Am 25. Juli 2019 eröffnete die EU-Kommission das Vorverfahren für ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Mit diesem formellen Akt leitete die Hüterin der europäischen Verträge rechtliche Schritte gegen Deutschland ein. Damit reagierte sie nach nicht einmal drei Monaten auf das Inkrafttreten des TSVG (11. Mai) und damit der gesetzlichen Neuregelungen im Sozialgesetzbuch (SGB) V. Diese Geschwindigkeit ist erstaunlich und verdeutlicht, dass hier ein altbekannter Streit auf einer neuen Stufe ausgetragen wird. Doch ist tatsächlich eine rechtliche Basis für ein Vertragsverletzungsverfahren vorhanden?
Die Ausgangslage: EU-Recht versus TSVG
Die neue Konzeption des § 127 SGB V infolge des TSVG verpflichtet die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, Verträge für die Hilfsmittelversorgung ihrer Versicherten mit interessierten Anbietern auszuhandeln. Damit legt sich der Gesetzgeber auf einen Beschaffungsweg für medizinische Hilfsmittel fest und untersagt den gesetzlichen Krankenkassen zugleich andere Möglichkeiten – zum Beispiel über spezielle Verfahren nach den europäischen Vergaberichtlinien. Laut EU-Kommission gewährleisten genau diese Richtlinien jedoch einen unverfälschten Wettbewerb, indem sie die Grundsätze der Gleichbehandlung, Transparenz und Nichtdiskriminierung für alle Marktteilnehmer anwenden. Dadurch erreichten öffentliche Auftraggeber wie die gesetzlichen Krankenkassen eine Versorgung nach hohen Qualitätsstandards zu wettbewerbsfähigen Preisen. Nach Auffassung der Kommission läuft das Verbot für die gesetzlichen Krankenkassen, diese Verfahren für medizinische Hilfsmittel zu nutzen, der EU-Richtlinie über die Vergabe öffentlicher Aufträge zuwider (Richtlinie 2014/24/EU).
Blick zurück: Geschichte des Ausschreibungsverbots
Der § 127 SGB V hat von der Einführung des öffentlichen Vergabeverfahrens – also der Ausschreibung – bis zu dessen Streichung durch das TSVG eine lange Geschichte erlebt. So implementierte das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) die öffentliche Ausschreibung am 1. April 2007 als grundsätzliches Instrument für die Beschaffung medizinischer Hilfsmittel in den § 127 Abs. 1 SGB V. Von einer Ausschreibung ausgeschlossen waren in der Regel lediglich individuell für die Versicherten hergestellte Hilfsmittel sowie solche mit hohem Dienstleistungsanteil.
Bereits am 1. Januar 2009 veränderte das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) die Neuregelung zur „Kannbestimmung“. Die öffentliche Ausschreibung war demnach nicht mehr der vorrangige Beschaffungsweg. Individuell hergestellte Hilfsmittel sowie Hilfsmittel mit einem hohen Dienstleistungsanteil wurden generell und ohne Ausnahme von der Ausschreibung ausgeschlossen. Für diese Hilfsmittel sollten Verhandlungsverträge geschlossen werden.
Weitere Änderungen erlebte § 127 Abs. 1 SGB V, als am 11. April 2017 das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) in Kraft trat. Zahlreiche Vorgaben für die Leistungsbeschreibung im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen wurden eingefügt. Gesetzgeberisches Ziel war es, die Qualität bei der Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln zu verbessern. Denn die Einführung der öffentlichen Ausschreibung in diesem Bereich wurde von stetig zunehmenden Beschwerden der Versicherten und Versichertenorganisationen über Qualitätsmängel begleitet.1 Ursachen hierfür: unzureichende Leistungsbeschreibungen, fehlendes Vertragscontrolling der Krankenkassen, massive Einschränkungen des Wahlrechts zwischen Leistungserbringern sowie der überbordende Fokus auf finanzielle Einsparungen fernab des Wirtschaftlichkeitsprinzips seitens der Krankenkassen.
Individuelle, regionale Versorgung sicherstellen
Es stellte sich immer deutlicher heraus: Die Beschaffung medizinischer Hilfsmittel ist vielfach nicht standardisierbar und hoch individuell. Für eine reibungslose sektorenübergreifende Versorgung sind regionale Strukturen nötig. Nicht zuletzt akzeptieren die Versicherten oft nicht, dass öffentliche Ausschreibungen ihr Wahlrecht zwischen verschiedenen Leistungserbringern einschränkten. Dies wurde als Eingriff in das grundrechtlich garantierte Persönlichkeitsrecht gesehen. Denn die medizinische Versorgung mit Hilfsmitteln ist häufig mit Intimitätsmomenten verbunden, die für die Versicherten nicht verhandelbar sind. Mit seinen Reformansätzen konnte der Gesetzgeber diese Spannungsfelder nicht lösen.2 Zahlreiche nationale Gerichtsverfahren zwischen gesetzlichen Krankenkassen, Aufsichtsbehörden und Leistungserbringern begleiteten die Reformbemühungen. Sie beschäftigten sich mit der Frage der Abgrenzung sozialrechtlicher Regelungen des SGB V zum europäischen Vergaberecht, die im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ihre Ausprägung finden. Vor diesem Hintergrund beendete der Gesetzgeber nach zwölf Jahren mithilfe des TSVG den Ausflug in die öffentliche Ausschreibung bei medizinischen Hilfsmitteln. Bestehende Streitigkeiten verblieben jedoch. Sie wurden auf ein europäisches Level gehoben.
