OT: Wie viele Erstbehandlungen an Ihrem Zentrum gehen auf traumatische und wie viele auf nicht-traumatische Ursachen zurück?
Roland Thietje: Im Schnitt nehmen wir zwischen 230 und 280 Patient:innen für eine Erstbehandlung pro Jahr auf. Davon haben etwa die Hälfte traumatische und die andere Hälfte nicht-traumatische Querschnittlähmungen. Wobei das Jahr 2021 und das Jahr 2020 Ausnahmen bildeten: Durch die Covid-19-Pandemie gab es eine eingeschränkte Mobilität und damit weniger dramatische Unfälle, die Querschnittlähmungen zur Folge hatten. In den letzten eineinhalb Jahren überwogen daher bei Erstaufnahmen Patient:innen mit krankheitsbedingten Rückenmarkverletzungen in unserem Zentrum.
OT: Was sind die häufigsten Ursachen für nicht-traumatische Querschnittlähmungen?
Thietje: Wir sehen seit Jahren eine kontinuierliche Steigerung bei den Fällen mit Infektionen in der Nähe des Rückenmarks. Die zweithäufigste Ursache sind Einblutungen ins Rückenmark, zum Beispiel durch blutverdünnende Medikamente, die immer häufiger gerade älteren Menschen verschrieben werden, oder Infarkte des Rückenmarks. An dritter Stelle der Ursachenhäufigkeit tritt an unserer Klinik in den Rückenmarkkanal metastasierender Krebs auf.
Mehr Erfahrung – mehr Personal
OT: Inwieweit wirken sich die verschiedenen Ursachen auf die Rehabilitation aus? Gelten für altersassoziierte Erkrankungen, die QSL zur Folge haben, nicht andere Behandlungsziele?
Thietje: Rückenmarkverletzungen sind bis heute nicht heilbar. Bei unfallbedingten Querschnittlähmungen ist das erste Ziel eine – soweit möglich – Reparatur der Wirbelsäule als stabilisierende Struktur, damit die Betroffenen frühzeitig mobilisiert werden und schnell mit der Rehabilitation beginnen können, um dann ein mobiles und selbstbestimmtes Leben zu führen. Bei traumatischen Querschnittlähmungen steht die Lähmung mit ihren Begleiterscheinungen wie Blasen- und Darmmanagement im Vordergrund. Wir können hier klare Therapieziele definieren und sichere Prognosen liefern. Viel komplexer sieht das bei den nicht-traumatischen Querschnittlähmungen aus. In diesen Fällen ist die komplette oder inkomplette Lähmung eine Folge einer oder mehrerer Vorerkrankungen, die bereits mit Einschränkungen von Herz, Kreislauf, Lunge oder auch kognitiver Fähigkeiten einhergingen. Es braucht viel Erfahrung im multidisziplinären Team, alle Ursachen und deren Auswirkungen zu erkennen, um ein jeweils sinnvolles Therapieziel zu formulieren und gemeinsam mit den Patient:innen sowie den Angehörigen umzusetzen. Schließlich haben diese Patient:innen für viele klassische rehabilitative Maßnahmen gar nicht mehr die Kraft und den Atem. Die individuellen Ziele müssen deshalb auch ständig überprüft werden.
OT: Was bedeutet das für Ihr Querschnittgelähmten-Zentrum?
Thietje: Wir müssen viel mehr Aufwand betreiben, brauchen also inzwischen einen ganz anderen Personalschlüssel als noch vor Jahren, als die traumatischen Querschnittlähmungen ganz klar überwogen. Wir brauchen aber nicht nur mehr Mitarbeiter:innen, sondern erfahrene Mitarbeiter:innen. Letztere sind schwer zu finden, Ersteres muss wirtschaftlich darstellbar sein.
Hightech im OT-Trend
OT: Welche Rolle spielen Orthopädietechniker:innen bzw. technische Innovationen bei der Versorgung von Querschnittgelähmten an Ihrem Zentrum?
