Über die inzwischen gesammelten Erfahrungen mit der Osseointegration berichtet Patrick Schröter, Facharzt an der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des Halleschen BG Klinikums.
OT: Wie viele Versorgungen haben Sie seit 2018 am BG Klinikum Bergmannstrost Halle durchgeführt?
Patrick Schröter: Wir haben 16 osseointegrativ versorgte Patientinnen und Patienten behandelt. Davon wurden elf bei uns in der Klinik durch alle Schritte dieses Verfahrens geführt, die anderen wurden zunächst an anderen Krankenhäusern behandelt. 95 Prozent hatten zuvor Probleme mit ihrer schaftgeführten Versorgung. Außerdem betreuen wir Kriegsopfer, unter anderem aus Afghanistan. Diese wurden teils nicht fachmännisch amputiert, deshalb ist keine schaftgeführte Versorgung möglich. Bei einem dieser Patienten war keine sinnhafte operative Stumpfrekonstruktion möglich, sodass eine Osseointegration durchgeführt wurde.
OT: Welches Verfahren verwenden Sie?
Schröter: Alle Patientinnen und Patienten wurden mit den von Dr. Hans Grundei entwickelten ESKA-Implantaten versorgt. Wir arbeiten ausschließlich mit einem zweistufigen Vorgehen (two step) – also zwei Operationen: Bei der ersten setzen wir den Metallstiel (Endoprothese) ein, und bei der zweiten wird die Austrittsstelle am Stumpf, das Stoma, angelegt. Wir werden auch dabei bleiben, weil viele Patienten für eine One-Step-Lösung mit allen Schritten in nur einer Operation nicht infrage kommen. Oft liegt die Amputation schon lange Zeit zurück, vier bis fünf Jahre wurde keine Prothese getragen, häufig ist die Knochenstabilität problematisch. Normalerweise vergehen bei uns sechs Wochen zwischen den beiden OP-Steps. Ist aber die Knochenfestigkeit zu gering, können es bis zu drei Monate werden.
OT: Wie erfolgt die Vorbereitung?
Schröter: Bevor wir operieren, finden drei Termine statt, zwei davon ambulant im interdisziplinären Team, einer stationär. Bei letzterem erfolgen neben einer umfangreichen Diagnostik zur Bewertung eventueller Nebenerkrankungen auch Funktionstests. Diese werden nach sechs, dann nach zwölf Monaten und anschließend jährlich wiederholt, um den Behandlungserfolg mit getragener Prothese zu bewerten. Mindestens drei Jahre möchten wir den Verlauf beobachten.
OT: Welche Patientinnen und Patienten profitieren am meisten von der Osseointegration?
Schröter: Über die Hälfte der Patientinnen und Patienten, die bei uns osseointegrativ versorgt werden, sind über 60 Jahre alt. Die Älteren profitieren besonders von dieser Art der Versorgung, weil sie aufgrund ihrer Bindegewebsstruktur oft Schwierigkeiten mit einem Schaftsystem haben, den Schaft nicht anlegen und führen können. Nach der osseointegrativen Versorgung tragen sie ihre Prothese viel öfter, die Hautirritationen sind weg und sie können besser auftreten. Unser ältester Patient ist knapp über 70 Jahre alt. Ausschlusskriterien liegen nicht im Alter, sondern in den Nebenerkrankungen.
OT: Lehnen Sie auch Behandlungen ab?
Schröter: Wenn eine Grunderkrankung wie Diabetes zur Amputation geführt hat, würde ich eine osseointegrative Versorgung ausschließen. Gefäßerkrankungen sind kein generelles Ausschlusskriterium, hier muss man den Patienten genau betrachten und Einzelentscheidungen treffen. So hat einer unserer Patienten durch einen Gefäßverschluss sein Bein verloren, ohne dass eine generalisierte Gefäßerkrankung vorlag. Die Versorgung mit einer knochengeführten Prothese hat gut funktioniert. Letztlich führen manchmal Nebenerkrankungen – die zum Teil erst während des stationären Voruntersuchungstermins gefunden werden – zum Ausschluss der Versorgungsmöglichkeit. Daneben sind die persönlichen Ziele der Betroffenen wichtig: Was erwarten sie von der Versorgung? Wer zum Beispiel mit seiner schaftgeführten Prothese bestens klarkommt, sie ganztags nutzt, sich damit sportlich betätigt und kaum Hautirritationen hat, dem bieten wir das Verfahren der Osseointegration nicht an, da auch dieses ein Risiko birgt.
OT: In welchen Stufen findet das Ausschlussverfahren statt?
Schröter: Entsprechend unseres Vorgehens der dreifachen Vorstellung ergibt sich etwa folgendes Bild: In der ersten ambulanten Sprechstunde zeigt sich bei zehn und 20 Prozent der Interessentinnen und Interessenten, dass Osseointegration nicht möglich ist – aufgrund von Vorerkrankungen, laufender Chemotherapien oder medikamentöser Behandlung, manchmal auch aufgrund der Gesamtstatur und des Gewichts. Auch falsche Vorstellungen des Verfahrens können in diesem Beratungsgespräch ausgeräumt werden. Zeigt sich bei der zweiten ambulanten Vorstellung eine gute Alltagsnutzung der schaftgeführten Prothese mit geringen Problemen, empfehlen wir ebenfalls, auf die Osseointegration zu verzichten. Nach der stationären Voruntersuchung mussten wir erst bei einem Patienten ablehnend entscheiden.
OT: Führen Sie Studien zum Behandlungserfolg durch?