Vertragsverhandlungen als deutscher Weg
Um in den Anwendungsbereich der betreffenden EU-Richtlinie 2014/24 zu fallen, müssen die in § 127 SGB V aufgeführten Vertragskonstellationen als öffentliche Aufträge qualifizierbar sein. Dann wäre ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission zu rechtfertigen.
In seiner aktuellen Fassung sieht § 127 SGB V in Abs. 1 den Abschluss von Verträgen mit Leistungserbringern, deren Verbänden oder sonstigen Zusammenschlüssen von Leistungserbringern durch Vertragsverhandlungen vor. Die Absicht, über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln Verträge zu schließen, ist dabei in geeigneter Weise öffentlich bekannt zu machen. Über die Inhalte abgeschlossener Verträge wiederum sind andere Leistungserbringer auf Nachfrage unverzüglich zu informieren.
Gemäß § 127 Abs. 2 SGB V können andere Leistungserbringer jederzeit und ohne zeitliche Beschränkung zu gleichen Bedingungen den bereits abgeschlossenen Verträgen beitreten. In diesem Fall sind Vertragsverhandlungen für den beitrittswilligen Leistungserbringer zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass den Krankenkassen gegenüber den Versicherten kein Zuweisungsrecht bezüglich einzelner Vertragspartner zusteht: Die Auswahl des Leistungserbringers geht entsprechend § 33 Abs. 6 SGB V vom Versicherten aus, der unter allen Vertragspartnern der Krankenkasse wählen kann.
In Auslegung der erwähnten EU-Richtlinie hat der EuGH in der Rechtssache Dr. Falk Pharma GmbH (Rs.C‑410/14)3 bereits klargestellt, dass die Entscheidung zwischen mehreren Wirtschaftsteilnehmern bzw. Selektivität (Treffen einer Auswahl) und die Gewährung von Exklusivität wesentliche Kernelemente sind, die den Begriff eines öffentlichen Auftrags prägen. Das jederzeitige Beitrittsrecht aller Wirtschaftsteilnehmer zu Verträgen und die unbeschränkte Offenheit eines Vertragssystems für diese sprechen hingegen eindeutig gegen einen öffentlichen Auftrag im Sinne der Richtlinie. Diese Auffassung hat der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache Tirkkonen (Rs. C‑9/17)4 bestätigt – und dies sogar unter zeitlicher Beschränkung des Beitrittsrechts. Somit ergibt sich eindeutig, dass die EU-Richtlinie für die Vertragskonstellationen des § 127 SGB V nicht anwendbar ist. Damit ist es nicht zwingend, ein Ausschreibungsverfahren durchzuführen. Das gilt übrigens genauso für Einzelverträge nach § 127 Abs. 3 SGB V. Denn in dieser Variante, die als gesetzlicher Ausnahmefall gestaltet ist, liegt keine Wettbewerbssituation unter mehreren Marktteilnehmern vor.
Verhandlungen zulässig
Weiterhin stellt sich die Frage, welchen Rahmen das primäre Gemeinschaftsrecht beim Abschluss von Verträgen gemäß § 127 SGB V setzt. Speziell, ob Verhandlungen oder Gespräche mit Leistungserbringern im Vorfeld von Vertragsabschlüssen zulässig sind. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers sollen Verträge auf dem Verhandlungsweg geschlossen werden – Vorgespräche sind da unerlässlich.
Der EuGH hat für Vertragsschlüsse außerhalb des Vergaberegimes die Grundregeln des AEU-Vertrags zum alleinigen Maßstab erhoben.5 Hierzu gehören: die Beachtung des Transparenzgebots, die Grundsätze der Nichtdiskriminierung sowie der Gleichbehandlung. Die Vertragsinhalte müssen jedoch laut EuGH-Entscheidung nicht von Vornherein in einer Weise festgelegt sein, dass kein Wirtschaftsteilnehmer darauf Einfluss nehmen kann. Die primärrechtlichen Anforderungen werden also durch das jederzeitige Beitrittsrecht, die Veröffentlichungspflicht sowie die bestehenden Auskunftsrechte in vollem Umfang erfüllt.
