Einleitung
Die Pedobarographie ist eine seit Jahrzehnten eingeführte Untersuchungstechnik im Rahmen der Ganganalyse, die in der Hand des praktisch tätigen Fuß- und Sprunggelenkschirurgen von hohem Wert ist. Die Autoren nutzen das Verfahren seit vielen Jahren zur Indikationsstellung, zur Verlaufs- und Erfolgsanalyse sowie auch zur Evaluation neuer operativer Verfahren. So hat sich dieses diagnostische Verfahren in der Indikationsstellung der operativen Metatarsalgie-Behandlung 1, in der Evaluation, der Verlaufsbeobachtung und bei besonderen Fragestellungen des idiopathischen Klumpfußes 2 3 und der Cavovarus-Deformitäten 4 sowie in der Diagnostik 5 und Verfeinerung operativer Techniken zur Korrektur der schweren Planovalgus-Deformität 6 sehr bewährt und neue Erkenntnisse ermöglicht. Im Rahmen dieses Beitrages soll am Beispiel der Dorsal-Bunion-Deformität die Bedeutung der pedographischen Analyse bei schwerer Störung der Lastverteilung am medialen Fußstrahl dargestellt werden 7.
Der „dorsal bunion“ (eine deutsche aussagekräftige Bezeichnung existiert nicht) wurde erstmals von Lapidus 8 beschrieben und tritt bei unterschiedlichen Grunderkrankungen meist im Wachstumsalter auf, am häufigsten jedoch in der Folge der bis vor Kurzem allgemein üblichen operativen Klumpfußbehandlung, z. B. in der Form des peritalaren Release. Durch eine übermäßige Schwächung der Wadenmuskulatur kommt es zu einer kompensatorischen Überaktivität des M. flexor hallucis longus. Bei zusätzlicher Dysbalance des Tibialis-anterior-/Peroneus-longus-Antagonismus zuungunsten des M. peroneus longus tritt eine Elevation des medialen Strahles hinzu. Der mediale Fußstrahl ist an der Lastübertragung nur noch mit der Großzehe selbst beteiligt, die sich an der Unterstützungsfläche abstützt, während das Metatarsale I im Abrollvorgang keinerlei Bodenkontakt mehr aufnimmt (Abb. 1). Dies führt zu einer Plantarflexions-Kontraktur des Großzehengrundgelenkes mit Schuhkonflikt des Metatarsale-I-Kopfes am Oberleder des Schuhes, Überlastungen der Großzehenkuppen-Haut und langfristig zu einer Großzehengrundgelenks-Arthrose. Für den Patienten ist diese Deformität sehr nachteilig, lässt oft das Tragen von Konfektionsschuhwerk und das Erheben auf den Vorfuß-Ballen nicht mehr zu und führt zu schwer korrigierbaren komplexen Mittel-Vorfuß-Deformitäten.
In der eher spärlichen Literatur zu die ser Deformität wird eine plantarisierende Osteotomie des medialen Fußstrahles in Verbindung mit einer Rückversetzung des Flexor-hallucis-longus-Ansatzes auf das Metatarsale I empfohlen („reverse Jones procedure“) 9. In der hier vorgestellten Patientengruppe wurden derartige knöchern-weichteilige Korrekturen in den meisten Fällen zusätzlich mit einer Verlagerung des Tibialis-anterior-Sehnen-Ansatzes auf den zweiten Strahl und weiteren Stabilisierungseingriffen im Rückfußbereich verbunden.
Fragestellung
Es soll durch pedographische Verlaufsuntersuchungen folgenden Fragen nachgegangen werden: erstens, inwieweit es gelingt, das Metatarsale I wieder in eine physiologische Belastung in der mittleren und späten Standbeinphase des Ganges einzubeziehen, und zweitens, wie hoch der resultierende Kraftverlust der Großzehe durch die Rückverlagerung des Flexor-hallucis-longus-Ansatzes ausfällt. Pedographische Untersuchungen am „dorsal bunion“ sind den Autoren in der Literatur nicht bekannt.
Material und Methode
Von 2005 bis 2012 wurde eine konsekutive Serie von 13 Füßen bei 11 Kindern (Alter 8 bis 15 Jahre zum Zeitpunkt der Operation) mit der „reverse Jones procedure“ behandelt. Drei Füße wurden wegen inkompletter pedographischer Daten (zwei Fälle) bzw. aufgrund zusätzlicher MTPG-I-Arthrodese wegen extremer Flexions-Kontraktur in einem anderen Fall ausgeschlossen. Damit konnten 10 Behandlungsfälle mit einer Mindest-Beobachtungszeit von 12 Monaten (mittlere Beobachtungszeit 24,4 Monate) in diese retrospektive Studie einbezogen werden. Die Pedographien wurden mit dem Emed-System (4 Sensoren pro Quadratzentimeter) der Fa. Novel, München, erstellt. Es wurden jeweils drei Schritte auf der Emed-Messplattform (keine Messung im Schuh) aufgezeichnet und gemittelt. Die Auswertung erfolgte mit der Software „Emed Recorder“ (Version 23) u nd mit dem Softwarepaket „Novel medical professional“ (Version 23), mit der auch Mittelwerte und Standardabweichungen berechnet wurden. Die präoperative Pedographie wurde in den Tagen vor dem operativen Eingriff aufgezeichnet. Das schriftliche Einverständnis der Eltern liegt vor.
