Die Geschichte des orthopädietechnischen Unternehmens ähnelt der vieler Häuser in Deutschland: Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es unzählige kriegsversehrte Menschen mit schweren Verletzungen und Amputationen, die eine Versorgung mit den damals möglichen Hilfsmitteln benötigten. Infolgedessen gründeten zahlreiche Bandagisten oder Mechaniker orthopädische Werkstätten. Hierzu zählte auch Wilhelm Gundermann (1894 – 1982), der 1918 seinen Meister im Orthopädietechnikhandwerk mit Auszeichnung ablegte. Drei Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges eröffnete er 1921 in Würzburg die erste orthopädische Werkstatt der Stadt. Bereits 1925 zog die Firma nach Aschaffenburg, wo noch heute die Firmenzentrale steht.
Mehrfach wagte die Familie den Neuanfang: Nach der Zerstörung ihres Wohn- und Geschäftshauses bei einem Bombenangriff 1944 baute das seit 1931 verheiratete Paar Wilhelm und Theresia Gundermann 1945 eine neue orthopädische Werkstatt und ein Sanitätshaus auf. Nur 16 Jahre später entstand 1961 ein neues Wohn- und Geschäftshaus, ebenfalls in Aschaffenburg. Einige Umzüge und Filialgründungen später vereint das Sanitätshaus heute 40 Mitarbeiter:innen an fünf Standorten in Aschaffenburg, Großostheim, Großwallstadt und Seligenstadt.
Erfindungsreich und umtriebig
Treu der Grundeinstellung: „Du musst mit den Augen stehlen und sehen, welche Verbesserungen und Neuerungen machbar sind“, sei sein Vater Wilhelm ein Tüftler, Entwickler und Konstrukteur gewesen, berichtet Karl Gundermann, der bis zu seinem Ruhestand 2014 das Unternehmen leitete. Der Erfinder- und Konstruktionsgeist, der seinen Vater zeit seines Lebens umgetrieben habe, brachte zahlreiche Gebrauchsmuster und Patente hervor. Seine wichtigsten Erfindungen waren ein Brems-Gleitknie für Holzprothesenträger und ein allseitig beweglicher Fuß. Für die Verbesserung der Lebensqualität unzähliger Versehrter erhielt er 1974 das Bundesverdienstkreuz.
„Zugleich war er ein selbstgerechter Patriarch“, beschreibt der 89-jährige Karl Gundermann seinen Vater rückblickend. „Meine Mutter wiederum war eine umtriebige und sehr aktive Geschäftsfrau. Sie sorgte für Harmonie, wenn missliche Stimmung zwischen dem Ehemann und dem Rest der Welt herrschte.“ Wilhelms Ehefrau Theresia (1902–1991) unterstützte im Bereich Sanitätshaus das Unternehmen zeit ihres Lebens tatkräftig, wie Sohn Karl betont, obwohl sie parallel drei Kinder großzog.
