OT: Sie haben damals mit Blick auf additive Herstellungsverfahren gesagt: „Die Erfolgsquote liegt bei uns bei annähernd 100 Prozent.“ Hat sich daran etwas geändert?
Martin Jaeger: Das war damals sehr sportlich von mir formuliert (lacht). Heute würde ich von 85 Prozent sprechen. Die Quoten sind aber nach wie vor sehr gut, also die Passform, die Ausführungen, die Kundenzufriedenheit und auch die Preise und der Arbeitsaufwand. Insgesamt habe ich sogar so gute Erfahrungen im Bereich Digitalisierung gemacht, dass ich mich noch tiefer in das Thema hineingearbeitet habe.
OT: Inwiefern?
Jaeger: Auslöser war, dass mich vor Jahren mein CAD-Designer hat hängen lassen. Plötzlich stand ich alleine da. Innerhalb von einem halben Jahr habe ich mir dann mithilfe von Youtube-Videos das Modellieren mit dem recht günstigen CAD-Programm Rhino selber beigebracht. Das war ein ziemlich harter Ritt, aber rückblickend eine gute Entscheidung, weil ich viel gelernt habe und nicht mehr abhängig von anderen war. Als derjenige, der die Versorgungsidee hat und die Versorgungsschritte kennt, bin ich am Ende vielleicht sogar der bessere Modellierer. Alles, was man im CAD machen kann – entweder im 3D-Druck oder mit CNC-Fräsen –, modelliere ich auch damit, darunter Einlagen, Leisten, Handgelenksschienen, Ellenbogenorthesen oder Fußbetten, derzeit zum Beispiel auch eine Peronäus-Orthese als Spiralorthese und einen Maßschuhboden.
OT: Das klingt, als gäbe es keine Grenzen.
Jaeger: Doch, auf jeden Fall. Gebrochene Orthesen, Orthesen, die nicht so funktionierten, wie ich es mir vorgestellt hatte, Druckstellen – natürlich habe ich auch einige Misserfolge einfahren müssen. Das bleibt nicht aus. Was ich feststelle: Das Scannen wird immer einfacher und besser, die Geräte billiger, das Modellieren schneller. Das Hauptproblem aber ist, das Ergebnis aus dem Drucker zu ziehen. Meiner Meinung nach hinken die Druckverfahren den Themen Scannen und Modellieren deutlich hinterher. Da sehe ich den größten Entwicklungsbedarf.
OT: Sie sind auf den Digitalisierungszug voll aufgesprungen. Hat das klassische Handwerk dort auch noch Platz?
Jaeger: Ich bezeichne mich mittlerweile als digitalen Schuhmacher. Mein Ziel ist es, einen komplett digitalen Workflow zu erreichen. Und in vielen Bereichen habe ich das auch schon. Das klassische Handwerk ist wichtig, aber es ist in Zukunft nicht mehr das, was die Orthopädieschuhmacher:innen und Orthopädietechniker:innen ausmacht. Die gehören zu den Patient:innen. Sie haben die Versorgungsidee, wählen das Material aus, ändern die Stellung, beraten. Und ob die Techniker:innen den Prozess anschließend in der Werkstatt oder digital umsetzen, ist mit Blick auf die Kosten und Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen Abwägungssache.
Schwerstversorgungen lieber klassisch
OT: Gibt es Versorgungen, bei denen das klassische Handwerk notwendig ist?
Jaeger: Ja, zum Beispiel mit Blick aufs Scannen. Da ich den Fuß während des Scannens nicht korrigieren kann – dann wäre ja die Hand mit drauf –, muss ich ihn in Fehlstellung nehmen und am Rechner korrigieren. Das ist schwierig, mit Übung aber machbar. Bei Schwerstversorgungen wie einem Klumpfuß würde ich hingegen einen Gips machen, das Positiv gießen und dann scannen. Wenn die Digitalisierung also an Grenzen stößt, kann man immer wieder raus aus dem Prozess, klassisch vorgehen und anschließend wieder digital weitermachen. Jede Mischform ist denkbar. Und man muss bedenken: Das, was ich gerade beschrieben habe, betrifft nach meiner Erfahrung vielleicht gerade mal drei bis fünf Prozent aller Versorgungen.
OT: Fehlen Ihnen diese klassischen Techniken manchmal?
Jaeger: Das, was Orthopädietechniker:innen oder Orthopädieschuhmacher:innen ausmacht, ist die Arbeit in der Gipswerkstatt oder am Leisten. Das ist etwas Bildhauerisches, etwas nahezu Künstlerisches. Man muss eine Vorstellung von der Form haben und diese Form bauen. Und wenn man das gut kann, hat man im CAD das gleiche befriedigende Gefühl wie an der Maschine. Nur mit vielen Vorteilen.
OT: Was für Vorteile sind das?