Fazit: Die vom deutschen Gesetzgeber mit § 127 SGB V geschaffenen Regelungen verstoßen nicht gegen die Vorgaben der Richtlinie 2014/24 EU und ebenso wenig gegen primärrechtliche Grundprinzipien.
Gesundheitswesen: Mitgliedsstaaten behalten Kontrolle
In einigen Bereichen des Gesundheitswesens hat die EU keine Regelungskompetenz (gemäß Art. 2 Abs. 1, 3. AEUV sowie § 2 Abs. 2, 4 AEUV). In alleiniger Verantwortung der Mitgliedstaaten liegen die Verwaltung des Gesundheitswesens, die medizinische Versorgung sowie die Zuweisung dafür bereitgestellter Mittel (Art. 168 Abs. 7 AEUV). Bei dieser Regelung handelt es sich um eine sogenannte Kompetenzausübungsgrenze.6
Laut EuGH sind die Kompetenz und das Interesse der Mitgliedstaaten, ihr Gesundheitssystem selbst zu organisieren und dessen Finanzierung sicherzustellen, ein genereller Rechtfertigungsgrund – also ein zwingender Grund im allgemeinen Interesse – für eine Beschränkung der Grundfreiheiten.78 Dementsprechend darf EU-Recht nicht mit grundsätzlichen inländischen Wertvorstellungen wie dem Schutz der Gesundheit kollidieren, zu dem die qualitätsgerechte Versorgung von gesetzlich Versicherten mit medizinischen Hilfsmitteln zählt.
Das bedeutet: Verhältnismäßige Gesundheitsschutzvorschriften der Mitgliedstaaten bleiben rechtlich verbindlich – und das, obwohl sie gegen das Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbot einer Grundfreiheit der EU verstoßen. Selbst bei Kollision mit primären Gemeinschaftsrechten hat die getroffene gesetzliche Regelung des Mitgliedstaats in der Regel Vorrang. Der Mitgliedsstaat kann demzufolge die Verfahrenswege im Hinblick auf Versorgungsverträge vorgeben. Er kann diese ferner auf ein bestimmtes Verfahren begrenzen, das im Einklang mit seiner Gesundheitspolitik steht – beispielsweise Verhandlungsverträge.
Keine Rechtsbasis für EU-Verfahren
Eine rechtliche Basis für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland aufgrund der Neuregelung des § 127 SGB V ist nicht ersichtlich. Diese fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24/EU.
Die Ausgestaltung des § 127 SGB V beachtet auch die primärrechtlichen Grundprinzipien der Transparenz, Diskriminierungsfreiheit und Gleichheit. Selbst wenn primärrechtliche Regelungen durch § 127 SGB V berührt würden, wäre ein solcher Eingriff über Art. 168 Abs. 7 AEUV (Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten) gerechtfertigt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie die Kommission auf die fachliche Auskunft der Bundesrepublik reagiert. Eine begründete förmliche Stellungnahme der Kommission wird jedenfalls schwierig zu verfassen sein.
Rahmenvertrag: Bewährtes Modell neu auflegen
Die Auseinandersetzung über öffentliche Aufträge im Sinne des Vergaberechts sowie die Versorgungsqualität wird zunächst fortgesetzt. Eine weitere Möglichkeit, die Diskussion zu beenden, wäre eine Rückkehr des Bundesgesetzgebers zum Verbandsrahmenvertrag als reines Beitrittsmodell für qualifizierte Leistungserbringer und einzige Vertragsform – festgeschrieben in § 127 SGB V. In anderen Versorgungssegmenten der gesetzlichen Krankenversicherung wird dies ja praktiziert. Solche Verbandsverträge mit Kontrahierungszwang gewährleisten eine gleichrangige Verhandlung mit den Krankenkassen. Schlussendlich fördern sie den fachlichen Diskurs über innovative Vertragsmodelle, die dem Wirtschaftlichkeitsgebot genügen. Denn in den letzten Jahren ist das Verhältnis zwischen Innovation und Wirtschaftlichkeit im Hilfsmittelbereich durch die überwiegende Kostenorientierung der Krankenkassen aus dem Gleichgewicht geraten.
Nico Stephan
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- 18/11205, S. 67 ff.
- BT-Drs. 19/8351, S. 202 ff.
- EuGH, Urt. v. 02.06.2016 – C‑410/14.
- EuGH, Urt. v. 01.03.2018 – C‑9/17.
- EuGH, Urt. v. 02.06.2016 – C‑410/14
- Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 168 AEUV, Rdnr. 25.
- EuGH, Urt. v. 28.04.1998 – C‑120/95, Slg. 1998, I‑1831, I‑1839,
Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 168 AEUV, Rdnr. 29. - Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 67. EL Juni 2019, Art. 258 AEUV, Rn. 38.