Alle Kinder zeigten eine ausgeprägte Dorsal-Bunion-Deformität im Rahmen einer Überkorrektur nach auswärts durchgeführtem peritalarem Release bei idiopathischem Klumpfuß. Die Rückfußstabilisierung wurde befundabhängig in Form einer talocalcanearen Span-Arthrodese nach Grice (3 Fälle), einer Calcaneus-Verschiebe-Osteotomie (6 Fälle), einer supramalleolär-varisierenden Osteotomie (2 Fälle) und einer temporären medialen Epiphyseodese der distalen Tibia-Wachstumsfuge vorgenommen. Neben dem in allen Fällen ausgeführten Transfer der Flexor-hallucis-longus- und der Tibialis-anterior-Sehne wurde eine Plantarisierung des medialen Fußstrahles durch proximale Closed-Wedge-Osteotomie der Metatarsale-I-Basis unter Beachtung der Wachstumsfuge (7 Fälle), durch plantarisierende Cuneiforme-mediale-Osteotomie (2 Fälle) und einmal durch Naviculo-cuneiforme-Osteotomie erreicht. In zwei Fällen wurde zusätzlich eine extendierende Grundglied-Osteotomie durchgeführt.
Ergebnisse
Klinisch zeigte sich die Dorsal-Bunion-Deformität in allen zehn Fällen deutlich gebessert. Der Bodenkontakt des Metatarsale-I-Kopfes im Stand schien in allen Fällen gegeben. Die Kraftentfaltung der Wadenmuskulatur zeigte sich gegenüber dem präoperativen Zustand gebessert mit allerdings in den meisten Fällen weiterhin deutlicher Einschränkung beim Versuch des Ballenstandes. Radiologisch fand sich im Vergleich Maximalkraft Metatarsale I/Metatarsale ll seitlichen Röntgenbild der Winkel zwischen Metatarsale-I-Längsachse und Metatarsale-II-Längsachse als Maß der Elevation des ersten Strahles von präoperativ 7,3° auf postoperativ ‑2,2° verändert. Abbildung 2 zeigt ein Beispiel prä- und postoperativ.
Die quantitativen Ergebnisse der pedographischen Analyse zeigen Tabelle 1 und Abbildung 3. Die am Metatarsale I gemessene Maximalkraft während der Schrittabwicklung nahm um mehr als das Dreifache des Ausgangswertes zu und lag postoperativ über der am Metatarsale II gemessenen. Das Metatarsale I war damit fast zu einem Viertel an der Kraftübertragung des Mittel-Vorfuß-Ab-Vergleich Maximalkraft schnittes beteiligt, was etwa der physio-Großzehe/gesamter Mittel-Vorfuß logischen Verteilung entspricht. Die Maximalkraft der Großzehe in Relation zur gesamten Mittel-Vorfuß-Belastung zeigte sich nach dem Flexor-hallucis-longus-Transfer relativ etwa halbiert gegenüber dem präoperativen Zustand; absolut blieben jedoch 82,6 % der Ausgangs-Maximalkraft erhalten. Bei allen Werten sind allerdings die wachstumsbedingten Veränderungen mitzuberücksichtigen.
Diskussion
Die Ergebnisse von Yong et al. 10 sowie auch die hier vorgestellten Ergebnisse belegen die Effektivität des kombiniert knöchern-weichteiligen Vorgehens bei der Dorsal-Bunion-Deformität. Von den Autoren wurde gegenüber dem als „reverse Jones procedure“ bekannten Verfahren die Verlagerung der Tibialis-anterior-Sehne noch zusätzlich regelhaft in das operative Prozedere mit einbezogen, um die elevierende Wirkung des M. tibialis anterior auf den ersten Strahl zu eliminieren. Rein knöcherne Eingriffe sind dagegen nach eigener Beobachtung nicht ausreichend wirksam zur Überwindung der schweren Störung der Lastverteilung am ersten Strahl, wie sie beim „dorsal bunion“ gegeben ist. Die Rückverlagerung des Flexor-hallucis-longus-Ansatzes auf das Metatarsale I scheint ein unverzichtbarer Bestandteil im Rahmen der Gesamtkorrektur zu sein.