Jaeger: Ich kann sitzen, atme keinen Staub, keine Klebstoffdämpfe ein und kann jeden Schritt, den ich falsch gemacht habe, mit „Strg+Z“ einfach rückgängig machen. Das ist auch eine große Zeitersparnis. Ich baue einen Leisten mittlerweile in zehn Minuten, bei einem komplexen Fall brauche ich zwischen 30 und 40 Minuten. Das sind 30 bis 50 Prozent weniger Zeitaufwand im Vergleich zur Arbeit in der Werkstatt. Auch die Passform ist besser. Nach meiner Erfahrung hat sich die Zahl der Nacharbeiten drastisch reduziert. Denn der Scan ist so unglaublich genau. Da kann ein Gips nicht mithalten. Der hat allerdings den Vorteil, dass man korrigieren kann. Aber auch das will gelernt sein und ist mit viel Nachbearbeitung verbunden. Nicht mehr an der Schleifmaschine zu stehen – das hat auch Vorteile mit Blick auf Arbeitssicherheit. Ich sehe im digitalen Wandel auch einen Vorteil, junge Arbeitskräfte, die heutzutage sehr gesundheitsbewusst sind, zu gewinnen. Meine Generation hat sich über viele Jahre Stäuben und Lösungsmitteldämpfen ausgesetzt. Das ist nicht gesund. Digital ist das ein ganz anderes Arbeiten. Dafür habe ich öfter Nackenschmerzen (lacht).
Argumentationslinie ändern
OT: Wird sich die Technologie in der OST durchsetzen?
Jaeger: Ja, ich glaube dagegen kann man sich nicht sträuben. Ich war aber schon bei Veranstaltungen, wo genau dieses Thema im Fokus stand und kaum einer der Kolleg:innen wusste, worum es geht. Und das ist keine Kostenfrage: Wer nicht selbst druckt, ist mit allem Drum und Dran schon mit rund 3.000 Euro dabei. Das Hauptproblem ist, die Leute dazu zu kriegen, sich der Technologie anzunehmen und sich hinzusetzen, auszuprobieren und zu lernen, so wie ich es getan habe. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich sozusagen wieder in die Rolle eines Lehrlings hineinzubegeben und Fehler zu machen. Ich glaube, dass viele Angst davor haben, dass die Jüngeren ihnen hier etwas voraushaben. Ein Lehrling hat zwar keine Versorgungsidee, hat sich aber drei Mal so schnell in ein CAD-System eingearbeitet wie die Meister:innen. Und eine Werkstatt ist etwas sehr Hierarchisches, fast Militärisches. Und wenn die Gefreiten auf einmal mehr draufhaben als der Feldwebel, kann das zu Problemen führen. Deswegen ist das für mich eher ein psychologisches Problem als ein Problem im Verständnis von Technik. Wie bekommt man den Wandel vom klassischen zum digitalen Arbeiten hin? Darüber mache ich mir am meisten Gedanken. Ich glaube, man muss die Argumentationslinie für die Digitalisierung ändern, abseits aller technischen Faszination hin zu den Vorteilen für die einzelnen Techniker:innen.
OT: Sollte das Thema Digitalisierung mehr Raum in der Ausbildung einnehmen?
Jaeger: Der Wunsch und der Wille in der Branche sind da. Stark macht sich zum Beispiel das Kompetenzzentrum Orthopädieschuhtechnik und stellt Kurse im Bereich 3D-Druck und Scan auf die Beine. Aber ich glaube, das Problem ist aktuell die Prüfungsordnung. Solange digitale Arbeitstechniken darin nicht aufgenommen werden – und das dauert erfahrungsgemäß viele Jahre –, ist der Druck für die Azubis auch nicht da, sie zu lernen. Meisterschüler:innen sagen: „Ich mache das gern. Aber ich muss nähen üben, zwicken, Lederkappen schärfen.“ Und das kann ich gut verstehen. Die wollen ihre Meisterprüfung machen, und es ist sportlich, was sie in kurzer Zeit lernen müssen.
OT: Mit Ihrer neuen Firma beraten Sie Betriebe, die digitaler werden wollen. Welche Tipps geben Sie ihnen für den Einstieg an die Hand?
Jaeger: Das ist sehr individuell, hängt von der Betriebsgröße und der Zielsetzung ab. Ich empfehle immer, sich zunächst ein Thema herauszusuchen, das einem liegt. Ich habe mit Orthetik angefangen, weil mich das Thema seit der Meisterprüfung angetrieben hat. Als ich das konnte, war alles andere relativ einfach. Man kann sich dabei beraten lassen oder sich allein auf den Weg machen. Youtube ist wirklich eine tolle Unterstützung. Oder man spricht Firmen an, die digital unterwegs sind und zu denen man bereits Kontakte hat. Man begibt sich damit in gewisse Abhängigkeiten, profitiert aber auch von guter Software, von Know-how und Erfahrung. Es gibt zwei Dinge, die man sich überlegen muss: Wie wichtig ist es mir, Herr des Verfahrens zu sein? Und was bin ich bereit auszugeben? Man kann kostengünstig anfangen und sich das Iphone 13 holen – das hat zwei 3D-Scanner, die Apps kosten nichts. Damit lassen sich zum Beispiel Füße scannen. Gleiches gilt für das Ipad Pro. Das reicht eigentlich schon. Man muss sich nicht zwangsläufig einen 10.000-Euro-Scanner kaufen. Voraussetzung ist auch, dass man Spaß an Technik hat. Wenn man wenig affin ist, sollte man vielleicht darüber nachdenken, jemanden einzustellen. Ich sehe übrigens auch einen Teil meiner beruflichen Zukunft darin, Kolleg:innen oder Firmen in Form von Trainings auch online auf dem Weg in die Digitalisierung zu beraten und zu unterstützen.
