Das Ergebnis: Den Leser:innen eröffnet sich ein Nachschlagewerk, das die gesamte Bandbreite der Neuroorthopädie abdeckt. Im Gespräch mit der OT gibt Prof. Dr. Walter Strobl, Leiter des MOTIO Fortbildungsinstituts für Kinder- und Neuroorthopädie, Wien, detaillierte Einblicke in die Inhalte, die Ziele und den langen Weg von der Idee bis zur Umsetzung.
OT: Wie ist die Idee entstanden, diese zwei Fachbücher zur Neuroorthopädie zu verwirklichen?
Prof. Dr. Walter Strobl: Schon vor dem Start des Universitätslehrgangs „Neuroorthopädie – Disability Management“ im Jahr 2009 an der Donau-Universität für Weiterbildung Krems hatte ich dazu ein Konzept seit etwa 20 Jahren in meiner Schublade liegen. Den Anstoß, das Konzept dort herauszuholen, gaben mir dann drei Absolvent:innen des Masterstudiengangs: die Physiotherapeutin Claudia Abel, die Sozialpädagogin Elisabeth Pitz und der Neuroorthopäde Nils Schikora, alle drei Mitherausgeber:innen, die mir ihre Unterstützung zusicherten. Ich habe das sofort aufgegriffen und gesagt, wenn ich Unterstützung bekomme, realisieren wir das gemeinsam und wir haben uns drangesetzt, mein Konzept komplett zu überarbeiten. Spezialbücher zu den einzelnen Krankheitsbildern gibt es überaus viele. Wir wollten aber nichts dazusetzen, sondern unser Ziel war es, ein Fachbuch herauszubringen, das einen Überblick über den State of the Art gibt, aber gleichzeitig methodenunabhängig, evidenzbasiert, produktunabhängig ist. Jeder Artikel sollte dabei von den aus unserer Sicht besten Expert:innen des deutschen Sprachraums verfasst werden.
OT: Welche Rolle spielte bei der Erstellung der Neuroorthopädie-Masterlehrgang?
Strobl: Der Lehrgang hat uns bei der Erreichung unseres Ziels sehr geholfen, weil wir auch da immer schon versucht haben, für unsere Studierenden die besten Vortragenden zu gewinnen. Das scheint uns auch weitgehend gelungen zu sein, wie die Entwicklung des Lehrgangs zeigt. Deshalb lagen aus den letzten zehn Jahren so viele gute Vorträge und ausgearbeitete Skripte vor, die die zahlreichen Expert:innen für den Studiengang erarbeitet haben. Warum also die Skripte nicht als Basis nehmen für einen Buchbeitrag? Das Argument überzeugte, sodass wir von fast allen Expert:innen sofort eine Zusage erhielten.
OT: Warum zwei verschiedene Fachbücher?
Strobl: Zunächst war von uns nur ein Fachbuch geplant. Der Springer Verlag hat uns dann aber erstmal ein bisschen den Kopf zurechtgerückt, weil er sagte: Ein interdisziplinäres Fachbuch, mit dem wir alle Berufsgruppen ansprechen und bei dem wir sogar Patient:innen mitschreiben lassen, sei zu innovativ. Der Verlag plädierte aus seiner Erfahrung in Bezug auf Ansprachen von Zielgruppen heraus deshalb für zwei Fachbücher: eines mehr für die Zielgruppe Ärzt:innen und eines eher praxis- bzw. methodenorientiert für die Therapieberufe. Daraufhin haben wir ein Konzept für ein allgemeines Lehrbuch entwickelt, das eher für Ärzt:innen und Institutionen interessant ist, und ein etwas spezielleres Buch für die Therapeut:innen, in dem zwar auch einige Grundlagen erfasst sind, aber insbesondere alle Therapietechniken vorkommen, die im ersten Band nicht so ausführlich beschrieben sind. Grundsätzlich sind aus unserer Sicht beide Bände für alle Berufsgruppen, auch Orthopädietechniker:innen, sehr interessant, weil inhaltliche Überschneidungen bei einer Größenordnung von nur etwa einem Drittel liegen.
OT: Was erwartet die Leser:innen beim Hardcover: „Neuroorthopädie – Disability Management“?
