Einleitung
Bei Diabetespatienten entwickelt sich in ca. 20 bis 50 % aller Fälle nach 10 Jahren Erkrankung eine Nervenschädigung 1. Bei der klinischen Untersuchung fällt auf, dass eine Vibration nicht mehr empfunden wird, dass spitz und stumpf nicht mehr unterschieden werden können und dass Temperaturunterschiede nicht wahrgenommen werden. Heißes Wasser in der Badewanne kann somit bei diesen Patienten zu schwerwiegenden Verbrühungen führen.
Diese diabetesbedingten Nervenschädigungen sind für mehr als zwei Drittel aller Fußgeschwüre verantwortlich 2. Folge von Fußgeschwüren sind oftmals Infektionen in den Füßen. Wiederkehrende Fußgeschwüre aufgrund sich wiederholender, ähnlicher Gefährdungen sind an der Tagesordnung. Es stellt sich somit die Frage: Welche Informationen über ihre nervengeschädigten Fußsohlen müssten Patienten vermittelt werden, damit sie sich vor einer weiteren Schädigung des Fußes schützen können? Ein präventiver Ansatz ist somit gefragt. Eine Bestimmung der einwirkenden Drücke auf die Fußsohlen wurde in verschiedenen Studien untersucht; neueste Untersuchungen deuten sogar darauf hin, dass damit ein Schutz vor Geschwürbildung verbunden werden kann 3.
Ein von den Autoren verfolgter neuer Ansatz besteht darin, regelmäßig Temperaturmessungen an den Füßen durchzuführen. Denn überraschenderweise verhält es sich so, dass die Temperatur an den Füßen unabhängig von der Körpertemperatur im Vorfeld einer Geschwürbildung deutlich ansteigt: Unterschiede in den entsprechenden Regionen liegen bei ca. 2,0 °C. In Studien wurde gezeigt, dass die Entlastung der Füße in diesem Stadium half: Im Ergebnis wurden auf diese Weise zwei von drei Fußgeschwüren verhindert 4. Andere Untersuchungen belegen, dass entsprechende Temperaturveränderungen bis zu fünf Wochen vor dem Eintreten eines Geschwürs messbar sind 5. Mit diesen Informationen ausgestattet, hätten die betroffenen Patienten ein Frühwarnsystem an der Hand, um sich selbst zu schützen und das betreuende medizinische Fachpersonal (Orthopädieschuhmacher, OrthopädietechnikMechaniker, Podologen, Wundpfleger, Ärzte, Diabetologen) zu informieren.
“Intelligente” Einlegesohle für Diabetespatienten
Aufgrund der Beschaffenheit der Füße mit Prädilektionsstellen für eine Geschwürbildung an Großzehen, Mittelfußknochen und Ferse haben die Autoren Sensoren in Einlegesohlen eingearbeitet, die in Pantoletten getragen werden. Das Ziel der Arbeitsgruppe lautete, Patienten morgendliche und abendliche Messungen als Ausgangspunkt für die Diagnosestellung eines beginnenden diabetischen Fußgeschwüres durchführen zu lassen. Die Einlegesohlen können mit angezogenen Socken genutzt werden. Die Temperaturübertragung durch eine Socke hindurch erfolgt innerhalb von drei bis fünf Minuten, sodass diese Werte im Anschluss über ein Bluetooth-System an ein Mobiltelefon übertragen und an die Studienzentrale weitergeleitet werden können. In sitzender Haltung über ca. drei bis fünf Minuten werden die Messungen durch die Patienten vorgenommen, wobei neben der Temperaturmessung weitere Funktionen in die eigens entwickelte App (Abb. 1) der zur Verfügung gestellten Mobiltelefone integriert sind. Die Teilnehmer können mittels einer Dokumentationshilfe Aufnahmen von Fußsohlen sowie Fußrücken anfertigen und an das Studienzentrum senden, einen Tagebucheintrag anfertigen (mit Hinweisen auf Erkältungen und andere Erkrankungen) sowie Dokumente wie Arztbriefe weiterleiten 6. In einer Studie wird das hier beschriebene Verfahren auf seine Wirksamkeit getestet. Die Studie wird im Folgenden vorgestellt.
Studiendesign
In der Studie “Smart Prevent Diabetic Feet” wurden insgesamt 288 Patienten mit Diabetes und fehlendem Gefühl in den Füßen (aufgehobenes Vibrationsempfinden im Stimmgabeltest < 3/8) eingeschlossen. Die Probanden wurden sodann im Verhältnis 1:1 randomisiert entweder der Interventionsoder der Kontrollgruppe zugeordnet. Beide Gruppen erhielten einen Vortrag zum Thema “Diabetisches Fußsyndrom” und wurden über die optimale Versorgung ihrer Füße aufgeklärt. Die Interventionsgruppe erhielt zusätzlich ein Mobiltelefon mit einer speziell zu diesem Zweck entwickelten App sowie ein Paar mit Temperatursensoren versehener Einlegesohlen, die in eine Pantolette eingelegt werden und darin getragen werden können. Die Einlegesohlen wurden kontinuierlich weiterentwickelt und sind zuletzt als sehr dünne Auflagen nutzbar (Abb.2). Die Zustimmung der Ethikkommission wurde eingeholt und eine schriftliche Einverständniserklärung durch die teilnehmenden Probanden abgegeben.
