Anatomie und Pathologie
Die Hand ist das Greif- und Tastorgan des Menschen, der Arm dessen Stütze. Wird die Hand in ihrer Funktion gestört, hat dies häufig katastrophale Folgen für das Leben der Betroffenen. Zahllose Aktivitäten des täglichen Lebens müssen neu erlernt werden, möglicherweise sind Hobbys oder der Beruf nicht mehr ausführbar1.
Der Plexus brachialis ist ein Nervengeflecht, welches sich aus den Rückenmarksegmenten C5-TH1 bildet und fast alle Muskeln der oberen Extremität innerviert. Außerdem ist er für die Sensibilität des Armes verantwortlich2.
Geburtsassoziierte Paresen, Tumore oder entzündliche Erkrankungen sind einige der möglichen Ursachen für eine Schädigung des P. brachialis. Die mit Abstand häufigste Ursache sind jedoch Traumata in Folge von Motorradunfällen. Je nach betroffenen Rückenmarksegmenten und Art und Umfang der Schädigung ergeben sich unterschiedlichste Lähmungsbilder3.
Das knöchern nur wenig geführte und dadurch extrem bewegliche Schultergelenk (A. humeri, gebildet von Humerus und Scapula) wird größtenteils muskulär stabilisiert. Fällt die stabilisierende Muskulatur aus, zieht das Gewicht des Armes den Humeruskopf unter Elongation der Bänder nach unten aus der Gelenkpfanne heraus, mit der Zeit kommt es zur oftmals schmerzhaften Subluxation der Schulter. Der Schultergürtel (bestehend aus Scapula und Clavicula) ist bei Läsionen des P. brachialis häufig nur teilweise von Lähmungen betroffen. Grund dafür ist, dass einige der hier ansetzenden Muskeln, beispielsweise der M. trapezius, über höher liegende Rückenmarksegmente innerviert werden4.
Typisch für Läsionen des P. brachialis ist, abhängig vom Lähmungsbild, eine Stellung des Armes in Adduktion, Innenrotation und Pronation, welche über die Zeit kontrakt werden kann5. Außerdem können Lähmungen der Hand zu Beugekontrakturen der Finger führen. Schreiten diese weit genug fort, kann dies die Pflege der Beugefalten der Finger erschweren oder unmöglich machen. Um dies zu vermeiden, ist konsequentes Dehnen der Finger durch den Betroffenen wichtig (Abb. 1, 2).
Ein lose seitlich am Körper hängender Arm in Kombination mit fehlender Sensibilität ist einem erhöhten Verletzungsrisiko ausgesetzt, beispielsweise durch Anstoßen oder Kontakt mit heißen Gegenständen. Einige Betroffene stecken den Arm in Hosen- oder Bauchtaschen, dies führt zu einem natürlicheren Erscheinungsbild und reduziert das Verletzungsrisiko zumindest etwas.
Wilmer Trageorthese
Die Wilmer Trageorthese wurde in den 1960er Jahren in den Niederlanden an der TU Delft für die Versorgung von Patienten mit lähmungsbedingter (Sub-)Luxation des Schultergelenks entwickelt. Sie besteht aus einer Schulterbandage, an welcher eine Unterarmlagerung aufgehängt wird. Das Wirkprinzip lässt sich anhand einer Wippe beschreiben. Der Punkt, an welchem die Unterarmlagerung aufgehängt wird, ist der Drehpunkt. Unterarm und Hand haben einen langen Hebelarm und werden von ihrem Gewicht nach unten gezogen. Dadurch werden auf der anderen Seite des Drehpunktes Ellenbogen und Oberarm, welche einen kurzen Hebelarm haben, angehoben. Somit wird der Humeruskopf in der Pfanne zentriert und die Subluxation verhindert6 (Abb. 3).
Wesentliche Vorteile des Versorgungskonzeptes sind das verlässliche biomechanische Wirkprinzip zum Verhindern der Subluxation und die Möglichkeit, die Versorgung sehr unauffällig unter normaler Kleidung zu tragen (Abb. 4). Ohnehin empfiehlt es sich, die Orthese direkt auf der Haut zu tragen, da sie so weniger verrutscht. Dadurch, dass der Oberarm durch Druck auf das Olecranon von unten angehoben wird, wirken außerdem deutlich weniger Scherkräfte auf die Haut als bei Bandagen, welche den Arm zirkulär umschließen und über die Weichteile nach oben ziehen7.
Die Lagerung des Unterarmes horizontal vor dem Bauch und der Schutz durch die Orthese selbst verringern auch das oben angesprochene Risiko, den Arm durch unbeabsichtigtes Anstoßen zu verletzen.
Die Wilmer Trageorthese ist seit ihrer Entwicklung als konfektionierte Orthese mit verschiedenen Möglichkeiten der Handlagerung erhältlich und wird von der Fa. Ambroise (Enschede, Niederlande) produziert. Der Vertrieb in Deutschland erfolgt über OrthoReha Neuhof (Nürnberg). Das Wirkprinzip lässt sich sehr gut in individuellen Versorgungen umsetzen.