Von der Orthopädie-Technik zur Vollversorgung
„In unserer Familie gab es keine Trennung zwischen Beruf und Privatleben“, erinnert sich Karl Gundermann. „Ich bin von Kindheit an in den Beruf hineingewachsen, wobei mich die vielfältigen Möglichkeiten des Orthopädiehandwerks wirklich sehr interessiert haben.“ Seit Beginn seiner Ausbildung im Jahr 1946 in der Firma tätig, legte er 1958 die Meisterprüfung zum Orthopädiemechaniker und Bandagisten an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik (BUFA) ab. Von 1972 bis 2014 war er der Chef der Firma, musste sich aber so manches Mal gegen den „übermächtigen Vater“ behaupten, wie er sagt: „Ich habe während meiner beruflichen Laufbahn den Wandel der Branche erlebt, konnte dabei aber meine Ideen umsetzen.“
In seine Zeit als geschäftsführender Gesellschafter fiel der Aufbau der Abteilung Reha-Technik mit dem Verleih von Pflegebetten und Rollstühlen. Als erster Sanitätshausbetreiber in Deutschland überzeugte er Krankenkassen davon, dass Leihmodelle für Pflegebetten und Rollstühle günstiger seien als der Ankauf. Mit der Gründung der Reha-Technik-Abteilung startete zugleich der Ausbau des Sanitätshauses zum Vollversorger. Ein weiterer Meilenstein in seiner Amtszeit: Bereits 1982 trat er mit seinem Unternehmen bei Sani Aktuell ein. Die Organisation war im gleichen Jahr als reiner Einkaufsverband gegründet worden. Bis heute zeichne den Familienbetrieb Gundermann das stete Bemühen und Streben aus, das Beste für die Kunden zu erreichen, erklärt der Meister im Ruhestand. Das alles unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Aspekte. „Dies geschieht nur gemeinsam mit unseren Mitarbeitern. Wir sehen uns als ein familiär geführtes Haus.“
Liebe zur Vielfalt
Acht Jahre lang leiteten Vater und Tochter das Unternehmen gemeinsam, bevor sich Karl Gundermannn ins Private zurückzog. „Ich habe viel gelernt in dieser Zeit und bin meinem Vater sehr dankbar dafür“, unterstreicht Sabine Gundermann, die die Geschicke des Hauses seit 2014 allein bestimmt. Allerdings habe sie anfangs mit dem Eintritt in das Familienunternehmen gehadert. „Das Restaurieren von Möbeln und Häusern hat mich als junge Frau sehr fasziniert. Aber inzwischen liebe ich die Vielfalt unserer Branche sehr und habe den Einstieg nicht bereut“, erklärt die Orthopädiemechanikerin und Bandagistin (Abschluss 1980) sowie Diplom-Betriebswirtin des Handwerks. Das berufsbegleitende Studium hatte sie neben ihrer Tätigkeit in der Werkstatt absolviert und 1990 abgeschlossen. Bis heute steht sie an zwei Tagen in der Woche in der Werkstatt, begleitet ihre Mitarbeiter:innen aktiv. Unter ihrer Leitung eröffnete das Sanitätshaus die drei Filialen in Großostheim, Großwallstadt und Seligenstadt.
Verwirrende Pandemieregeln
Angesprochen auf die letzten 16 Monate der Corona-Pandemie, berichtet die Geschäftsführerin von dem enormen Stress, den die Pandemiebegleiterscheinungen mit sich brachten. „Keiner wusste im ersten Lockdown, wie es weitergeht. Spätestens die Verluste im zweiten Lockdown konnten wir nicht mehr aufholen, auch wenn wir insgesamt im vergangenen Jahr mit einem blauen Auge davongekommen sind“, so die 59-Jährige. „Richtig katastrophal lief das Geschäft im ersten Quartal dieses Jahres, weil die Kund:innen total verwirrt waren über die ständig wechselnden Ladenöffnungsbedingungen und einfach nicht mehr ins Geschäft kamen.“ Das alles brauche sie nicht nochmal, aber der nächste Lockdown komme bestimmt, ist sie überzeugt.
Die größte Belastung für alle sei aber die Bürokratie – Pandemie hin oder her. Zu ihrer Anfangszeit habe eine Schreibmaschine für das Verfassen der kurzen Kostenvoranschläge ausgereicht, so Sabine Gundermann. Inzwischen beschäftige sie fünf Verwaltungsangestellte allein für die Abrechnung. Diese wachsende Bürokratie mit dem damit verbundenen Aufwand für alle Mitarbeiter:innen sieht genauso Karl Gundermann als nachteilig für die Branche an. Positiv seien hingegen die Weiterentwicklungen in der Technischen Orthopädie, die ihn sehr fasziniere, sowie die Möglichkeiten, über Verbandsmitgliedschaften wirtschaftlicher Material zu besorgen. Zudem lobt er die Vereinfachung beim Beitritt zu Krankenkassenverträgen. Viel Zuversicht und Geduld wünscht Karl Gundermann seiner Tochter und all den anderen Kolleg:innen für eine weiterhin positive Entwicklung der Branche.
Ruth Justen
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