Erklärungsansätzen steht 12.
Ein wissenschaftlicher Nachweis, dass der Tonus eines Muskels alleine über eine durch die Einlagenkonstruktion hervorgerufene Verkürzung oder Verlängerung beeinflusst werden kann, steht also bislang noch aus. Allerdings zeigt die klinische Erfahrung, dass Einlagen, die nach diesen Grundprinzipien aufgebaut sind, eine entsprechende Beeinflussung des Gangbildes hervorrufen können. Bezugnehmend auf die Definition als „gewaltlos erreichbare Stellungskorrektur“ handelt es sich bei einer nach dem beschriebenen Aufbau konstruierten Einlage also um eine stützende Einlage, wenngleich die Kopie des Sohlenreliefs nur auf die unterstützten Anteile und nicht auf die gesamte Fußsohle zutrifft.
Für die Bezeichnung solcher biomechanisch wirkender Einlagen erscheint somit eine Unterteilung in „wölbungsstützende“ und „rückfußstützende“ Einlagen sinnvoll. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch die Anmerkung, dass der Versorgungsaufwand für eine „rückfußstützende“ Einlage sowohl bei der Fußuntersuchung als auch bei der Anpassung und Kontrolle verglichen mit der „wölbungsstützenden“ Einlage erkennbar höher ist.
Postulierte Einlagenwirkung über die Muskelspindel
Die Wirkung der Muskelspindel lässt sich anschaulich anhand des Patellarsehnenreflexes verdeutlichen: Wird bei locker hängendem flektiertem Knie mit dem Reflexhammer auf die Sehne geschlagen, registriert die Muskelspindel, dass sich das Muskel-Sehnen-System verlängert. Um wieder die ursprüngliche Länge herzustellen, spannt sich der Muskel an, und der Unterschenkel schwingt nach vorne.
Übertragen auf die stabilisierende Muskulatur des Fußes kann ein entsprechender kurzer Druckimpuls auf die Sehne des M. fibularis longus an der Lateralseite des Fußes zur Aktivierung des Muskels führen. Dass dieser Effekt tatsächlich eintritt, konnte von Ludwig et al. bei 26 von 34 gesunden Probanden mittels EMG-Ableitung nachgewiesen werden 13: Bei 30 % der Standphase, also beim Übergang von der Lastübernahme zur mittleren Standphase, erfolgte ein zusätzlicher Aktivierungspeak des M. fibularis longus, der mit einer Placebo-Einlage nicht erreicht wurde. Die Form dieses Elementes unterscheidet sich dabei deutlich vom weiter oben beschriebenen lateralen Stützelement: In den verwendeten Einlagen wurde bewusst auf eine plantare Anstützung verzichtet – stattdessen weist das Aktivierungselement auf einer Höhe von durchschnittlich 30 mm eine 5 bis 8 mm dicke Konvexität auf, die seitlich etwa 8 mm unterhalb des Retinaculums einen Druckimpuls setzt. Ob der Patient auf diesen Impuls reagieren wird, lässt sich relativ genau vorhersagen, wenn bei locker hängendem Unterschenkel mit einer Hand der Muskelbauch des M. fibularis longus ertastet und mit der anderen Hand ein Druckimpuls an der beschriebenen Stelle eingebracht wird: Spürt man im Muskel ein leichtes Pulsieren, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese Aktivierung auch in der Dynamik funktioniert.
Wie in der Studie gezeigt, gibt es aber auch ca. 20 % sogenannte „non-responder“, die auf einen solchen Impuls nicht reagieren. Empfohlen wird diese Intervention bei chronischer Insuffizienz der lateralen Seitenbänder und dadurch erforderlicher stärkerer muskulärer Stabilisierung. Für den oben beschriebenen Knickfußpatienten wäre sie sicherlich kontraproduktiv. Ob durch die wiederholte Reizung der Muskelspindel ein Gewöhnungseffekt eintreten kann, wurde in der Studie nicht untersucht.
Vom Hersteller dieser nachweislich stimulierenden Einlagen wird eine entsprechende Aktivierungsmöglichkeit auch für den M. tibialis posterior postuliert. Ob der bislang fehlende Nachweis dieser Aktivierung der aufwendigen, weil invasiven EMG-Ableitung des tiefliegenden Muskels geschuldet ist oder ob möglicherweise die sehr hoch am Fuß verlaufende Sehne gar nicht mit einer plantaren Fußorthese erreicht werden kann, bleibt dabei offen. Grundsätzlich könnte aber eine Versorgung mit dem beschriebenen lateralen Element als „muskelstimulierende“ Einlage bezeichnet werden.