In der Studienzentrale werden die Daten für die beteiligten medizinischen Fachgruppen (Ärzte, Studienschwester, Wundschwester) übersichtlich in einem sogenannten Dashboard dargestellt (Abb. 3). Die Informationen werden regelmäßig abgerufen, um bei Auffälligkeiten mit den Patienten Kontakt aufzunehmen. Ein Algorithmus mit mehreren Alarmstufen wird aktiv, bevor die Probanden per App auf die auffälligen Temperaturen aufmerksam gemacht werden. Dies erfolgt vor dem Hintergrund, dass überflüssige Alarmierungen vermieden werden sollen. Sind in drei unabhängig durchgeführten Messungen jeweils Temperaturdifferenzen von über 1,5 °C aufgetreten, werden die Patienten aufgefordert, ihre Füße zu entlasten. Diese Entlastung sollte über fünf Tage stattfinden, indem der entsprechende Fuß möglichst wenig genutzt und hochgelagert werden soll. Im Anschluss wird ausgewertet, ob eine Normalisierung der Temperatur eingetreten ist oder nicht.
Zudem werden Bilder der Füße von den Probanden angefordert und in Zusammenhang mit den Messergebnissen ausgewertet. Der Arzt kann dann entscheiden, ob es sich um tatsächlich auffällige Befunde im Sinne einer beginnenden Geschwürbildung oder lediglich um Artefakte oder andere Ursachen für eine Temperaturabweichung handelt.
Motivationsaspekt
Während der Durchführung der Studie zeigte sich, dass nicht alle Probanden die Messungen regelmäßig durchführten, da aufgrund der oftmals normalen Werte für die Teilnehmer keine Veränderung nachweisbar war, was sich ungünstig auf die Motivation auswirkte. Daher entschloss sich das Studienteam, Motivationsmöglichkeiten zu eruieren. In die Messvorgänge wurde daraufhin eine optische Anregung integriert, die darin bestand, dass ein interessantes Bildmotiv jeweils nur zu 25 % sichtbar war. Nach jeder Messung vergrößerte sich der Bildausschnitt auf 50, 75 und schließlich 100 % Sichtbarkeit, und die Probanden bekamen dann den Gesamteindruck eines Panoramabildes. Dadurch verbesserte sich die Adhärenz der Patientenbezüglich der Studienteilnahme um ca. 30%.
Beispiele für Alarme der App durch Temperaturauffälligkeiten
In den folgenden Fallvignetten werden beispielhaft auffällige Befunde dargestellt, die im Verlauf der Studie auftraten:
Patient A: akuter Gichtanfall
Bei einer Reihe von Patienten traten Schmerzen an den Großzehen auf, einhergehend mit deutlicher Temperaturerhöhung in diesem Bereich. Diese reichten bis zu 4,7 °C Temperaturdifferenz gegenüber dem kontralateralen Fuß. Der klinische Eindruck, verbunden mit einem akuten Anstieg der Temperatur sowie starken einschießenden Schmerzen und einer Besserung unter Schmerzmitteln bzw. Kortinsontherapie ließen eine akute Gichtattacke (Podagra) eindeutig diagnostizieren. Mittels der Einlegesohle konnte der Verlauf dieser Episoden sehr gut dokumentiert und ca. 24 bis 36 Stunden vor den einschießenden Schmerzen ein Temperaturanstieg nachgewiesen werden. Ein Beispiel für die damit verbundenen starken Temperaturanstiege ist in den (Tab. 1) (Abb. 4a u. b) wiedergegeben.
Patient B: plantare Neurofibromatose
Bei diesem Patienten traten wiederholt einseitige Temperaturerhöhungen im Mittelfußbereich auf. Diese waren sowohl in der Infrarotaufnahme als auch in den Messungen nachvollziehbar. Erste verlängerte Entlastungszeiten von über 5 Tagen führten zu einer Normalisierung der Temperatur. Zum Ausschluss eines Charcot-Fußes (ein besonderes Krankheitsbild mit Brüchen in den Fußknochen und Ödembildung sowie starker Entzündungsreaktion) erfolgte eine Magnetresonanztomografie. Ein Charcot-Syndrom lag nicht vor, stattdessen offenbarte die MRT das Vorliegen kleiner, knötchenförmiger Veränderungen unter der plantaren Faszie (Abb. 5) (Tab. 2). Diese als Fibromatose bezeichnete Veränderung kann bei stärkerer Belastung zu Entzündungsreaktionen führen.
