Anhand eines Fallbeispiels soll gezeigt werden, inwiefern eine frühe myoelektrische Prothesenversorgung bereits im Kindesalter sinnvoll sein kann. Die im Raum stehende Auffassung, wonach Kinder unter Umständen eine solche Prothese nicht ausreichend nutzen, kann in diesem Fall nicht bestätigt werden.
Diagnose
Die siebenjährige Theresa verunfallte im August 2017, als sie im Rahmen einer leichten Tätigkeit im elterlichen Betrieb Holzbriketts herstellte und aufgrund eines Materialstaus in die Brikettiermaschine griff. Die Hand wurde in die Maschine gezogen, und es kam zum sofortigen Ausriss der kompletten nichtdominanten linken Hand. Nach Verbringung in die BG-Unfallklinik Murnau zeigte sich in der Erstdiagnostik eine vollständige Avulsionsverletzung auf Höhe der mediokarpalen Reihe. Zusätzlich bestätigte sich der Ausriss der Beugesehnen und eine Elongation des Gefäß-Nerven-Bündels. Das mitgelieferte Amputat zeigte sich massiv geschädigt (Abb. 1). Eine Replantation war aus diesem Grund nicht möglich. Nach ausgiebigem Debridement und einer Lavage erfolgte die Stumpfbildung auf Höhe des linken Handgelenkes (Abb. 2–4).
Behandlung
Das Kind klagte postoperativ neben dem gewöhnlichen Wundschmerz über erhebliche Phantomschmerzen mit der Angabe, „einzelne Finger“ zu spüren. Daher schloss sich unverzüglich eine gezielte medikamentöse Therapie zur Behandlung der neuropathischen Schmerzen mit Pregabalin an. Ibuprofen und Novalgin wurden zur Analgesie der nozizeptiven Schmerzkomponente eingesetzt.
Ergotherapeutische Maßnahmen wurden initial eingeleitet zur Behandlung und weiteren Prävention der Phantomschmerzen. Schwerpunkt dieser Behandlungen waren eine Spiegeltherapie, kognitiv-therapeutische Übungen nach Perfetti sowie „Recognise Flash Cards“ der NOI Group zur Vermeidung einer Chronifizierung der angegebenen Phantomschmerzen. Weitere Maßnahmen waren ein individuelles Sensibilitätstraining, eine Stumpfabhärtung und ein Stereognosie-Training. Die gesunde Extremität wurde in die physikalischen Maßnahmen und das physiotherapeutische Training miteinbezogen.
Im weiteren Verlauf klagte die Patientin weiterhin über Phantomschmerzen, die sich unter psychischer Belastung potenzierten. Mit der erlernten GMI-Therapie („Graded Motor Imagery“) kann das Kind den Phantomschmerz mittlerweile gut bekämpfen.
Vorüberlegungen zur Hilfsmittelversorgung
Bereits zwei Wochen nach der operativen Behandlung und Wundkonditionierung äußerte die Mutter des Kindes, selbst Ärztin, die Frage nach der optimalen prothetischen Versorgung, eventuell mit einer myoelektrischen Prothese. Um dem Kind und seinen Eltern einen Einblick in seine Zukunft vermitteln zu können, wurde das sogenannte Peer-Counseling angewandt: Anhand der Beratung durch eine langjährige Patientin mit Handamputation wurden Möglichkeiten der Versorgung und zur Bewältigung des Alltags nach einer Handamputation aufgezeigt.
Genehmigung durch den Kostenträger
Die Anerkennung des Unfalls durch die Gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) kristallisierte sich als Vorteil bei der Frage nach der prothetischen Versorgung heraus. Laut SGB VII hat die Versorgung des Versicherten oder Unfallverletzten mit „allen geeigneten Mitteln“ zu erfolgen. Übersteigen die anfallenden Kosten der Hilfsmittelversorgung die Sätze der gesetzlichen Krankenversicherung, so werden wie in diesem Fall die zusätzlichen Kosten durch den Unfallversicherungsträger erstattet.
Das Genehmigungsverfahren der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) erleichtert schnelle Anpassungen, Neuversorgungen und Spezialanfertigungen wie z. B. die unten abgebildete Lenkerhalterung am Fahrrad.
