Rechts­gut­ach­ten zur Online-Ver­sor­gung: Was steht drin?

Prof. Dr. iur. Dr. med. Alexander P. F. Ehlers stellte im Fe­bruar 2023 sein „Gutachten zu der rechtlichen Bewertung des Outsourcings von Orthopädie-Technik-­Leistungen“ seinen Auftraggebern aus der Orthopädie-Technik-Branche vor. Das Gutachten ist nicht öffentlich, der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) hat aber eine umfassende Zusammenfassung veröffentlicht.

Unter­su­chungs­ge­gen­stand:

Das Out­sour­cing von Orthopädie-Technik-Leistungen am kon­kre­ten Bei­spiel der orthopädischen Fuß­ein­la­gen (Pro­dukt­grup­pe PG 08), die unter ande­rem bei schmerz­haf­ten und fehl­ge­stell­ten Fuß­for­men ärztlich ver­schrie­ben wer­den, dazu gehö­ren Fer­sen­sporn, Defor­mi­tä­ten in den Sprung­ge­len­ken bzw. Fehl­stel­lun­gen mit Aus­wir­kun­gen auf die gesam­te Kör­per­sta­tik wie Knick- oder Knick-Senk­fuß, Klump- oder Hohl­fuß, Achs­ab­wei­chun­gen und schmerz­haf­te Ar­throse in den Gelen­ken. Bei Krank­heits­bil­dern wie dem Dia­be­ti­schen Fuß­syn­drom (DFS) und den damit ver­bun­de­nen Risi­ken für chro­ni­sche Wun­den und Ampu­ta­tio­nen kom­men orthopädische Fuß­ein­la­gen eben­so zum Ein­satz. Ins­ge­samt umfasst die PG 08 über 30 Indi­ka­tio­nen. Out­sour­cing bedeu­tet in dem durch das Gut­ach­ten unter­such­ten Fall: gänz­li­che Online-Ver­sor­gung auf dem Ver­sand­weg mit Selbst­ver­mes­sung durch die Pati­en­ten­schaft – ohne fach­li­che Kon­trol­le oder kli­ni­sche Abnahme.

Fazit:

Die­ses Out­sour­cing von Orthopädie-Technik-Leistungen ist geset­zes­wid­rig, ver­stößt gegen natio­na­le sowie euro­pa­recht­li­che Vor­schrif­ten, wird bereits rudi­men­tä­ren medi­zi­ni­schen Stan­dards und grund­le­gen­den Anfor­de­run­gen der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung nicht gerecht und läuft den gesund­heit­li­chen Bedürf­nis­sen der Pati­en­ten­schaft zuwi­der. Die gesetz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen erlau­ben nicht, orthopädische Ver­sor­gun­gen über Online-Platt­for­men und damit im rei­nen Online­han­del zu ver­trei­ben. Die medi­zi­nisch not­wen­di­gen Gefahrverhütungskapazitäten sind durch die vor­lie­gen­den digi­ta­len Mög­lich­kei­ten nicht gege­ben. Allein durch Fern­kon­takt ist nicht gewähr­leis­tet, dass die medi­zi­nisch not­wen­di­gen Schrit­te bei der Ver­sor­gung mit ortho­pä­di­schen Ein­la­gen fach­ge­mäß erfol­gen, wor­aus mit hoher Wahr­schein­lich­keit Gesund­heits­schä­den resul­tie­ren können.

Ein­zel­be­fun­de:

Vor­schrif­ten, die durch das im Gut­ach­ten unter­such­te ­Out­sour­cing von Orthopädie-Technik-Leistungen unter ande­rem ver­letzt werden:

– Ver­stoß gegen die Hilfs­mit­tel­richt­li­nie: Der Gemein­sa­me Bun­des­aus­schuss (G‑BA) legt in sei­ner Hilfs­mit­tel­richt­li­nie fest, was bei der Ver­ord­nung von Hilfs­mit­teln beach­tet wer­den muss, um die Siche­rung der Ver­sor­gung nach den Regeln der ärzt­li­chen Kunst und unter Berück­sich­ti­gung des all­ge­mein aner­kann­ten Stands der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se zu gewähr­leis­ten. Und das muss bei vie­len Schrit­ten durch Fach­per­so­nal per­sön­lich gesche­hen. Die ver­ord­nen­de Ärz­te­schaft muss sich auf die Ein­hal­tung der in der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie hin­ter­leg­ten Ver­sor­gungs­pro­zes­se ver­las­sen kön­nen – was bei dem ­begut­ach­te­ten Out­sour­cing nicht gege­ben ist.