Thietje: Orthopädietechniker:innen sind schlicht und ergreifend unverzichtbare Partner in der Versorgung unserer Patient:innen. Das gilt für die Rollstuhlversorgung ebenso wie für die Versorgung mit Orthesen oder Gehhilfen. Natürlich wirken sich die altersassoziierten Ursachen für Rückenmarkverletzungen auch in diesem Bereich aus. Wer über weniger Kraft und Luft für die Rehabilitation verfügt, kann nicht selbst einen Rollstuhl antreiben. Bei älteren Patient:innen beobachten wir daher den Trend zur Versorgung mit elektrischen Rollstühlen, wenn eine komplette Querschnittlähmung vorliegt. In vielen Fällen führen Rückenmarkverletzungen „nur“ zu inkompletten Lähmungen. Diese Patient:innen verfügen über eingeschränkte Geh- und Stehfunktionen. Sie brauchen von Orthopädietechniker:innen Gehwagen, Rollatoren, Einlagen oder Orthesen, wobei intelligente Orthesen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die große Kunst der Orthopädietechniker:innen als Leistungserbringer besteht darin, die Menschen sachgerecht zu versorgen. Die teuerste Hightech-Versorgung bringt nichts, wenn Patient:innen damit nicht umgehen können oder wollen. Wir dürfen weder die Patient:innen noch die Solidargemeinschaft der Krankenkassenmitglieder als Kostenträger überfordern.
Kompetenzen bündeln
OT: Wo sehen Sie Verbesserungspotenziale für die Behandlung und Versorgung von querschnittgelähmten Patient:innen in Deutschland?
Thietje: In allen für die Versorgung von Patient:innen mit Querschnittlähmungen relevanten Bereichen schlummern Potenziale: In unseren Zentren könnte weit mehr Personal arbeiten, wenn nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot unmittelbaren Einfluss auf die Personaldichte hätte. Auch bei der ambulanten Heil- und Hilfsmittelversorgung sehe ich durchaus Luft nach oben. Der Spagat zwischen sachgerechter Versorgung und Wirtschaftlichkeit gelingt nicht immer. Mein Lieblingsthema: Die Vernetzung aller Leistungserbringer untereinander hat noch immer zu viele Lücken. Aus der mangelnden oder mangelhaften Kommunikation entstehen nicht immer passende und dennoch teurere Versorgungen. Im vierten Bereich – der ambulanten Pflege – wünsche ich mir auch kontextbezogenere Betreuung, die die gesamte Komplexität der Erkrankungen berücksichtigt.
OT: Was könnten Politik und Verbände tun, um diese Potenziale auszuschöpfen?
Thietje: Mir meinen Traum von einem Medizinischen Zentrum zur Behandlung von Menschen mit Mehrfachbehinderung (MZEB) an unserem Querschnittgelähmten-Zentrum erfüllen (lacht, Anm. der Red.). Im Ernst, an einem solchen Zentrum könnten wir den uns ja bereits in ihrer ganzen Komplexität bekannten Fällen eine ambulante Versorgungsstruktur mit allen notwendigen Leistungserbringern bis hin zur Ernährungsberatung anbieten. Erfahrungen und Kompetenzen des Klinikteams könnten direkt in die weitere Versorgung der Patient:innen fließen. Natürlich muss auch ein solches Zentrum wirtschaftlich betrieben werden. Es würde sich aber auch für die Kostenträger rechnen. Viele Verbände, die sich für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen, waren in den letzten Jahren unglaublich aktiv. Sie haben sich untereinander und mit politischen Vertreter:innen vernetzt. Es bedarf dieser Solidarisierung aller Beteiligten, um mit konzertierten Aktionen zur politischen Ebene durchzudringen. Denn nur gemeinsam können wir die Bedarfe besser formulieren und gegenüber Politik und Kostenträgern transportieren. Getreu meinem Credo: Nicht klagen, sondern konstruktive Ideen entwickeln. Auf diese Weise fallen Ideen auf fruchtbaren Boden.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Rund 140.000 Menschen leben nach Schätzungen aus dem Jahr 2019 der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e. V. (DMGP), des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes e. V. (DRS), der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung (DSQ) und der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e. V. (FGQ) in Deutschland mit einer Querschnittlähmung. Hinzu kommen zwischen 2.300 und 2.500 Menschen mit neu erworbenen Rückenmarkschädigungen pro Jahr.* Nach Angaben der Fachgesellschaften und Verbände überwogen 2018 mit 55 Prozent erstmals die durch Erkrankungen verursachten nicht-traumatischen Querschnittlähmungen. Der Anteil an den neuen Querschnittlähmungen, die durch Unfälle – also traumatisch – entstanden, ging auf 45 Prozent zurück. Das durchschnittliche Eintrittsalter in die Querschnittlähmung stieg zwischen 1995 und 2018 von 34,6 Jahren auf 60,5 Jahren an. *Mehr Informationen zum Thema „nicht-traumatischer Querschnitt“ finden Sie in der Herbst-Ausgabe des Magazins „Der PARAplegiker“.
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