Denn wo der Schmerz fehlt, fehlt häufig auch das Verständnis, die Einsicht für die Erkrankung und das Bedürfnis zu handeln und etwas zu verändern. Und: Es kann nötig werden Kompromisse zu schließen. Denn manchmal ist die beste medizinische Versorgung nicht die beste für die Patient:innen, für ihre Gesundheit und ihre Lebensfreude.
„Für die Betroffenen ist es oft eine große Überraschung, wie – aus ihrer subjektiven Sicht – schnell schlimmste Wunden entstehen können“, berichtet Clever, die als Psychodiabetologin mit eigener Praxis in Hamburg auf die Therapie von Menschen mit Diabetes spezialisiert ist. „Schmerzlosigkeit ist in ihrem bisherigen Leben nie ein Krankheitszeichen gewesen. Das ist für die Betroffen schwer zu verstehen.“ Auch wenn wohl die wenigsten Menschen Schmerzen etwas Positives abgewinnen können: Das Gefühl ist notwendig, um uns zu schützen. Es signalisiert, dass etwas nicht stimmt. Wer am Strand auf eine scharfe Muschel tritt, zieht den Fuß automatisch zurück, entfernt die Splitter und läuft erstmal etwas vorsichtiger weiter. Aber was ist, wenn dieser Schmerz fehlt? Menschen mit diabetischer Neuropathie haben genau diese wichtige Rückmeldung, diesen Schutzreflex nicht. Der Schmerz wird entweder gar nicht wahrgenommen oder nur so gering, dass die Erinnerung daran schnell verblasst. Aus Blasen und Druckstellen können bei weiterer Belastung größere Wunden und schließlich Entzündungen werden, die unbehandelt im schlimmsten Fall eine Amputation nach sich ziehen. Ein schleichender Prozess und dadurch so gefährlich.
„Mit den Augen gehen“
Viele Betroffene fühlen sich aus Clevers Erfahrung heraus irgendwann hilflos und deprimiert, wenn beispielsweise trotz wochenlanger Druckentlastung immer wieder neue Wunden entstehen. Andere hingegen können gut mit der Erkrankung umgehen, lassen sich den Lebensmut nicht nehmen. Auch, weil sie Risiken eingehen. „Menschen mit chronischen Erkrankungen sind immer in einem Spagat, bewegen sich zwischen dem, was sie tun müssen, um ihre Füße zu schützen oder ihren Zucker einzustellen und dem, was sie tun müssen, um sich ‚normal‘ zu fühlen.“ Für Clever liegt genau hier der Schlüssel für eine erfolgreiche Versorgung. Denn nicht immer seien die Schuhe und Einlagen – so gut sie auch aus medizinischer und handwerklicher Sicht von Orthopädieschuhmacher:innen gefertigt wurden – die besten für die Patient:innen. Enge, auch zu enge Schuhe fühlen sich laut Clever oftmals angenehmer für die Betroffenen an. Sie spüren ihre Füße dadurch wieder und bekommen beim Laufen eine Rückmeldung. „Es fehlt ja nicht nur der Schmerz. Es fehlt auch der Bodenkontakt, die Orientierung im Raum“, betont Clever. Und dadurch ebenfalls ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in den eigenen Körper. Diabetiker:innen müssen teils „mit den Augen gehen“. Clever erinnert sich an eine Patientin mit beidseitigem Charcot-Fuß. Sie trug orthopädische Stiefel und hatte ab dem Knie wenig Gefühl. Stieg sie aus dem Auto, habe sie zunächst verfolgen müssen, wo ihre Füße sind. Eine andere Patientin habe sich so unsicher gefühlt, dass sie auf dem Weg zur Praxis gestolpert sei. Laut Clever sind Erfahrungen wie diese nicht selten der Grund dafür, dass Patient:innen ihre orthopädischen Schuhe nicht tragen. „Man denkt immer, es liegt am Aussehen. Das ist auch durchaus der Fall. Der Hauptgrund aber ist die Instabilität, die die Schuhe geben. Die Weichbettung, die sie unsicher werden lässt“, berichtet die Therapeutin aus ihrem Praxisalltag.
Auf der Suche nach Erklärungen
Clever hat Verständnis dafür, dass es herausfordernd ist sich in Menschen mit Neuropathie einzufühlen, ebenso dafür, wie frustrierend es für Orthopädieschuhmacher:innen sein muss, wenn ihre individuell für die Patient:innen angefertigten Schuhe nicht getragen werden. Für die tiefen Wunden und die dabei vielleicht relativ unbeteiligt wirkenden Patient:innen versuchen die Versorger:innen Erklärungen zu finden. Nachvollziehbar sei der Gedanke an Demenz, Alkoholismus, eine psychische Erkrankung oder schlicht Noncompliance. „Aber diese Erklärungen sind falsch. Der Mensch ist krank. Er hat eine Neuropathie. Er ist nicht in der Lage sich zu schützen“, so Clever. Und selbst für die Patient:innen, die stets bemüht sind, alles richtig zu machen, gelte: „Jederzeit zu hundert Prozent auf etwas zu achten, was man nicht fühlt, ist nicht möglich.“ Aus ihrer Erfahrung heraus neigen Behandler:innen auf der Suche nach Erklärungen dazu in Aktionismus zu verfallen, Vorträge zu halten oder mit Folgeerkrankungen zu drohen. Hilflosigkeit kippe in Ärger – keine Lösung für beide Seiten.