Schröter: Bundesweit, so schätzt Dr. Aschoff, gibt es vermutlich 250 bis 300 notwendige osseointegrative Versorgungen pro Jahr. Durchgeführt werden an verschiedenen Krankenhäusern etwa 50–70. Eine bundesweite Kooperation ist nötig, um eine flächendeckende zufriedenstellende Versorgung sowohl operativ, als auch orthopädietechnisch zu etablieren. Wir haben hierzu eine Arbeitsgruppe innerhalb der Vereinigung Technische Orthopädie e.V. (VTO) gegründet, um Behandlungsergebnisse zentral zu erfassen und so aussagekräftige Zahlen zum Erfolg derartiger Versorgungen zu erreichen (d. Red.: Die VTO ist eine Sektion der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e.V. DGOOC und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V DGOU). Wenn ein umfangreicherer Datenbestand vorliegt als bisher, können wir noch mehr zum Outcome der Osseointegration sagen. Hilfreich wäre zudem eine Datenbank aller Zentren, die eine solche Behandlung anbieten, sowie der Orthopädietechnik-Werkstätten bzw. Sanitätshäuser und Physiotherapeuten, die sich darauf spezialisiert haben.
OT: Wie oft kommt es bei den von Ihnen behandelten Patientinnen und Patienten zu Problemen wie Entzündungen?
Schröter: Selten. Oberflächliche Stomainfektionen gab es bei zwei Patienten, wovon nur einer bei uns operiert worden war. Diese waren mit Antibiotika gut beherrschbar. Bei zwei Patienten gab es eine verstärkte Narbenbildung, sodass wir die Narben einkürzen mussten. Wichtig ist, den Hautkanal sehr kurz anzulegen. Wir haben da sehr viel von Dr. Aschoff gelernt.
OT: Wie wichtig ist der interdisziplinäre Ansatz bei der Osseointegration und welche Rolle spielt dabei die Orthopädie-Technik?
Schröter: Interdisziplinäre Arbeit ist extrem wichtig. In den Vorgesprächen bei uns in der Klinik ist der Orthopädie-Techniker direkt involviert, wir arbeiten mit drei orthopädietechnischen Firmen zusammen. Die dritte wesentliche Säule ist die Physiotherapie. Der Großteil, der in unserer Klinik in Halle behandelten Patientinnen und Patienten ist über die Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen versichert. Deshalb dürfen wir sie bei uns rehabilitieren. Zwischen den OP-Schritten werden sie sowohl orthopädie-technisch als auch physiotherapeutisch betreut. Nach der letzten Operation können die Patientinnen und Patienten in der Regel nach etwa fünf Tagen stehen – noch ohne volle Belastung – und der Orthopädie-Techniker nimmt erste Anpassungen am Prothesenaufbau vor. Danach sind sie bei ambulanter Physiotherapie für zwei bis drei Monate mit Gehstützen zuhause, der statische Aufbau der Exprothese wird finalisiert. Dann folgt die vierwöchige stationäre Rehabilitation bei uns, bei der ebenfalls ein Prothesenanwendungstraining erfolgt. Dies ist enorm wichtig und wird oft vernachlässigt. Sind die Patienten nicht BG-versichert, versuchen wir zu Beispiel in Bad Klosterlausnitz eine Rehamaßnahme für sie zu organisieren.
OT: Gibt es ansonsten Probleme mit der Rehabilitation?
Schröter: Auch große gesetzliche Krankenkassen wie die AOK haben ein gutes System mit Außendienstlern, die Orthopädie-Techniker sind, und Verträge mit spezialisierten Reha-Einrichtungen. Je kleiner die Kasse ist und je weniger Amputationsfälle sie betreut, desto geringer die Erfahrungen – und dann werden Menschen mit Amputationen beispielsweise in Rehaeinrichtungen geschickt, die auf die Rehabilitation nach dem Einsatz künstlicher Kniegelenke ausgerichtet sind. Dort können sie nicht sachgerecht behandelt werden.
OT: Welche besondere Herausforderung liegt für Orthopädie-Techniker in der Osseointegration?
Schröter: Grundsätzlich kann jeder Orthopädie-Techniker sich in dieser Richtung qualifizieren, der eine Oberschenkelprothese aufbauen kann. Eine entsprechende Schulung seitens der Hersteller liefert das nötige Rüstzeug. Allerdings lohnt sich die Anfangsinvestition nur bei einer Mindestanzahl von Versorgungen – in etwa zehn pro Jahr. Deshalb ist es hilfreich, in der Nähe eines operativen Zentrums angesiedelt zu sein, das die Operationen zum Einsetzen des Implantats durchführt. Die Bereitschaft zur intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit ist unabdingbar.
OT: Welche Rolle wird die Osseointegration bei der Versorgung nach Amputationen künftig spielen?
Schröter: Sie wird einen wichtigen Teilaspekt im Markt darstellen, der vielen Patientinnen und Patienten eine bessere Versorgung ermöglicht. Die Zahl der osseointegrativen Versorgungen wird zunehmen, sie werden die schaftgeführten aber nicht ersetzen. Nach Amputationen aufgrund eines Unfalls oder nach einer Tumorerkrankung ist die Osseointegration eine reizvolle Alternative und wird vielleicht künftig die Hauptversorgungsvariante darstellen.
Das Interview führte Cathrin Günzel.
Patrick Schröter wird im Kongress der OTWorld.connect den Vortrag “Probleme in der Versorgung transtibialer Stümpfe aus Sicht des Chirurgen” am Dienstag, 27. Oktober (13 — 14 Uhr / Kanal 2) halten. Am Mittwoch, 28. Oktober, spricht er zudem zu dem Thema: “Geplante Extremitäten-Amputationen in der Orthopädie” ( 9 — 10 Uhr / Kanal 3).
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