Ein schmerz­vol­les Leben ohne Schmerz

„Ich stell es mir so vor, als würde der Fuß einschlafen. Er fühlt sich groß und klobig an. Und man kann damit nicht richtig laufen“, versucht Susan Clever einen passenden Vergleich zu finden, wohl wissend, dass sie sich damit dem Gefühl nur im Ansatz nähern kann. Diabetische Neuropathie zu verstehen fällt Menschen, die selbst nicht betroffen sind, schwer, ist für die Psychologische Psychotherapeutin aber eine wichtige Voraussetzung für die Behandlung und Versorgung der Patient:innen.

Denn wo der Schmerz fehlt, fehlt häu­fig auch das Ver­ständ­nis, die Ein­sicht für die Erkran­kung und das Bedürf­nis zu han­deln und etwas zu ver­än­dern. Und: Es kann nötig wer­den Kom­pro­mis­se zu schlie­ßen. Denn manch­mal ist die bes­te medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung nicht die bes­te für die Patient:innen, für ihre Gesund­heit und ihre Lebensfreude.

Anzei­ge

„Für die Betrof­fe­nen ist es oft eine gro­ße Über­ra­schung, wie – aus ihrer sub­jek­ti­ven Sicht – schnell schlimms­te Wun­den ent­ste­hen kön­nen“, berich­tet Cle­ver, die als Psy­cho­dia­be­to­lo­gin mit eige­ner Pra­xis in Ham­burg auf die The­ra­pie von Men­schen mit Dia­be­tes spe­zia­li­siert ist. „Schmerz­lo­sig­keit ist in ihrem bis­he­ri­gen Leben nie ein Krank­heits­zei­chen gewe­sen. Das ist für die Betrof­fen schwer zu ver­ste­hen.“ Auch wenn wohl die wenigs­ten Men­schen Schmer­zen etwas Posi­ti­ves abge­win­nen kön­nen: Das Gefühl ist not­wen­dig, um uns zu schüt­zen. Es signa­li­siert, dass etwas nicht stimmt. Wer am Strand auf eine schar­fe Muschel tritt, zieht den Fuß auto­ma­tisch zurück, ent­fernt die Split­ter und läuft erst­mal etwas vor­sich­ti­ger wei­ter. Aber was ist, wenn die­ser Schmerz fehlt? Men­schen mit dia­be­ti­scher Neu­ro­pa­thie haben genau die­se wich­ti­ge Rück­mel­dung, die­sen Schutz­re­flex nicht. Der Schmerz wird ent­we­der gar nicht wahr­ge­nom­men oder nur so gering, dass die Erin­ne­rung dar­an schnell ver­blasst. Aus Bla­sen und Druck­stel­len kön­nen bei wei­te­rer Belas­tung grö­ße­re Wun­den und schließ­lich Ent­zün­dun­gen wer­den, die unbe­han­delt im schlimms­ten Fall eine Ampu­ta­ti­on nach sich zie­hen. Ein schlei­chen­der Pro­zess und dadurch so gefährlich.

„Mit den Augen gehen“

Vie­le Betrof­fe­ne füh­len sich aus Cle­vers Erfah­rung her­aus irgend­wann hilf­los und depri­miert, wenn bei­spiels­wei­se trotz wochen­lan­ger Druck­ent­las­tung immer wie­der neue Wun­den ent­ste­hen. Ande­re hin­ge­gen kön­nen gut mit der Erkran­kung umge­hen, las­sen sich den Lebens­mut nicht neh­men. Auch, weil sie Risi­ken ein­ge­hen. „Men­schen mit chro­ni­schen Erkran­kun­gen sind immer in einem Spa­gat, bewe­gen sich zwi­schen dem, was sie tun müs­sen, um ihre Füße zu schüt­zen oder ihren Zucker ein­zu­stel­len und dem, was sie tun müs­sen, um sich ‚nor­mal‘ zu füh­len.“ Für Cle­ver liegt genau hier der Schlüs­sel für eine erfolg­rei­che Ver­sor­gung. Denn nicht immer sei­en die Schu­he und Ein­la­gen – so gut sie auch aus medi­zi­ni­scher und hand­werk­li­cher Sicht von Orthopädieschuhmacher:innen gefer­tigt wur­den – die bes­ten für die Patient:innen. Enge, auch zu enge Schu­he füh­len sich laut Cle­ver oft­mals ange­neh­mer für die Betrof­fe­nen an. Sie spü­ren ihre Füße dadurch wie­der und bekom­men beim Lau­fen eine Rück­mel­dung. „Es fehlt ja nicht nur der Schmerz. Es fehlt auch der Boden­kon­takt, die Ori­en­tie­rung im Raum“, betont Cle­ver. Und dadurch eben­falls ein Gefühl von Sicher­heit und Ver­trau­en in den eige­nen Kör­per. Diabetiker:innen müs­sen teils „mit den Augen gehen“. Cle­ver erin­nert sich an eine Pati­en­tin mit beid­sei­ti­gem Char­cot-Fuß. Sie trug ortho­pä­di­sche Stie­fel und hat­te ab dem Knie wenig Gefühl. Stieg sie aus dem Auto, habe sie zunächst ver­fol­gen müs­sen, wo ihre Füße sind. Eine ande­re Pati­en­tin habe sich so unsi­cher gefühlt, dass sie auf dem Weg zur Pra­xis gestol­pert sei. Laut Cle­ver sind Erfah­run­gen wie die­se nicht sel­ten der Grund dafür, dass Patient:innen ihre ortho­pä­di­schen Schu­he nicht tra­gen. „Man denkt immer, es liegt am Aus­se­hen. Das ist auch durch­aus der Fall. Der Haupt­grund aber ist die Insta­bi­li­tät, die die Schu­he geben. Die Weich­bet­tung, die sie unsi­cher wer­den lässt“, berich­tet die The­ra­peu­tin aus ihrem Praxisalltag.