„Neurologische“ Einlagen
Die „neurologischen“ Einlagenkonzepte gehen auf den französischen Neurologen René Jacques Bourdiol zurück. Bei diesen Einlagen steht primär nicht die Fußkorrektur im Vordergrund, sondern die Beeinflussung der Muskelketten bis hinauf zu den Kiefergelenken. Aus Fehlhaltungen resultierende Beschwerdebilder vor allem im Rumpf- und Halsbereich, aber auch in anderen Körperregionen, sollen durch die Einlagen gelöst werden. Es gibt klar definierte maximal 4 mm starke Elemente an unterschiedlichen Positionen des Fußes (Abb. 2). Jedem Element werden dabei typische Beeinflussungen unterschiedlicher Muskelketten zugeschrieben, jedoch reagiert nicht jeder Nutzer in gleicher Weise – daher erfolgt der Aufbau der Einlagen immer nach individueller Testung. Dafür steht dem Untersucher eine Reihe klinischer Tests zur Verfügung, die häufig auch dem Nutzer eine sofortige Rückmeldung über die Auswirkung der veränderten Haltung geben.
Der biomechanische Effekt der auf diese Einlagen aufgebrachten „Plättchen“ ist wahrscheinlich deutlich geringer als bei den stützenden Einlagen mit höheren Pelottierungen – eine Beeinflussung der Wahrnehmung ist aber ebenso wahrscheinlich. Genauere Erklärungsansätze, welche Rezeptoren für welche Reaktion angesprochen werden müssen, gibt es jedoch bis dato nicht. Ebenso liegen derzeit noch keine Studien zur konkreten systematischen Tonusbeeinflussung vor. Ohlendorf konnte in ihrer Dissertation mittels dreidimensionalen Rückenscans positive Effekte der von ihr als „haltungsverbessernde“ Einlagen bezeichneten Versorgungen nachweisen 14 – allerdings waren diese Effekte nicht größer als in einer Vergleichsgruppe, die ein rehabilitatives Muskelaufbautraining erhielt. Ein Summeneffekt aus Einlagen und Muskeltraining konnte nicht nachgewiesen werden.
Fazit
Die klassische Einteilung von Einlagen erfolgt über die gewünschte Aufgabe: Korrigieren, Stützen, Betten. Sensomotorik ist jedoch keine Aufgabe, sondern ein Regelmechanismus. Daher sollte versucht werden, auch für neuere Versorgungskonzepte Begriffe zu definieren, die die jeweilige Aufgabe der Versorgung widerspiegeln.
Beim Großteil der als „sensomotorisch“ oder „propriozeptiv“ bezeichneten Einlagen handelt es sich bei genauerer Betrachtung primär um biomechanisch stützende Einlagen in gewaltlos erreichbarer Stellungsverbesserung mit möglicherweise sekundärer Auswirkung auf die muskuläre Steuerung. Zwar hat sich das Portfolio der möglichen Anstützpunkte und auch die Formgebung schon bekannter Elemente bei diesen Einlagen gegenüber der konventionellen Versorgung verändert – trotzdem sind sie nach derzeitigem Stand der Wissenschaft eher als „stützend“ zu bezeichnen. Der Fokus der Stützung liegt aber bei der konventionellen Einlagenversorgung eher auf dem Wölbungssystem, bei „sensomotorischen“ Einlagen dagegen eher auf dem Fersenbein. Eine sprachliche Differenzierung zwischen „wölbungsstützenden“ und „rückfußstützenden“ Einlagen erscheint somit sinnvoll, auch um dem unterschiedlichen Versorgungsaufwand gerecht zu werden.
Von der klassischen Einteilung nicht erfasst sind Einlagen, die mittels ihrer Gestaltung eine nachweislich veränderte muskuläre Aktivierung bewirken. Dementsprechend können diese Einlagen als „muskelstimulierende“ Einlagen bezeichnet werden. Diese Bezeichnung könnte auch für die bislang als „rückfußstützend“ betitelten Einlagen zum Einsatz kommen, sobald ein entsprechender Nachweis der Muskelstimulation geführt werden kann.
Im Gegensatz zu klassischen Einlagen, die als primäres Zielorgan den Fuß definieren, steht bei „neurologischen“ Einlagen die Beeinflussung der gesamten Körperhaltung im Vordergrund. Vorschlag für eine adäquate Nomenklatur wäre somit der Begriff „haltungsverbessernde“ Einlage.
Der Autor:
Ludger Lastring, M. Sc., OTM
Bundesfachschule für
Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
l.lastring@bufa-ot.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Rekonstruktion der ersten „Eisernen Hand“ des fränkischen Reichsritters Gottfried (Götz) von Berlichingen (1480 – 1562) — 4. Oktober 2024
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