Einleitung
Patienten mit neurologischen Störungen weisen praktisch immer mehr oder weniger ausgeprägte Gangstörungen auf. Orthesen gehören bei diesen Problemen zur Behandlung und werden für verschiedene Zwecke eingesetzt:
- als Lagerungsorthesen, die eine Stellung über längere Zeit (oft nachts) halten, um Kontrakturen und Deformitäten vorzubeugen,
- als Quengelorthesen, die – kürzer eingesetzt – vorhandene Kontrakturen und Deformitäten korrigieren, und
- als funktionelle Orthesen, welche die funktionellen Defizite korrigieren, neben einer Prophylaxe und Therapie von Deformitäten und Kontrakturen.
Lagerungsorthesen
Lagerungsorthesen wirken ausschließlich statisch und dienen der Korrektur sowie der Prophylaxe von Deformitäten und Kontrakturen. Um dieses Ziel bestmöglich sicherzustellen, müssen unter Umständen auch Positionen eingenommen oder Konstruktionen eingesetzt werden, die eine Funktion wie Stehen oder Gehen nicht mehr erlauben. Als Beispiel sei die Ponseti-Fußschiene erwähnt. Mit den Schuhen in Außenrotation/Pronation und der beidseitigen Fixation ist ein Gehen nicht mehr möglich. Da Lagerungsorthesen in Ruhe verwendet werden, kann der funktionelle Aspekt auch vernachlässigt werden.
Quengelschienen
Gleiches gilt für Quengelschienen. Auch diese werden in Ruhe eingesetzt. Um das Ziel der Behandlung von Deformitäten und Kontrakturen effizient sicherzustellen, müssen durchaus auch nichtfunktionelle Stellungen eingenommen werden. Um den Triceps surae mit der Achillessehne zu dehnen, ist es effizienter, den Fuß in mäßiger Supination einzustellen, da auf diese Weise mehr Zug am M. triceps surae und der Achillessehne entsteht und vor allem die Fußgelenke festgestellt werden, die sonst Gefahr laufen, überdehnt zu werden (mit dem Ergebnis eines Knick-Plattfußes). Solche nichtphysiologischen Stellungen von Segmenten erzeugen zwar momentane funktionelle Achsen- und Rotationsfehlstellungen, die aber in Lagerungs- und Quengelschienen akzeptiert werden können und müssen, um ein spezielles Ziel zu erreichen. In funktionellen Orthesen sind solche Stellungen dagegen nicht akzeptabel.
Funktionelle Unterschenkelorthesen (AFOs)
Funktionelle Orthesen müssen die biomechanischen Voraussetzungen für eine möglichst normale Funktion beim Gehen und Stehen liefern. Ihr Aufbau ist biomechanisch insofern kritisch, als bereits kleine Fehler den positiven Effekt einer Orthese ins Gegenteil verkehren können. Besonders kritisch sind dabei Unterschenkelorthesen („Ankle Foot Orthoses”, AFOs), da diese über den Hebelarm am Unterschenkel großen Einfluss auf die Kontrolle und Funktion des Beines haben. Dazu muss die funktionelle Biomechanik respektiert und die Orthese entsprechend aufgebaut werden. Grundsätzlich gelten die geschilderten Punkte aber für alle in Orthesen gefassten Segmente.
Die Beine müssen als stabile Stützen den Körper halten. Erst ein stabiles Standbein ermöglicht es, das Gegenbein nach vorne zu bewegen, was ein Gehen möglich macht. Die wesentlichen zu berücksichtigenden Faktoren aus biomechanischer Sicht sind eine stabile Standfläche und eine sichere Streckung vor allem des Kniegelenks 1. Leider sind die Kniestrecker vor allem nahe der vollständigen Streckung nicht effizient genug, um die Streckstellung unter Belastung zu garantieren. Beim normalen Gehen dienen sie der Kontrolle der federnden Kniebeugung nach dem Aufsetzen während der Lastübernahme, strecken danach aber nur unvollständig im Knie.
