Einleitung
Die kleinen Patienten entwickeln häufig schon sehr früh ihre eigenen Lösungen, um in ihrer Situation geeignete Wege für sich zu finden. Sie entdecken ihre Möglichkeiten und finden ihre Grenzen häufig selbst. Die sogenannte Patschhandversorgung (Abb. 1) mit einer „Physiolino“-Silikonhand, die im ersten Lebensjahr der Kinder als Versorgung möglich ist, muss unter Berücksichtigung ihrer Vor- und Nachteile ausgewählt werden. Sicherlich kann sie einen Einstieg in das regelmäßige Tragen einer Prothese bedeuten, vorausgesetzt, das Kind setzt sie funktionell ein. Auch kann der Längenausgleich beim Krabbeln und Stützen ein großer Vorteil sein.
Auf der anderen Seite „begreifen“ Kinder in dieser Zeit ihre Welt; dabei wird der Dysmeliearm (Abb. 2) auch zum Fühlen und Spielen eingesetzt. Durch eine Prothese wird die Sensibilität jedoch deutlich eingeschränkt. Speziell kleine Kinder brauchen daher Zeit, eine geplante Versorgung zu akzeptieren. Der Einsatz dünnwandiger HTV-Schäfte ist nach Meinung des Verfassers der beste Weg zu einer erfolgreichen Versorgung. Bei der Testversorgung kann sich durchaus herausstellen, dass die Kinder die betroffene Seite im ersten Moment weniger einsetzen. Dies muss in jedem Fall beobachtet werden, und es sollte alles dafür getan werden, dass die Kinder bereits die Testversorgung funktionell gut einsetzen können. Sollte das nicht gelingen, ist eine Endversorgung in Frage zu stellen. Akzeptiert das Kind die Versorgung nicht, ist es besser, zunächst Abstand davon zu nehmen. Man sollte in jedem Fall die Entwicklung des Kindes regelmäßig beobachten – sind funktionelle Schwierigkeiten zu erkennen, können dem Kind individuelle Hilfsmittel angeboten werden. Häufig stellt zum Beispiel das Steuern eines Laufrades für Kinder mit unilateralen Fehlbildungen die erste Hürde dar. Dann verschaffen individuell gefertigte Lenkhilfen (Abb. 3) dem Kind einen funktionellen Vorteil. Dieser erste Kontakt mit einem Hilfsmittel kann zu einer positiven Erfahrung führen, was für eine spätere prothetische Versorgung vorteilhaft ist.
Dieser Artikel zeigt Möglichkeiten auf, wie Reduktionsdefekte am Unterarm bei Kindern prothetisch versorgt werden können. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die hier vorgestellten Beispiele die individuellen Bedürfnisse der jeweils versorgten Patienten berücksichtigen – ein Anspruch auf Vollständigkeit der Versorgungsmöglichkeiten kann daher nicht erhoben werden. Die Einteilung der Versorgungshöhen orientiert sich am Qualitätsstandard für Armprothetik des Vereins zur Qualitätssicherung in der Armprothetik e. V. (VQSA) 1. Da es bei Dysmelien sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt, sind die Übergänge der Einstufung manchmal fließend.
Schaftgestaltung
Die Schaftgestaltung erfordert ein besonderes Augenmerk, denn die Einbettung muss mit sehr viel Sorgfalt durchgeführt werden, um den kleinen Patienten einen guten Schaftkomfort zu bieten. Häufig sind zum Beispiel an den Dysmeliestümpfen rudimentäre Finger vorhanden (Abb. 4). Diese dürfen weder zu eng noch zu weiträumig eingebettet werden. Dies erfordert in der Regel einen erheblichen Mehraufwand in der Versorgung. Eine weitere Herausforderung ist die Wahl von Passteilen für funktionelle Prothesen. Es ist zwar zweifellos sinnvoll, die kleinen Patienten frühzeitig mit einer funktionellen Prothese zu versorgen, jedoch ist die Auswahl an Passteilen sehr begrenzt, die in puncto Aufbauhöhe, Größe und Gewicht dafür geeignet sind. Generell dürfen Prothesen keine Überlänge provozieren, was grundsätzlich bei allen Versorgungshöhen eingehalten werden muss.