Der hier dargestellte komplexe Fall erforderte viel Fingerspitzengefühl von Beginn der Behandlung an bis zum heutigen Tag. Die Entscheidung zu einer primären Versorgung mit einer myoelektrischen Prothese erfolgte nach vielen interdisziplinären Telefongesprächen mit Kollegen und Orthopädie-Mechanikern, die eine hohe Expertise aufweisen.
Prothetische Versorgung
Grundsätzlich kann eine regelmäßige Prothesennutzung den Phantomschmerz unmittelbar positiv beeinflussen. Für myoelektrische Prothesen wird in diesem Zusammenhang sogar ein signifikant höherer Effekt als bei Habitusprothesen festgestellt, was sich im klinischen Alltag aus Sicht der Verfasserin bestätigt 1. Eine Frühversorgung hat den gewünschten Erfolg der Akzeptanz und des funktionellen Zugewinns sowie der Phantomschmerzreduktion. Bei Fehlen der Prothese, z. B. aufgrund von Wartungsarbeiten oder der Neuanfertigung eines passgerechten Schaftes, kommt es zu einer Schmerzverstärkung und zu einer Unzufriedenheit des Kindes. Es erfordert eine hohe Expertise, den Anforderungen der Prothetik unter den Gegebenheiten der Versorgung eines Kindes gerecht zu werden. Daher sollten solche Versorgungen vorzugsweise in Zentren durchgeführt werden, die diesbezüglich hohe Erfahrungswerte vorweisen können.
Gerade im Kindesalter sind häufige Nachjustierungen und Neuanfertigungen von Schäften aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Wachstums erforderlich. Im hier beschriebenen Fall hat die Exartikulation der Hand Vorteile hinsichtlich der laufenden Anpassungen der Prothetik, da die Epiphysenfugen nicht betroffen sind und somit die Wachstumspotenz gleichmäßig verteilt bleibt 2.
Die Prothesenhand wurde in der Erstversorgung relativ groß gewählt; somit konnte die myoelektrische Hand bisher weiterverwendet werden. Wie oben dargestellt werden die Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) regelmäßig trainiert (Abb. 5 u. 6), um Fehlbelastungen der großen Gelenke der oberen Ex-tremität und der Halswirbelsäule zu minimieren. Auch entsprechende Adaptionen von Gegenständen, die täglich in Gebrauch sind, werden im Rahmen der ergotherapeutischen Maßnahmen weiter überarbeitet und angepasst.
Die Prothese wird derzeit täglich bis zu 10 Stunden getragen; Adaptionen wie z. B. eine Vorrichtung am Fahrradlenker (Abb. 7) ermöglichen die Teilhabe im sozialen Umfeld mit Freunden und der Familie. Die Patientin beschäftigt sich gerne im Garten und wird voraussichtlich im Anschluss mit einem Elektrogreifer versorgt werden.
Fazit
Eine myoelektrische Prothesenversorgung ist bereits im Kindesalter eine adäquate Möglichkeit zur Reintegration in den Alltag und zur Vermeidung von Phantomschmerzen. Der Kostendruck sollte die Entscheidung zu einer höherwertigeren Versorgung nicht beeinflussen – vielmehr sollte die Lebensqualität des Kindes im Vordergrund stehen, um das Heranwachsen so altersgerecht wie möglich geschehen zu lassen. Die Versorgung sollte in Zentren mit hoher Expertise durchgeführt werden, um eine größtmögliche Patientenzufriedenheit und ein maximales Outcome zu erreichen.
Die Autorin:
Sabine Drisch
Fachärztin für physikalische und rehabilitative Medizin
Leitende Oberärztin der Abteilung BG-Rehabilitation
Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau
Prof.-Küntscher-Straße 8
82418 Murnau a. Staffelsee
sabine.drisch@bgu-murnau.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Drisch S. Myoelektrische Prothesenversorgung bei einer traumatischen Handamputation im Kindesalter anhand eines Fallbeispiels. Orthopädie Technik, 2019; 70 (6): 24–26.
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- Baumgartner R, Botta P. Amputation und Prothesenversorgung. Indikationsstellung, operative Technik, Nachbehandlung, Prothesenversorgung, Gangschulung, Rehabilitation. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart, New York: Thieme Verlag, 2007: 293 ff.