Sowohl beim Stehen als auch beim Gehen wird die notwendige Kniestreckung erreicht, indem die Plantarflexoren (der M. triceps surae) unter axialer Belastung den Fuß nach unten und damit die Tibia nach hinten drücken, was letztlich das Kniegelenk streckt (bekannt als „plantar flexion-knee extension couple” 1 2 3). Dieser Mechanismus erfordert einen kräftigen Muskel und einen stabilen Hebelarm in Funktionsrichtung. Eine leichte Hüftbeugung ermöglicht zudem, zumindest im Stehen den Schwerpunkt vor die Rotationsachse des Kniegelenkes zu verlagern, was ebenfalls ein Streckmoment zur Folge hat. Funktionelle Unterschenkelorthesen müssen den Mechanismus des „plantar flexion-knee extension couple” wiederherstellen, respektive sie dürfen diesen nicht stören. Dazu müssen folgende Punkte beachtet werden:
- Der Tibiaschaft (repräsentiert durch die Vorderkante) muss bei AFOs senkrecht zur Schuhsohle eingestellt sein. Besteht eine übermäßige Plantarflexorenaktivität, kann diese als Feder genutzt werden, indem die AFO eine Dorsalextension erlaubt. Besteht dagegen eine muskuläre Insuffizienz, muss die AFO im Sprunggelenk steif konstruiert werden, um das „plantar flexion-knee extension couple” aufzubauen. Ob der Unterschenkel dabei proximal mit einer konventionellen dorsalen Konstruktion nach hinten gezogen oder über eine ventrale Anlage (GRAFO) nach hinten gedrückt wird, ist physikalisch gleichwertig. Besteht mit einer derart aufgebauten AFO kein Fersenballengang, so liegt der Grund nicht mehr im Fuß, sondern in einer ungenügenden Kniestreckung im Moment des Aufsetzens.
- Neben der Kontrolle durch die Orthese in der Sagittalebene ist auch die Ausrichtung in den anderen Ebenen wesentlich. Der Fuß muss unter dem Kniegelenk in Gangrichtung stehen. Wird eine Orthese eingesetzt, übernimmt diese die Steuerung aller überbrückten Gelenke und damit des Fußes und indirekt des Beins vor allem in der Schwungphase. Die Orthese bestimmt, wo in Beziehung zum Bein und in welcher Richtung der Fuß beim Aufsetzen steht. Der Fuß muss am entlasteten Bein unter dem Kniegelenk und in Gangrichtung stehen. Steht er medial oder innen von der Senkrechten durch das Knie, kommt es während Lastübernahme und Abrollen zu einer Innenrotation und einer funktionellen Instabilität im Standbein, weil das Bein über den lateralen Fußrand wegknickt (Abb. 1; bei lateraler Position des Fußes oder außen von der Senkrechten durch das Knie entsprechend zu Außenrotation und Wegknicken über den medialen Fußrand). Dieser Aufbau lässt sich leicht überprüfen: Der Patient sitzt am Couchrand mit hängenden Unterschenkeln. Bei horizontal gestellter Kniegelenksachse (leichtes Anheben des medialen Kondylus) muss der Fuß am hängenden Bein unter dem Knie positioniert sein (Abb. 2). Oft besteht eine Varusform in der Orthese am proximalen Unterschenkel, die den Fuß nach medial drückt (Abb. 3). Dieser Varus resultiert wahrscheinlich aus der Gipsmodellnahme bei gebeugtem Unterschenkel, wo sich der Bauch der anatomisch dorsolateral lokalisierten Muskulatur maximal hervorwölbt. Die Tibia als Belastungsachse ist aber in der Regel gerade, und die proximale Form der AFO muss nachkorrigiert werden.
- Des Weiteren darf kein Rotationsfehler eingebaut werden. Torsionsfehler beeinträchtigen Hebelarm und Stabilität, da das Bein über dem schlecht ausgerichteten Fuß einknickt. Die Orthese darf keinen Torsionsfehler aufweisen, weder bezüglich Innen- noch Außentorsion. Bei hängendem Unterschenkel muss der Fuß in Richtung der Oberschenkelachse zeigen (Abb. 4). Voraussetzung ist allerdings eine weitgehend normale Tibiatorsion, die am besten zwischen Malleolenachse und Kondylenachse beim sitzenden Patienten bestimmt wird. Normalerweise besteht eine Außenrotation zwischen 15 und 30°, womit der Fuß geradeaus steht. Es kann versucht werden, mit etwas übertriebener Varus-Adduktionskorrektur bei Außentorsionsfehler oder umgekehrt mit etwas übertriebener Valgus-Abduktionskorrektur einer fehlerhaften Tibiatorsion entgegenzuwirken, aber nur, solange der Fuß keine wesentliche Deformität aufweist. Mehr Bettung medial drückt den Fuß in Innen‑, mehr Bettung lateral in Außenrotation.
- Neben der korrekten Einstellung von Tibia und Fußsegment ist die Fußbettung wesentlich. Dazu ist vorgängig eine detaillierte Untersuchung des Fußes notwendig. Dabei wird vor allem auf fixierte Deformitäten geachtet, da diese sich mit funktionellen Orthesen nicht korrigieren lassen. Geachtet wird auf eine Verkürzung des M. triceps surae (resp. der Achillessehne) bei leicht supiniertem Fuß, um zu verhindern, dass Dorsalflexion in Rück- und Mittelfuß die Kontraktur kompensiert, auf eine Valgus-/Varusstellung des Rückfußes sowie im Falle, dass diese noch mobil und redressierbar ist, auf eine Supinationsfehlstellung des Vorfußes. All diese Deformitäten müssen entweder eingebettet oder therapeutisch, meist operativ, angegangen werden.
