Stärkung der Patientenrechte durch Teilhabe auch bei der Versorgung mit Hilfsmitteln?
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll mit seinen umfangreichen Rechtsänderungen dazu beitragen, Menschen mit Behinderungen eine möglichst volle und wirksame Teilhabe in allen Bereichen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich dies auf den Hilfsmittelanspruch gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen nach § 33 SGB V auswirkt, da es den Leistungsträgern und damit auch den Krankenkassen obliegt, die Neuregelungen des BTHG in die Praxis umzusetzen. In dem Zusammenhang wird behauptet, dass der Aspekt der Teilhabe im Rahmen einer Hilfsmittelversorgung keine Rolle spielen würde.
Mit dem BTHG hat der Gesetzgeber den Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX entsprechend dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention neu gefasst. Damit wird nicht mehr nur auf körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen abgestellt, sondern auf deren Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die an der gleichberechtigten Teilhabe hindern.
Das SGB IX, das die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen regelt, gilt auch für die gesetzlichen Krankenkassen, da es sich bei ihnen um Rehabilitationsträger gemäß § 6 SGB IX handelt. Somit spielt der neu definierte Behinderungsbegriff nach dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention für die Versorgung mit Hilfsmitteln eine Rolle.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Anwendung der neuen Definition des Behinderungsbegriffs zwischenzeitlich mit verschiedenen Entscheidungen bestätigt (vgl. Urteile des BSG vom 15.03.2018, B3 KR 18/17 R; vom 07.05.2020, B3 KR 7/19 R und zuletzt vom 10.09.2020, B3 KR 15/19 R). Aus diesen Entscheidungen ergibt sich eine deutliche Veränderung der Maßstäbe bei Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich. Es kommt nicht mehr allein auf die wirklichen oder vermeintlichen gesundheitlichen Defizite an. Vielmehr stehen im Vordergrund das Ziel der Teilhabe (Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und ‑gestaltung unter Berücksichtigung des Sozialraumes und der individuellen Bedarfe zu wohnen.
In der Vergangenheit hat das BSG deutlich zwischen dem unmittelbaren Behinderungsausgleich (z. B. Versorgung mit Prothesen) und dem mittelbaren Behinderungsausgleich (z. B. Versorgung mit Rollstühlen) unterschieden. Dies führte dazu, dass bei Prothesen Anspruch auf eine Versorgung entsprechend dem Stand der Technik und der Medizin, um mit den Möglichkeiten eines nicht behinderten Fußgängers gleichzuziehen, Maßstab ist und bei Versorgungen mit einem Rollstuhl nur ein Basisausgleich gewährt wurde. Die aktuelle Rechtsprechung geht davon aus, dass der Aspekt der Teilhabe und eine grundrechtsorientierte Auslegung bedeutet, dass der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen.
Es ist also die Frage zu stellen, welche wesentlichen Gebrauchsvorteile ein beantragtes Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich gegenüber einer z. B. von der Krankenkasse vorgeschlagenen Alternativversorgung hat. Was dies für die Praxis bedeutet, wird nachstehend an von den Gerichten entschiedenen Beispielfällen dargestellt.
Im ersten Fall (BSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R) ging es um die Versorgung mit einem Therapiedreirad-Tandem nach Maß mit Tretkraftunterstützung, welches vom Gericht als Spezialtherapierad bezeichnet wurde. Die Krankenkasse hatte die Versorgung mit der Begründung abgelehnt, dass das Hilfsmittel dem Freizeitausgleich diene und zur Erschließung des Nahbereichs ggf. ein Schieberollstuhl ausreichend sei. Der Gleichgewichtssinn könnte durch andere Maßnahmen, wie Krankengymnastik gefördert werden. Das BSG hat festgestellt, dass das beantragte Spezialtherapierad grundsätzlich geeignet ist, der Klägerin eine erheblich verbesserte Mobilität zu gewähren. Andere gleich geeignete Hilfsmittel gab es nach den Feststellungen nicht. Ein Schieberollstuhl genügte nicht dem Maßstab einer selbstbestimmten und selbstständigen Teilhabe, also kein Verweis auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung. Und dass das streitige Spezialtherapierad auch Freizeitinteressen dienen kann, steht dem Anspruch nicht entgegen. Entscheidend ist, dass das Grundbedürfnis der Mobilität selbstbestimmt und selbstständig befriedigt werden kann und keine anderen gleich geeigneten Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die wirtschaftlicher wären. Ein anderes alternativ vorgeschlagenes Hilfsmittel muss den Anspruch auf selbstbestimmte und selbstständige Teilhabe erfüllen können. Es reicht nicht aus, wenn es günstiger ist. Dabei sind alltagsrelevante Anforderungen (vgl.§ 6 Abs. 3 Hilfsmittelrichtlinie) zu berücksichtigen, also ob die vorgeschlagene Alternative im tatsächlichen Leben eingesetzt werden kann. Es ist gerade nicht auf einen abstrakten Maßstab abzustellen, wie es in der Vergangenheit erfolgte.
In dem zweiten Fall (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.10.2021, L 16 KR 423/20) ging es um einen Versicherten mit Multipler Sklerose bei stark eingeschränkter Gehfähigkeit und Rollstuhlpflichtigkeit, Pflegegrad 3 und einer Einschränkung der Sehfähigkeit zu 100 %. Die Krankenkasse lehnte den ärztlich verordneten Elektrorollstuhl mit der Begründung ab, dass erhebliche Zweifel an der Fahreignung aufgrund der Erblindung bestehen würden. Der Kläger klagte dagegen, da er über Jahre hinweg einen Aktivrollstuhl trotz der Sehbeeinträchtigung nach einem Blindenstocktraining und einer Mobilitätsschulung nutzte. Das LSG hat deutlich betont, dass beim Behinderungsausgleich im Vordergrund das Ziel der Teilhabe (Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und ‑gestaltung stehen. Es ist die Aufgabe des Hilfsmittelrechtes, dem behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen. Etwaige Restgefährdungen sind dabei dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen.
Zweifel an der Fahreignung werden bei älteren Menschen oder bei Kindern immer wieder als Begründung für eine ablehnende Entscheidung von elektrisch unterstütztem Hilfsmittel mit der Argumentation herangezogen, die Krankenkasse dürfe keine Hilfsmittel genehmigen, die zu einer Fremd- oder Eigengefährdung führen würden. Wie es das LSG zutreffend ausgeführt hat, liegt die Verantwortung beim Nutzer oder bei minderjährigen Kindern bei den aufsichtspflichtigen Eltern. Gefährdungen gehören auch bei behinderten Menschen zum Lebensrisiko.
Diese beiden Entscheidungen machen deutlich, dass im Rahmen des Bindungsausgleichs die Teilhabe deutlichen Einfluss auf den Anspruch auf Versorgung mit einem konkreten Hilfsmittel hat. Gerade dem regelmäßigen Verweis auf einen Basisausgleich im Bereich des mittelbaren Rechnungsausgleichs wird damit eine deutliche Absage erteilt. Es ist davon auszugehen, dass die Umsetzung in der täglichen Praxis auf Widerstände treffen wird.
Jörg Hackstein
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