Strobl: Dieses umfasst drei große Themengebiete. Der erste Teil beinhaltet Grundlagen und Erkrankungsbilder. Den neuromotorischen Grunderkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter werden die gesetzmäßig auftretenden orthopädischen Probleme und Erkrankungen sowie deren Behandlungsansätze gegenübergestellt und einzeln beschrieben. Es geht dabei nicht um das Aufführen von Kochrezepten für die Patient:innen, wir haben es ja mit vielen, individuellen Verläufen und psychosozialen Hintergründen im Klinikalltag zu tun. Deshalb geht es hier um das Aufzeigen von Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien, die in Klinik und Praxis weiterhelfen können, sowie vielen Hinweisen zu weiterführender Spezialliteratur. Der zweite Teil führt dann von der Erklärung der einfachsten und häufigsten Behandlungen bis hin zu den seltensten bzw. komplexesten. Bei diesem Teil haben wir als Erstes einen Patienten gefragt. Das ist sicherlich ungewöhnlich für ein Lehrbuch, aber wir denken, dass es im Sinne des inklusiven Lehrbuchs unbedingt notwendig ist, dass Patient:innen bei uns eine Stimme bekommen und uns sagen, was ihnen bei der Therapiezieldefinition wichtig ist. Von dort aus haben wir überlegt, wie man einen Menschen mit Behinderung am besten begleiten bzw. die Behinderung ausgleichen kann. Beginnend mit einem Artikel zur UK (Unterstützten Kommunikation) werden Therapieformen, orthopädietechnische Hilfsmittel und vieles mehr bis hin zu den verschiedenen medikamentösen und operativen Maßnahmen dargestellt, bevor es im dritten Teil um die Versorgungsstruktur geht. Der dritte Teil beginnt bei der Geschichte, also der Frage, wie sich die medizinische Betreuung und Behandlung von Menschen mit Behinderung entwickelt haben. Dem schließen sich die Kapitel zu Selbsthilfegruppen, Bildung, Sport, Reha, Migration, Ethik an bis hin zu Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Fachgebiet. Am Schluss schließt sich mit den verschiedenen Ausbildungsangeboten für das gesamte Behandlungsteam der Kreis zu unseren Lehrgängen, die den Ausgangspunkt und die Grundlage für das Fachbuch bilden.
OT: Was bietet das Taschenbuch „Therapeutisches Arbeiten in der Neuroorthopädie“ den Leser:innen?
Strobl: Bei diesem Band haben wir das erste Kapitel mit den Grundlagen und Krankheitsbildern kürzer gehalten, um dann im zweiten Teil eine sehr umfassende ICF-basierte Darstellung der einzelnen Behandlungstechniken für bestimmte Alltagsaktivitäten der Patient:innen zu bringen. Diese beginnt bei der Kommunikation, Sprache und Ernährung, geht dann weiter mit Gehen, Stehen, Transfers bis hin zur Lagerung von Menschen, die schwerst mehrfach behindert sind. Die Idee und unser Auftrag an die Autor:innen waren, dass die Therapeut:innen in der Vorbereitung des Artikels gemeinsam mit ihren Orthopädietechniker:innen die Antwort auf die Frage erarbeiten: Was braucht man und wie integriert man am besten Therapie und Hilfsmittelversorgungen? Wieder waren uns der interdisziplinäre Austausch im Vorfeld und die Methoden- und Produktunabhängigkeit im Kapitel besonders wichtig.
OT: Welchen Mehrwert haben die Bücher für OTler?
Strobl: Viele unserer Studierenden sind Orthopädietechniker:innen und haben einen zentralen Stellenwert in den multidisziplinären Betreuungsteams. Ihnen wollen wir ein produktunabhängiges Buch bieten, das auch einen Einblick in die Erkrankungsbilder, die Grundlagen und Prinzipien gibt. Denn schon 1920 hat Phelps auf die Notwendigkeit verwiesen, dass alle Beteiligten „gemeinsam auf Augenhöhe“ die Patient:innen versorgen sollten. Diese Bücher liefern dafür das notwendige Know-how.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
Erstmals startet im Jahr 2009 an der Donau-Universität Krems ein vom Leiter des Österreichischen Arbeitskreises für Neuroorthopädie Prof. Dr. Walter Strobl und von Univ.-Prof. Dr. Stefan Nehrer entwickelter berufsbegleitender fünfsemestriger Masterlehrgang „Neuroorthopädie“. Vier weitere spezialisierte Masterstudiengänge wurden seitdem entwickelt.
Die Bücher
- Strobl W. (Hrsg.), Abel C., Pitz E., Schikora N.
Neuroorthopädie – Disability Management.
Verlag: Springer, Berlin; 2021 - Strobl W. (Hrsg.), Abel C., Pitz E., Schikora N.
Therapeutisches Arbeiten in der Neuroorthopädie.
Verlag: Springer, Berlin; 2021
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