Partialhand und lange transkarpale Dysmelien (Abb. 5)
Für die kleinen Patienten steht bei diesen Defekthöhen die HTV-Silikontechnik als Versorgungsmöglichkeit zur Verfügung. Versorgungen dieser Art können den jungen Patienten neben kosmetischen (Abb. 6) durchaus auch funktionelle Vorteile bieten. Wenn wie in Abbildung 7 der Daumen so positioniert wird, dass er als Opponent dient, kann beispielsweise ein Fahrradlenker sicher geführt werden. Ein solcher Gebrauchsvorteil für das Kind spiegelt sich in der Akzeptanz der Versorgung wider. Die Nichtausbildung des Daumens (Abb. 8) lässt sich durch Silikongegengriffprothesen funktionell und kosmetisch gut ersetzen. Der künstliche Daumen wird mit Hilfe einer Carbonspange in das Silikon eingearbeitet – so ist ein sicherer Gegenhalt gewährleistet (Abb. 9).
Im Erwachsenalter oder im späten Jugendalter besteht die Möglichkeit einer Versorgung mit myoelektrischen Teilhandprothesen (Abb. 10a u. b). Dies ist allerdings auf grund der Bauteilgrößen stark limitiert. Funktionell bietet diese Versorgungsoption zwar durchaus Vorteile, kosmetischästhetisch ist sie aber nicht immer befriedigend (Abb. 11). Die Steuerung kann über Elektroden oder Schalter umgesetzt werden. Eine besondere Herausforderung besteht darin, alle Bauteile (Akku, Steuerung, Elektroden) in der Hand unterzubringen. Wenn es möglich ist, sollten die Bauteile nicht außerhalb der Prothese am Unterarm angebracht werden, da die Patienten sich dadurch häufig in ihrer Handgelenksbeweglichkeit gestört fühlen. Dies kann jedoch nicht immer vermieden werden.
Die Einbettung der Hand erfolgt in HTV-Schafttechnik; als Träger für die Finger und als Verkleidung der Komponenten dient ein dünnwandiger Carbon-Spangenschaft. Die Bewegung im Handgelenk sollte möglichst nicht eingeschränkt werden. Auch hier ist der Gebrauchsvorteil durch eine ausgiebige Erprobungsphase sicherzustellen.
Lange (Abb. 12) und mittellange Unterarmdefekte (Abb. 13)
Diese Defekte lassen sich am besten mit nicht-ellbogenübergreifenden Schaftkonstruktionen versorgen, da hier die Drehbewegung im Radioulnargelenk erhalten werden kann. Die individuelle Silikonliner-Technik (Abb. 14) ist ein geeignetes Mittel, den Stumpf sicher im Schaft zu fixieren. Die Gestaltung des Schaftes lässt sich auch flexibel durchführen; so kann ein bestmögliches Bewegungsausmaß gewährleistet und die Adaptivität der Prothese an die Umgebung erhalten werden (Abb. 15a u. b). Der aufgebrachte Carbonrahmen sorgt für die notwendige Führung und ist gleichzeitig Träger und Bindeglied für die elektronischen Bauteile. Die Verkleidung der Prothese wird aus Weichschaum hergestellt und erhält somit die adaptiven Eigenschaften des Schaftes. Als weitere Möglichkeit stehen HTV-Schlupfschäfte zur Verfügung. Da ein wichtiger Punkt bei der Versorgungsplanung auch das selbstständige An- und Ablegen sein sollte, muss bei der Gebrauchsschulung darauf geachtet werden, dass der Patient dieses auch ausreichend übt und sicher beherrscht.
Nach Meinung des Verfassers ist bei der Auswahl der Prothesenart eine funktionelle Versorgung zu favorisieren, jedoch stehen die Bedürfnisse des Kindes und seines Umfeldes immer im Vordergrund. Aus orthopädietechnischer Sicht besteht die Schwierigkeit besonders bei kleinen Kindern darin, den Schaft so zu gestalten, dass trotz der Bauteile (Akku, Elektroden und Steuerung) ein vertretbares Unterarmvolumen nicht überschritten wird. Dies ist oftmals nur mit integrierten Akkumulatoren zu erreichen (Abb. 16).