Der dargestellte Kombinationseingriff erscheint nach den pedographischen Ergebnissen geeignet, eine Lastübernahme des Metatarsale I wiederherzustellen, ohne dabei einen inakzeptablen Kraftverlust der Großzehe in Kauf nehmen zu müssen. Inwieweit es sich bei der gemessenen Maximalkraft unter der Großzehe um eine aktiv durch den M. flexor hallucis brevis generierte Kraft oder um einen mehr passiv – etwa durch den Einfluss der Plantarfascie oder eine limitierte Dorsalextension des Großzehengrundgelenkes – hervorgerufenen Effekt handelt, ist unklar. Einschränkend ist auf die geringe Fallzahl und eine gewisse Inhomogenität der Untersuchungsgruppe hinzuweisen. Auch gehen die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen im Bereich des Rückfußes sowie die hier durchgeführten Korrekturmaßnahmen in das Gesamtergebnis mit ein. Die noch kurze Beobachtungszeit dieser überwiegend noch im Wachstum befindlichen Kinder wird einer weiteren, längerfristigen Kontrolle auch der Entwicklung pedographischer Veränderungen bedürfen.
Die präoperative pedographische Diagnostik konnte am Beispiel der Dorsal-Bunion-Deformität die vermutete weitgehende Entlastung des medialen Metatarsalstrahles in der Standbeinphase des Ganges ebenso bestätigen wie den deutlichen Effekt der knöchern-weichteiligen operativen Korrektur auf die Belastungsverhältnisse im Bereich des Mittel- und Vorfußes. Der Effekt des Eingriffes auf die Lastverteilung des ersten Strahles lässt sich mit keinem anderen Verfahren als der pedographischen Analyse dokumentieren, was die Bedeutung dieser Methode für die Funktionserfassung fußchirurgischer Eingriffe beispielhaft unterstreicht. Die Pedographie erscheint als ideale Ergänzung zur radiologischen Bildgebung geeignet, die Fußfunktion und die operativ hervorgerufenen Veränderungen zu dokumentieren und damit dem Fuß- und Sprunggelenkschirurgen den Effekt seiner Maßnahmen darzustellen. Instabilitäten des medialen Fußstrahles und der Metatarsus primus elevatus im Rahmen des Hallux rigidus am Erwachsenenfuß stellen weitere Indikationen zur pedographischen Analyse dar.
Danksagung
Herrn Dr. Axel Kalpen (Fa. Novel, München) danken wir für die quantitativen Auswertungen der Pedographien.
Für die Autoren:
Prof. Dr. med. Johannes Hamel
Zentrum für Fuß und Sprunggelenk
Englschalkinger Straße 12
81925 München
j.hamel@t‑online.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Hamel J, Nell M. Pedobarographie zur Diagnostik und Therapiekontrolle am Beispiel der Dorsal-Bunion-Deformität. Orthopädie Technik, 2016; 67 (8): 20–22
präop. | postop. | |
---|---|---|
Max.-Kraft Metatarsale I | 22,4 N (+/– 21,9 N) | 86,7 N (+/– 35,6 N) |
Max.-Kraft MT I/Vorfuß | 7,9 % (+/– 5,9 %) | 23,1 % (+/– 11,6 %) |
Max.-Kraft MT I/MT II | 28,3 % (+/– 21,7 %) | 106,9 % (+/– 72,2 %) |
Max.-Kraft Großzehe/Vorfuß | 31,2 % (+/– 16,2 %) | 15,4 % (+/– 7,2 %) |
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- Hamel J, Nell M. Minimalinvasiv durchgeführte distale Metatarsale-Schrägosteotomie zur Behandlung der Metatarsalgie. OUP, 2014; 3: 118–122. doi: 10.3238/oup.2014.0118–0122
- Hamel J. Die Überkorrektur-Problematik beim idiopathischen Klumpfuß – Übersicht, Einteilung und Behandlungsbeispiele. Fuss Sprunggel, 2011; 9: 61–71
- Hamel J. Einfluß der knöchern-weichteiligen „dorsal-bunion“-Korrektur bei Klumpfuß-Überkorrektur auf die Mittel-Vorfuß-Belastung. Vortrag auf der 27. Jahrestagung der Vereinigung für Kinderorthopädie am 2.3.2013 in Augsburg
- Hamel J. Dynamische Pedografie. In: Valderrabano V, Engelhardt M, Küster HH (Hrsg.). Fuß & Sprunggelenk und Sport. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 2008
- Hamel J, Bouliopoulos P, Olos M. Das pedobarographische Korrelat der Tibialis-posterior-Dysfunktion – Versuch einer Klassifikation. Fuß Sprunggel, 2008; 6: 30–36
- Hamel J, Nell M, Kalpen A. Das Konzept der Tarsalen Triple-Osteotomie (TTO) zur 3‑D-Korrektur schwerer Pes planovalgus-Deformitäten – erste radiologisch-pedographische Ergebnisse im Adoleszentenalter. Fuss Sprunggel, 2014; 12:160–169
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- Yong SM, Smith PA, Kuo KN. Dorsal bunion after clubfoot surgery – outcome of reverse Jones procedure. J Pediatr Orthop, 2007; 27: 814–820
- Yong SM, Smith PA, Kuo KN. Dorsal bunion after clubfoot surgery – outcome of reverse Jones procedure. J Pediatr Orthop, 2007; 27: 814–820