Die Aufforderung an den Patienten bestand darin, regelmäßig zu messen, Temperaturerhöhungen im Fuß zu beachten und die körperliche Belastung daran auszurichten. Durch die regelmäßige Rückmeldung über die Temperaturveränderungen konnte der Teilnehmer eine Geschwürbildung über die letzten zwei Jahre verhindern und die Entzündungsreaktion selbst kontrollieren.
Patient C: eingetretener Splitter/Nagel
Bei mehreren Patienten kam es zu Fußverletzungen aufgrund eingetretener spitzer Gegenstände. Dadurch kam es punktuell zu Temperaturerhöhungen von bis zu 5,9 °C. Ein Beispiel für ein solches Ereignis ist in Abbildung 6 wiedergegeben: Der Verlauf der Entzündungsreaktion war sehr schnell an einer Temperaturerhöhung ablesbar. Die erhöhten Temperaturen waren über mehrere Wochen nachzuweisen.
Patient D: Minderdurchblutung aufgrund einer Durchblutungsstörung
Ein Problem bei der Auswertung der Temperaturmesswerte besteht darin, dass zwischen einem regionalen Temperaturanstieg und einem Temperaturabfall im gesamten Fuß aufgrund von Minderdurchblutung unterschieden werden muss. Dies ist in einem Fall sehr gut nachvollziehbar, bei dem der gesamte Fuß einseitig deutlich abgekühlt war. Die alleinige Betrachtung der Temperaturwerte offenbarte, dass der Fuß sogar Werte unterhalb der Raumtemperatur aufwies (Abb. 7) (Tab. 3). Das Studienteam entschloss sich daher, jeweils den Temperaturunterschied über den Fuß (Temperaturgradient zwischen Calcaneus und Vorderfuß) zu kalkulieren und zu interpretieren. Um die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Interpretation zu erhöhen, wurden Fragenlisten entworfen, bei denen unter anderem Einschränkungen der Gehstrecke und Claudicatio-Symptome abgefragt werden. Die direkte Interaktion mit den Probanden erlaubt es, Veränderungen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen und Fehlinterpretationen zu minimieren.
Fazit
Das noch laufende Telemedizinprojekt “Smart Prevent Diabetic Feet” untersucht bei 288 Probanden, die in einer prospektiven Studie randomisiert auf zwei Gruppen verteilt wurden, den Einfluss der Telemedizin auf die Vermeidung von Fußgeschwüren bei Diabetespatienten mit aufgehobener Wahrnehmung in den Füßen. Das Projekt hat die Probanden erfolgreich rekrutiert. Eine Herausforderung stellt die Interpretation der vielfältigen Temperaturänderungen dar, die mittels Telemedizin möglich ist. Die Visualisierung der Ergebnisse in einem Dashboard erlaubt einen schnellen Überblick auch bei großen Patientenzahlen. Eine direkte Interaktion über Fragenkataloge und die Akquise von Bildinformationen zu den Füßen erlaubt zusätzlich eine Plausibilitätstestung. Mit über 40.000 Datensätzen forschen die Autoren zudem nach Algorithmen, die eine automatisierte Interpretation ermöglichen, sodass die beteiligten Ärzte entlastet werden.
In Deutschland erfolgen jährlich ca. 30.000 Amputationen aufgrund einer diabetesassoziierten Erkrankung mit Fußschädigung. Zumeist ist eine Nervenschädigung der Grund. Das Ziel lautet, diese Zahl erheblich zu reduzieren. Nach Studienlage müssten zwei von drei Amputationen durch regelmäßige tägliche Temperaturmessungen verhindert werden können. Das Studienergebnis wird Ende 2021 erwartet und eine Auswertung hinsichtlich der Wertigkeit einer Telemetrie erbringen.
Des Weiteren bietet die eigens entwickelte App eine einfache Möglichkeit an, die Fußdokumentation regelmäßig in der Häuslichkeit durchzuführen. Eine Nutzung durch Pflegedienste wäre ebenso denkbar. Eine Kommerzialisierung der intelligenten Einlegesohle ist geplant. Als nächster Schritt sollen Krankenkassen für die Idee begeistert und der Nutzen für die medizinische Versorgung in Pilotprojekten evaluiert werden.
Für die Autoren:
Prof. Dr. Peter R. Mertens
Direktor der Klinik für Nieren- und Hochdruckkrankheiten, Diabetologie und Endokrinologie
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Leipziger Str. 44
39120 Magdeburg
peter.mertens@med.ovgu.de
Begutachteter Artikel/reviewed paper
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- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
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- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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