- Besteht eine fixierte Kontraktur des Triceps surae und der Achillessehne, muss diese in der Orthese über einen Absatz kompensiert werden, um die Auflagefläche wiederherzustellen. Respektiert man diese Deformität nicht, schwebt die Ferse in der Orthese, und die Kontrolle der Orthese über den Fuß geht verloren. Will man die Kontraktur nicht akzeptieren, bleiben nur Gipsredression (allenfalls auch eine konsequente Quengelschienenbehandlung) oder eine operative Korrektur. In jedem Fall aber muss der Fuß als Hebelarm stabil in Gangrichtung eingestellt sein.
- Schließlich muss der Fuß auch skelettal korrekt aufgerichtet in der Orthese gehalten sein. Die Belastung wandert beim Abrollen von der Ferse bis zum Großzehenballen (Abb. 5). Eine Plattfußdeformität erfordert deshalb eine varische Bettung ganz dorsal unter der Ferse, welche die Ferse beim Aufsetzen abstützt, eine Unterfütterung der Wölbung für die Abstützung in der Standphase und bei Supinationsdeformität (bei aufgerichtetem Fuß) ein Anheben des ersten Strahls als Abstützung für das Abstoßen (Abb. 6). Bei Klumpfußdeformität besteht die Abstützung auf der lateralen Seite und valgisch. Mit diesen Abstützungen lassen sich in der Regel die Füße ohne Druckstellen aufrichten. Diese Bettung ist essentiell, um zu verhindern, dass der Fuß in der Orthese weiterhin seine Deformität und damit Fehlrotation einnimmt. Bei jedem Knick-Plattfuß ist die Eversion mit einer Außenrotation, bei jedem Varus-Klumpfuß die Inversion mit einer Innenrotationsbewegung in der Transversalebene verbunden. Die biomechanische Anforderung, dass der Fuß in Bewegungsrichtung stehen muss, erfordert deshalb eine optimale Aufrichtung und Einstellung des Fußes.
In manchen Fällen bleibt aber trotz aller Fähigkeiten und Tricks eine Fehlrotation des Fußes bestehen, vor allem bei eingesteiften Fußdeformitäten, mit ungenügender Kniestreckung als Folge. In diesen Fällen eignet sich eine steife Plattform unter der Schuhsohle, die quasi als einfachste Prothese den Hebelarm in Gangrichtung ersetzt (Abb. 7). Kosmetisch ist diese Plattform zwar unschön und wird deshalb als „Entenfuß” bezeichnet, funktionell aber hilft sie, das „plantar flexion-knee extension couple” wiederherzustellen, und wirkt damit streckend auf das Knie. Diese Maßnahme kann auch als Test verwendet werden, um dem Patienten zu zeigen, inwiefern er von einer operativen Korrektur profitieren würde. Ein Stolpern über diese Platten wurde nicht beobachtet, da der Fuß ja entsprechend außenrotiert steht und damit die angebrachte Platte die Medianlinie nicht kreuzt.
Operative Korrektur
Bei ausgewachsenen Patienten können die Orthesen durch einen operativen Eingriff ersetzt werden. Dieser Eingriff muss ebenfalls sämtliche Komponenten berücksichtigen und die verschiedenen Korrekturen kombinieren. Eine Verlängerung des Kalkaneus oder eine verlängernde Kalkaneokuboidalarthrodese korrigiert das außenrotierende Wegknicken des Fußes, eine Schrauben-Arthrorise oder eine Arthrodese des unteren Sprunggelenks die Instabilität an diesem Ort. Zur Korrektur der Zugrichtung der Achillessehne kann der Tuber calcanei verschoben werden. Besteht eine Supinationsdeformität im Vorfuß, wird der erste Strahl zwischen Talonavikulargelenk und Metatarsale 1 flektiert. Komplexe Deformitäten wie Klumpfüße erfordern Mittelfußosteotomien.
Wichtig scheint aber, dass eine operative Korrektur das Ziel einer Orthesenfreiheit haben muss. Von einer Erleichterung der Orthesenanpassung profitiert eigentlich nur der Orthopädie-Techniker, da die Anpassungen weniger ausgeprägt und schwierig sind. Der Patient selbst dagegen hat keinen Vorteil. Bleibt trotz Fußkorrektur ein Torsionsfehler, wird eine Tibiatorsionsosteotomie angeschlossen. Gleichzeitig muss auch das Femur in Gangrichtung ausgerichtet werden, wobei funktionell die suprakondyläre und die intertrochantäre Korrektur gleichwertig sind. Eine Korrektur nach Ganglabordaten hat sich bewährt, wobei die Antetorsion nie unter 10° eingestellt wird. Mit diesen operativen Schritten, die in einer Sitzung kombiniert werden, lassen sich stabile Hebelarme in Gangrichtung rekonstruieren.
Der Autor:
Prof. Dr. Reinald Brunner
Im Kirsgarten 28
CH – 4106 Therwil
reinaldbrunner@sunrise.ch
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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