Produkt mit Kopf und Maus gebaut
OT: Was fasziniert Sie persönlich an den digitalen Techniken?
Jaeger: Ich kann mich an diesen Aha-Moment erinnern, als ich das erste Mal eine Orthese – damals noch mit Hilfe – modelliert hatte: eine Sprunggelenksorthese, mit Multijet und aus Polyamid 12 gedruckt. Ich machte das Päckchen vom Dienstleister auf und das, was darin lag, war besser als alles, was ich zuvor gemacht hatte. Das bringt mein Herz noch heute zum Klopfen. Die Ergebnisse, die aus einem Drucker kommen – vorausgesetzt es wurde alles richtig gemacht –, sind für jeden Handwerker und jede Handwerkerin die reinste Freude. Denn am Ende habe ich das Produkt gebaut, nicht mit meinen Händen, aber mit meinem Kopf und meiner Maus – und das treibt mich nach wie vor an.
OT: Welchen Stellenwert nimmt die Digitalisierung in der Zukunft ein?
Jaeger: Es heißt, in der OST und OT versuchen derzeit Firmen mit viel Geld – insbesondere im europäischen Ausland – Sanitätshäuser aufzukaufen und zu Ketten zusammenzufassen. Die setzen auch auf das Thema Technologie. Was genau das für die Einzelbetriebe bedeutet, kann ich nicht sagen. Schuhe direkt aus dem 3D-Drucker – auch das Thema wird angegangen. Ich selbst bin in ein solches Projekt eingebunden. Nicht nur die Orthopädieschuhmacher:innen verfolgen dieses Ziel, sondern vor allem die Sportschuhindustrie. Es gibt auch Bestrebungen, das Modellieren mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz zu automatisieren, der Technik das beizubringen, was die Schuhmacher:innen können. Ob das möglich ist? Man wird es sehen. Der Markt bleibt auf jeden Fall dynamisch.
OT: Wäre KI in der Branche wünschenswert?
Jaeger: Für die Versorgungsqualität wäre das mit Sicherheit nicht von Vorteil, aber für den Preis. Und wenn die Krankenkassen mitbekommen, dass es Anbieter gibt, die sowas auch nur versprechen, dann kann das negative Auswirkungen haben. Bisher haben die Innungen und Krankenkassen versucht, die Fahne für die Versorgungsqualität und wohnortnahe Versorgung hochzuhalten, aber ob das in Zeiten, in denen jede:r einen 3D-Scanner in der Tasche hat, weiterhin gelingen kann, ist fraglich.
OT: Ist die Digitalisierung also eine Bedrohung für die Versorgungsqualität?
Jaeger: Wenn die Branche einfach nur abwartet, dann kann es durchaus sein, dass uns große Firmen mit neuen Technologien und gutem Marketing Versorgungen wie Einlagen – zumindest einfache, keine komplexen – aus der Hand nehmen. Zahlreiche Firmen arbeiten derzeit an unterschiedlichsten Lösungen. Ob sie es hinbekommen? Keine Ahnung. Am Ende müssen die Schuhmacher:innen besser sein. Wichtig ist es, dass sich die Branche mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzt. Wenn sie es verdrängt, dann wird der Markt das tun, was er mit Geschäftsmodellen tut, die nicht mehr zeitgemäß sind. Unternehmerische Qualitäten waren gefragt und werden weiterhin gefragt sein.
OT: Nachhaltigkeit spielt in allen Lebensbereichen eine immer größere Rolle. Passt das mit der Digitalisierung zusammen?
Jaeger: Da bin ich gespalten. Einige Materialen, die ich verarbeite, sind recyclebar. Andere sind es dagegen gar nicht, zum Beispiel gedruckte Resine. Das Thema Nachhaltigkeit spielt in der Branche aber grundsätzlich eine große Rolle. Alle Hersteller arbeiten an Lösungen. Und das wird nicht nur die Additive Fertigung, sondern auch die klassische Schuhtechnik betreffen. Denn die Materialien werden sowohl als Druck- als auch als thermoplastisch verformbares Plattenmaterial angeboten werden. Was man zu Anfang bedenken sollte: Man macht natürlich Fehldrucke und muss viel wegschmeißen. Wenn man den Prozess aber beherrscht, spart man jede Menge Müll.
OT: Gibt es Materialien, in denen Sie Potenzial im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehen?
Jaeger: Vor einigen Wochen habe ich das erste Mal eine 20mm-EVA-Platte in der Hand gehabt, hergestellt aus Algen. Die Eiweiße wurden so verarbeitet, dass sie vernetzt und daraus ein Schaummaterial hergestellt wurde, das CNC-gefräst werden kann. Es gibt auch Materialien, die auf Milchsäure aufbauen. Es ist also weiterhin viel Bewegung in der Branche.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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