– Ver­stoß gegen Hand­werks­ord­nung: Orthopädietech­niker- und Orthopädieschuhmacherhandwerk sind gefah­ren­ge­neig­te Hand­wer­ke, bei denen auf­grund der dro­hen­den Gefahr von Gesundheitsschäden bei Fehl­ver­sor­gun­gen erhöh­te Anfor­de­run­gen an die Meis­ter­prä­senz­pflicht bestehen. Dazu gehö­ren eben­falls die per­sön­li­che Anwe­sen­heit, um in den Ver­sor­gungs­pro­zess jeder­zeit ein­grei­fen zu kön­nen – ob bei der Behand­lung, also Bera­tung, Ver­mes­sung, Abtas­tung, Gang­ana­ly­se etc., der Abga­be bzw. Anpro­be des Hilfs­mit­tels sowie der Bestim­mung even­tu­el­ler nach­träg­li­cher Anpas­sun­gen. Die Meis­ter­prä­senz­pflicht wird allein schon durch die Abdruck­me­tho­de beim begut­ach­te­ten Out­sour­cing-Ver­fah­ren ver­letzt: Auf Basis eines ein­ge­sen­de­ten, durch die Ver­si­cher­ten selbst erstell­ten Abdrucks auf Koh­le­pa­pier ist kei­ne Fer­ti­gung eines ord­nungs­ge­mä­ßen Hilfs­mit­tels mög­lich, gesund­heit­li­che Schä­den sind nicht auszuschließen.

– Ver­stoß gegen Qua­li­täts­si­che­rung: Das Sozi­al­ge­setz­buch SGB V schreibt fest, dass nur sol­che Leis­tungs­er­brin­ger bzw. Hilfs­mit­tel­lie­fe­ran­ten Ver­trags­part­ner von gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen sein dür­fen, die grund­le­gen­de qua­li­täts­si­chern­de Vor­aus­set­zun­gen ihres Faches erfül­len und zur aus­rei­chen­den, zweck­mä­ßi­gen und funk­ti­ons­ge­rech­ten Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln in der Lage sind – und dies in jeder Betriebs­stät­te oder Zweig­stel­le. Von einem Online­händ­ler lässt sich aus der Fer­ne grund­sätz­lich nicht beur­tei­len, ob das Hilfs­mit­tel tat­säch­lich aus­rei­chend und zweck­mä­ßig ist. Der Bera­tungs­pflicht, die dem Leis­tungs­er­brin­ger nach SGB V obliegt, wird­genauso wenig Genü­ge getan.

– Ver­stoß gegen Her­stel­ler­pflich­ten, Trans­port- und Doku­men­ta­ti­ons­vor­schrif­ten der Euro­päi­schen Uni­on (EU): Bei den ortho­pä­di­schen Ein­la­gen im Sin­ne des erstell­ten Gut­ach­tens han­delt es sich um Medi­zin­pro­duk­te der Klas­se I. Außer­dem kön­nen sie Son­der­an­fer­ti­gun­gen gemäß der EU-Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung (Medi­cal Device Regu­la­ti­on, MDR) sein, ver­bun­den mit wei­te­ren Her­stel­ler­pflich­ten zur Doku­men­ta­ti­on, Ein­pas­sung und Nach­sor­ge wie kli­ni­scher Nach­be­ob­ach­tung. Den gesam­ten Bestell- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zess in den rein digi­ta­len Han­del zu ver­le­gen, ver­stößt grund­le­gend gegen die MDR und das vor­ge­schrie­be­ne Ver­fah­ren. Denn es reicht nicht, ledig­lich ein Gips­mo­dell, Maße und/oder einen Scan zu nut­zen und Pati­ent oder Pati­en­tin nie gese­hen zu haben. MDR-Vor­ga­ben zum Pati­en­ten­schutz wer­den miss­ach­tet. Nach der Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung müs­sen pro­dukt­spe­zi­fi­sche Trans­port­be­din­gun­gen ein­ge­hal­ten wer­den, die gelie­fer­te Ware muss den Vor­ga­ben ent­spre­chend im qua­li­täts­ge­rech­ten Zustand ankom­men – das lässt sich beim Ver­sand über den Online­han­del nicht feststellen.