Durch Fragen zum Ziel
Wie läuft also ein vertrauensvolles Gespräch zwischen Techniker:in und Patient:in ab und wie sieht der „perfekte“ Schuh, also ein Schuh, der nicht nur gut gefertigt ist, sondern sich auch gut anfühlt, aus? Die Antwort kann laut Clever nur im gemeinsamen Gespräch mit den Patient:innen gefunden werden. „Um den Spagat zu meistern, suchen die Betroffenen Kompromisse. Und wenn die Behandler nicht dazu bereit sind, diese Kompromisse mit ihnen einzugehen, dann werden sie die Schuhe kaum getragen zurückbekommen“, ist sich Clever sicher. Empathie und Verständnis sind für sie Grundlage für ein erfolgreiches Gespräch. Die erste Frage, die Behandler:innen, egal ob aus der Ärzteschaft, der Therapie oder der Orthopädie-(Schuh)technik, Neupatient:innen stellen sollten: Was ist mit Ihrem Fuß? Was wurde Ihnen über Ihren Fuß gesagt? Dabei stelle sich nicht selten heraus, dass die Patient:innen gar nicht wissen, dass eine Neuropathie vorliegt, geschweige denn, was das bedeutet. Auch, weil sie in der Vergangenheit teilweise mit verschiedenen Diagnosen konfrontiert wurden. Clever muss kopfschüttelnd an einen Patienten mit Charcot-Fuß denken, bei dem im Urlaub ein „Sonnenbrand“ festgestellt wurde. Haben Patient:innen die Erkrankung noch gar nicht verstanden oder geben bizarre Begründungen an, rät Clever dazu, nicht zu kritisieren, sondern sachlich aufzuklären und verständnisvoll zu reagieren. Zu groß sei das Risiko, dass sie dann ganz dicht machen.
Sind die Patient:innen über ihre Erkrankung aufgeklärt, schließt sich für die Therapeutin Frage zwei an: Ergibt das für Sie Sinn? Können Sie das nachvollziehen? Anschließend solle den Patient:innen die Möglichkeit gegeben werden, selbst Fragen zu stellen. Ihrer Meinung nach ebenfalls hilfreich: Fragen oder Anmerkungen nach folgendem Schema zu formulieren: Sie tragen Ihre orthopädischen Schuhe nur zu Hause. Dafür haben Sie wahrscheinlich einen guten Grund. „Das ist entpathologisierend“, sagt Clever. So machen die Versorger:innen deutlich, dass sie ihre Patient:innen ernst nehmen und regen sie dazu an, nun konkret von ihren Problemen zu berichten. Durch diese Fragen bleibe man handlungsfähig, so die Therapeutin. Sie helfen nicht nur dabei ins Gespräch zu kommen und dabei zu bleiben, sie dienen auch der Diagnostik und verhelfen so zu einer bestmöglichen Versorgung. Auf dem Weg zum richtigen Schuh könne sich das so abspielen: Was ist das Problem? Was muss sich ändern, damit das Tragen der Schuhe für Sie machbar ist? Liegt es tatsächlich am Aussehen, rät Clever OSTlern dazu, sich von den Patient:innen Fotos von Schuhen zeigen zu lassen, um zu sehen, was gefällt. Ihrer Meinung nach ist mittlerweile optisch viel möglich. Um das „Handwerk“ zu verstecken, eignen sich für Frauen beispielsweise Stiefel, gerade große, klobige, wie sie derzeit gern von Jüngeren getragen werden. Liege es an der Instabilität, könne Krankengymnastik empfohlen werden, die dabei helfe, sich sicherer in den Schuhen zu fühlen. Das Entscheidende ist für Clever aber die Bearbeitung des Schuhs. „Einige Menschen kommen mit der harten Rolle nicht klar“, sagt sie. Gibt es also einen Kompromiss? Clever denkt dabei z. B. an eine weniger ausgeprägte harte Rolle sowie an höhere Schäfte, als ihr ein Patient in den Sinn kommt, der vorübergehend eine höherschaftige Orthese tragen musste und begeistert von diesem völlig neuen Gefühl berichtete: Über die Wade bekam er eine deutlich bessere Rückmeldung. „Der orthopädische Schuh, den ich trage – auch wenn er medizinisch nicht optimal ist – ist besser als der, den ich nicht tragen kann oder tragen will“, ist Clever überzeugt. „Der Schuh, der einen guten Bodenkontakt gibt, das ist der Schuh, der auch tatsächlich getragen wird.“
Für Clever ist klar, dass Orthopädieschuhmacher:innen bei solchen Gesprächen oft an ihre Grenzen stoßen, da sie nun mal keine therapeutische Ausbildung haben. Wer merkt, dass er seinen Patient:innen immer wieder die gleichen Vorträge hält oder das Gefühl hat, ihm wird nicht zugehört, dem rät die Psychotherapeutin dazu, sich z. B. in Fußnetzwerken oder Fußambulanzen der DDG zu informieren. Hier erhalten Versorger Tipps, um Verständnis für die Erkrankung zu entwickeln und einen zielführenden Umgang mit Diabetes-Patient:innen zu erlernen – eine Hilfe, um der eigenen Frustration vorzubeugen und den Betroffenen auf dem Weg zu einer passenden Versorgung zu verhelfen.
Pia Engelbrecht
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