Auf der Suche nach Erklärungen

Cle­ver hat Ver­ständ­nis dafür, dass es her­aus­for­dernd ist sich in Men­schen mit Neu­ro­pa­thie ein­zu­füh­len, eben­so dafür, wie frus­trie­rend es für Orthopädieschuhmacher:innen sein muss, wenn ihre indi­vi­du­ell für die Patient:innen ange­fer­tig­ten Schu­he nicht getra­gen wer­den. Für die tie­fen Wun­den und die dabei viel­leicht rela­tiv unbe­tei­ligt wir­ken­den Patient:innen ver­su­chen die Versorger:innen Erklä­run­gen zu fin­den. Nach­voll­zieh­bar sei der Gedan­ke an Demenz, Alko­ho­lis­mus, eine psy­chi­sche Erkran­kung oder schlicht Non­com­pli­ance. „Aber die­se Erklä­run­gen sind falsch. Der Mensch ist krank. Er hat eine Neu­ro­pa­thie. Er ist nicht in der Lage sich zu schüt­zen“, so Cle­ver. Und selbst für die Patient:innen, die stets bemüht sind, alles rich­tig zu machen, gel­te: „Jeder­zeit zu hun­dert Pro­zent auf etwas zu ach­ten, was man nicht fühlt, ist nicht mög­lich.“ Aus ihrer Erfah­rung her­aus nei­gen Behandler:innen auf der Suche nach Erklä­run­gen dazu in Aktio­nis­mus zu ver­fal­len, Vor­trä­ge zu hal­ten oder mit Fol­ge­er­kran­kun­gen zu dro­hen. Hilf­lo­sig­keit kip­pe in Ärger – kei­ne Lösung für bei­de Seiten.

Durch Fra­gen zum Ziel

Wie läuft also ein ver­trau­ens­vol­les Gespräch zwi­schen Techniker:in und Patient:in ab und wie sieht der „per­fek­te“ Schuh, also ein Schuh, der nicht nur gut gefer­tigt ist, son­dern sich auch gut anfühlt, aus? Die Ant­wort kann laut Cle­ver nur im gemein­sa­men Gespräch mit den Patient:innen gefun­den wer­den. „Um den Spa­gat zu meis­tern, suchen die Betrof­fe­nen Kom­pro­mis­se. Und wenn die Behand­ler nicht dazu bereit sind, die­se Kom­pro­mis­se mit ihnen ein­zu­ge­hen, dann wer­den sie die Schu­he kaum getra­gen zurück­be­kom­men“, ist sich Cle­ver sicher. Empa­thie und Ver­ständ­nis sind für sie Grund­la­ge für ein erfolg­rei­ches Gespräch. Die ers­te Fra­ge, die Behandler:innen, egal ob aus der Ärz­te­schaft, der The­ra­pie oder der Orthopädie-(Schuh)technik, Neupatient:innen stel­len soll­ten: Was ist mit Ihrem Fuß? Was wur­de Ihnen über Ihren Fuß gesagt? Dabei stel­le sich nicht sel­ten her­aus, dass die Patient:innen gar nicht wis­sen, dass eine Neu­ro­pa­thie vor­liegt, geschwei­ge denn, was das bedeu­tet. Auch, weil sie in der Ver­gan­gen­heit teil­wei­se mit ver­schie­de­nen Dia­gno­sen kon­fron­tiert wur­den. Cle­ver muss kopf­schüt­telnd an einen Pati­en­ten mit Char­cot-Fuß den­ken, bei dem im Urlaub ein „Son­nen­brand“ fest­ge­stellt wur­de. Haben Patient:innen die Erkran­kung noch gar nicht ver­stan­den oder geben bizar­re Begrün­dun­gen an, rät Cle­ver dazu, nicht zu kri­ti­sie­ren, son­dern sach­lich auf­zu­klä­ren und ver­ständ­nis­voll zu reagie­ren. Zu groß sei das Risi­ko, dass sie dann ganz dicht machen.