– Ver­stoß gegen Min­dest­an­for­de­run­gen im Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis (HMV): Das HMV und sein Kri­te­ri­en­ka­ta­log füh­ren Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät ortho­pä­di­scher Ein­la­gen und der damit ver­bun­de­nen Ver­sor­gung auf. Das vom Spit­zen­ver­band Bund der Kran­ken­kas­sen (GKV-Spit­zen­ver­band) erstell­te HMV liegt den Ver­trä­gen zwi­schen Kran­ken­kas­sen und Leis­tungs­er­brin­gern zugrun­de. Eine rei­ne Online-Ver­sor­gung mit ortho­pä­di­schen Ein­la­gen lässt die Min­dest­an­for­de­run­gen im HMV außer Acht. So wird bei­spiels­wei­se für Ein­la­gen eine Tritt­spur (Blau­ab­druck) oder ein 2D-Fuß­scan gefor­dert, ver­ein­zelt sind 3D-Fuß­scan bzw. drei­di­men­sio­na­le Ver­fah­ren wie der Schaum­ab­druck not­wen­dig. Ein Koh­le­pa­pier­ab­druck ist eine ver­al­te­te Tech­nik, die von Lai­en schon gar nicht aus­führ­bar ist, da sie zusätz­lich die Kenn­zeich­nung ana­to­misch rele­van­ter Stel­len erfor­dert. Nicht zuletzt sind die Ein­la­gen von Fach­per­so­nal in einen dafür vor­ge­se­he­nen Schuh ein­zu­pas­sen – bei rei­ner Onlin­ever­sor­gung schlicht unmöglich.

– Ver­stoß gegen all­ge­mei­nen Stand der Tech­nik: Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist grund­sätz­lich Teil eines The­ra­pie­kon­zepts, das auf medi­zi­ni­schen Indi­ka­tio­nen basiert sowie ortho­pä­di­sche, bio­me­cha­ni­sche und neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche Fach­kennt­nis­se vor­aus­setzt. Zwin­gend sind die indi­vi­du­el­le und per­sön­li­che ortho­pä­die­tech­ni­sche Unter­su­chung, Funk­ti­ons- sowie Nach­kon­trol­le. Die Do-it-yours­elf-Model­lie­rung ohne Auf­sicht genügt die­sen Anfor­de­run­gen nicht. Beson­de­re Nach­tei­le erlei­den älte­re, seh- oder hör­be­hin­der­te und in ihren moto­ri­schen Fähig­kei­ten ein­ge­schränk­te Menschen.

– Ver­stoß gegen wohn­ort­na­he Ver­sor­gung: Laut SGB V hat die Ver­sor­gung bei Hilfs­mit­teln mit Bera­tungs­be­darf wohn­ort­nah zu erfol­gen – also zum Bei­spiel die Anpas­sung. Der Kon­takt über eine Web­site ent­spricht dem nicht.

– Ver­stoß gegen Für­sor­ge­pflicht: Die Kran­ken­kas­sen müs­sen ihre Ver­si­cher­ten gemäß SGB V bei zivilrecht­lichen Scha­den­er­satz­an­sprü­chen wegen Behand­lungs­feh­lern unter­stüt­zen. Dem wider­spricht der Abschluss eines Ver­sor­gungs­ver­trags mit einem allein online agie­ren­den Leis­tungs­er­brin­ger. Durch die Aus­la­ge­rung der Ver­mes­sung der Füße an die Ver­si­cher­ten fin­det eine Haf­tungs­ver­la­ge­rung statt, was die Durch­set­zung von Ansprü­chen im Zwei­fel erschwert.

Hin­weis:

Auch wenn ande­re Ver­sor­gungs­be­rei­che bei die­sem Gut­ach­ten nicht expli­zit berück­sich­tigt wur­den, sind die Schluss­fol­ge­run­gen bezo­gen auf Online-Model­le, die fach­li­che Kom­pe­tenz auf Lai­en aus­la­gern, übertragbar.

 

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