Kurze (Abb. 17) und ultrakurze Unterarmdefekte (Abb. 18)
Diese müssen ellbogenumgreifend eingebettet werden, um den Stumpf sicher in der Prothese zu halten. Der Verfasser favorisiert in diesem Zusammenhang herausnehmbare HTV-Innenschäfte (Abb. 19), die über eine mediolaterale Klammer durch einen Einstieg von hinten (Abb. 20) oberhalb des Epikondylus medial und lateral gehalten werden. Die Kondylenklammer (Abb. 21) wird per Klettverschluss gesichert. Der Ellbogen ist im Schaft ausgespart; so kann das Weichteilvolumen gut im HTV-Schaft aufgenommen werden. Die weiche Gestaltung des Beugebereiches erlaubt ein komfortables Abwinkeln des Ellbogens.
Es stellt für die Patienten keine Schwierigkeit dar, die Prothese ohne Hilfsmittel (Gel oder Anziehhilfe) an- und abzulegen. Im Gegensatz zu fest integrierten Silikonschäften lassen sich diese sehr gut reinigen. Die sichere Einbettung garantiert eine zuverlässige Ansteuerung auch in körperfernen Regionen (Abb. 22).
Spezialhilfsmittel
Kinder haben genauso wie Erwachsene häufig den Wunsch, trotz ihrer Beeinträchtigung beispielsweise ein Instrument zu erlernen. Diesen Wunsch können individuell gefertigte Hilfsmittel erfüllen, wenn dies mit der Alltagsprothese nicht möglich ist (Abb. 23). Das Beispiel einer Gitarrenspielhilfe zeigt einen individuell gefertigten HTV-Schaft, in den ein Plektrum (Kunststoffplättchen zum Anschlagen der Saiten) integriert ist. So werden die Kräfte direkt auf den Stumpf übertragen. Durch dieses Hilfsmittel kann die Patientin ihre Gitarre gefühlvoll spielen. Bei Kindern mit bimanuellen Fehlbildungen ist es unbedingt notwendig, bereits in der sensomotorischen Phase mit geeigneten Hilfsmitteln frühzeitig zu beginnen. So können einfache Hilfsmittel dem Kind einen erheblichen Mehrwert bieten, zum Beispiel, mittels individueller Besteckhalterungen aus Silikon selbstständig zu essen (Abb. 24).
Prothesengebrauchsschulung
Eine adäquate Prothesengebrauchsschulung ist elementarer Bestandteil jeder Hilfsmittelversorgung an der oberen Extremität – nur wer sein Hilfsmittel genau kennt, kann es sinnvoll nutzen. Mögliche Schwierigkeiten mit der Versorgung stellen sich häufig erst im Gebrauch heraus. Aus diesem Grund muss der Orthopädie-Techniker eng mit dem Therapeuten zusammenarbeiten, der das Training durchführt. Die Einbeziehung der Wünsche der Kinder ist förderlich für die Akzeptanz des Hilfsmittels. So sollte bereits bei der Testversorgung neben den üblichen Trainingsabläufen (Abb. 25) auch auf Hobbys und Vorlieben (Abb. 26) der Kinder eingegangen werden.
Fazit
Patienten mit Dysmelien sind keine kleinen Erwachsenen, die bereits mit einer Amputation auf die Welt kamen, sondern Kinder mit zwei Händen, die unterschiedlich ausgebildet sind. Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist ein Angebot, das dem Kind neue Möglichkeiten eröffnet. Die Auswahl nach Art, Umfang und geeignetem Zeitpunkt stellt für alle Beteiligten eine individuelle Herausforderung dar. Eine intensive Prothesengebrauchsschulung ist ein elementarer Teil der Hilfsmittelversorgung und muss stets an die Bedürfnisse der kleinen Patienten angepasst sein. Das Ziel lautet, den Kindern mit ihren Hilfsmitteln ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten. Die begrenzte Auswahl an geeigneten Passteilen erfordert vom Techniker oft sehr viel Kreativität.
Der Autor:
Jochen Steil, OTM
Bereichsleiter Arm- und Silikontechnik
Fachbereich Neurorehabilitation, Brillinger GmbH und Co. KG
Handwerkerpark 25,
72070 Tübingen,
Jochen.Steil@brillinger.de
Steil J. Prothesen bei Reduktionsdefekten am Unterarm. Orthopädie Technik, 2018; 69 (7): 59–56
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