Sind die Patient:innen über ihre Erkran­kung auf­ge­klärt, schließt sich für die The­ra­peu­tin Fra­ge zwei an: Ergibt das für Sie Sinn? Kön­nen Sie das nach­voll­zie­hen? Anschlie­ßend sol­le den Patient:innen die Mög­lich­keit gege­ben wer­den, selbst Fra­gen zu stel­len. Ihrer Mei­nung nach eben­falls hilf­reich: Fra­gen oder Anmer­kun­gen nach fol­gen­dem Sche­ma zu for­mu­lie­ren: Sie tra­gen Ihre ortho­pä­di­schen Schu­he nur zu Hau­se. Dafür haben Sie wahr­schein­lich einen guten Grund. „Das ist ent­pa­tho­lo­gi­sie­rend“, sagt Cle­ver. So machen die Versorger:innen deut­lich, dass sie ihre Patient:innen ernst neh­men und regen sie dazu an, nun kon­kret von ihren Pro­ble­men zu berich­ten. Durch die­se Fra­gen blei­be man hand­lungs­fä­hig, so die The­ra­peu­tin. Sie hel­fen nicht nur dabei ins Gespräch zu kom­men und dabei zu blei­ben, sie die­nen auch der Dia­gnos­tik und ver­hel­fen so zu einer best­mög­li­chen Ver­sor­gung. Auf dem Weg zum rich­ti­gen Schuh kön­ne sich das so abspie­len: Was ist das Pro­blem? Was muss sich ändern, damit das Tra­gen der Schu­he für Sie mach­bar ist? Liegt es tat­säch­lich am Aus­se­hen, rät Cle­ver OST­lern dazu, sich von den Patient:innen Fotos von Schu­hen zei­gen zu las­sen, um zu sehen, was gefällt. Ihrer Mei­nung nach ist mitt­ler­wei­le optisch viel mög­lich. Um das „Hand­werk“ zu ver­ste­cken, eig­nen sich für Frau­en bei­spiels­wei­se Stie­fel, gera­de gro­ße, klo­bi­ge, wie sie der­zeit gern von Jün­ge­ren getra­gen wer­den. Lie­ge es an der Insta­bi­li­tät, kön­ne Kran­ken­gym­nas­tik emp­foh­len wer­den, die dabei hel­fe, sich siche­rer in den Schu­hen zu füh­len. Das Ent­schei­den­de ist für Cle­ver aber die Bear­bei­tung des Schuhs. „Eini­ge Men­schen kom­men mit der har­ten Rol­le nicht klar“, sagt sie. Gibt es also einen Kom­pro­miss? Cle­ver denkt dabei z. B. an eine weni­ger aus­ge­präg­te har­te Rol­le sowie an höhe­re Schäf­te, als ihr ein Pati­ent in den Sinn kommt, der vor­über­ge­hend eine höher­schaf­ti­ge Orthe­se tra­gen muss­te und begeis­tert von die­sem völ­lig neu­en Gefühl berich­te­te: Über die Wade bekam er eine deut­lich bes­se­re Rück­mel­dung. „Der ortho­pä­di­sche Schuh, den ich tra­ge – auch wenn er medi­zi­nisch nicht opti­mal ist – ist bes­ser als der, den ich nicht tra­gen kann oder tra­gen will“, ist Cle­ver über­zeugt. „Der Schuh, der einen guten Boden­kon­takt gibt, das ist der Schuh, der auch tat­säch­lich getra­gen wird.“

Für Cle­ver ist klar, dass Orthopädieschuhmacher:innen bei sol­chen Gesprä­chen oft an ihre Gren­zen sto­ßen, da sie nun mal kei­ne the­ra­peu­ti­sche Aus­bil­dung haben. Wer merkt, dass er sei­nen Patient:innen immer wie­der die glei­chen Vor­trä­ge hält oder das Gefühl hat, ihm wird nicht zuge­hört, dem rät die Psy­cho­the­ra­peu­tin dazu, sich z. B. in Fuß­netz­wer­ken oder Fuß­am­bu­lan­zen der DDG zu infor­mie­ren. Hier erhal­ten Ver­sor­ger Tipps, um Ver­ständ­nis für die Erkran­kung zu ent­wi­ckeln und einen ziel­füh­ren­den Umgang mit Diabetes-Patient:innen zu erler­nen – eine Hil­fe, um der eige­nen Frus­tra­ti­on vor­zu­beu­gen und den Betrof­fe­nen auf dem Weg zu einer pas­sen­den Ver­sor­gung zu verhelfen.

Pia Engel­brecht

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