Die Vertix-Spule
Bei der ursprünglichen konfektionierten Wilmer Trageorthese erfolgt die Verbindung von Schulterbandage und Unterarmlagerung mithilfe einer sog. „Vertix“ (Abb. 5). Sie wird mit einem Gurt an der Schulterbandage befestigt und besteht aus einer Spule mit einem Seil, an welchem ein Haken befestigt ist. Die Spule kann vom Anwender an der Unterarmauflage ein- und ausgehakt werden. So kann der Anwender erst die Schulterbandage anziehen, dann die Unterarmauflage anlegen und zum Schluss beide miteinander verbinden – dies erleichtert das Anlegen der Orthese wesentlich.
Durch Betätigen eines großflächigen Druckknopfes am Gehäuse der Spule lässt sich das Seil von der Spule abwickeln und der Arm kann in Streckung gebracht werden. Wird der Arm anschließend manuell in Beugung gebracht, wickelt ein Federmechanismus das Seil wieder auf. Dabei rastet der Mechanismus in regelmäßigen Abständen ein, sodass sich der Beugewinkel des Armes in Stufen einstellen lässt. Die Möglichkeit, den Arm in Streckung zu bringen, erleichtert es, Kleidung an- und auszuziehen
Mittlerweile ist ein Nachfolgermodell der Wilmer Trageorthese, die Wilmer2, erhältlich. Die Aufhängung erfolgt hier nicht mehr über die Vertix-Spule, sondern über ein System mit einem elastischen Gummizug und ist für den Anwender leichter handzuhaben. Allerdings ist der Ellenbogen hier entweder gestreckt oder ganz in Beugung, Zwischenstufen gibt es nicht mehr. In individuellen Unterarmlagerungen ist dieses System kaum umsetzbar.
Versorgungsbeispiel Wilmer Trageorthese
Herr E. erlitt vor ca. zehn Jahren durch einen Motorradunfall ein Polytrauma, neben Quetschungen von Lunge und Herz und mehreren Halswirbelfrakturen auch eine Läsion des P. brachialis. Nach dem Unfall sind Sensibilität und Motorik des ganzen Armes und des Schultergelenkes komplett ausgefallen. Die genaue Untersuchung und Behandlung der Plexusparese ist neben den anderen, zum Teil lebensbedrohlichen Verletzungen aber erstmal zweitrangig. Man geht von einer Quetschung der Nerven durch aus dem Rückenmarkskanal ausgetretenen Liquor aus. In der Hoffnung, dass die Nerven sich mit der Zeit erholen, versorgt man ihn zunächst mit einem Gilchristverband. Zwei Monate nach dem Unfall erfolgt ein MRT. Es zeigt sich, dass einige der betroffenen Nervenstränge stärker als gedacht und dauerhaft geschädigt sind. Hand- und Unterarmmuskulatur verbessern sich wie erhofft, eine Muskeltransplantation und eine Nervenverpflanzung bringen weitere Verbesserungen.
Auf Empfehlung eines Arztes aus dem Bekanntenkreis wird er 2016 im folgenden Zustand bei uns vorstellig: Fingerstrecker haben einen Muskelstatus von 3 nach Janda, die Beuger 4 nach Janda. Er kann kräftig zugreifen und die Hand aktiv, wenn auch mit eingeschränkter ROM pro- und supinieren. Ellenbogenbeuger und ‑strecker sind komplett ausgefallen. Im Schultergelenk sind Anteversion und Abduktion mit einem Muskelstatus von Janda 2–3 möglich, die anderen Bewegungen werden mit Janda 0 bewertet. Die Sensibilität von Arm und Schultergürtel ist stark reduziert, aber vorhanden.
Mit dem Ziel, der Subluxation der Schulter entgegenzuwirken und den Arm zu lagern, folgt die Versorgung mit einer konfektionierten Wilmer Trageorthese. Diese trägt er außerhalb des häuslichen Umfeldes, hauptsächlich bei der Arbeit. Er ist Teilinhaber eines Restaurants, in welchem er sowohl am Gast als auch in der Küche tätig ist. Unter den Hemden, welche er dabei trägt, fällt die Orthese kaum auf. Die Lagerungsposition ermöglicht es, die betroffene Seite zum Halten von Gegenständen einzusetzen.
Nachdem sich das Konzept bewährt hat, kommt es 2021 zur Folgeversorgung mit einer nach Scan gedruckten Unterarmlagerung und eigens gefertigter Schulterbandage. Die individuelle Versorgung beschreibt er als angenehmer zu tragen, da die Schale am Bauch flächiger anliegt als die Rohrkonstruktion der konfektionierten Orthese. Außerdem verrutscht sie nicht so leicht und ist durch die Verwendung von Magnetverschlüssen an der Bandage leichter an- und auszuziehen. Beim Fertigen der Bandage muss darauf geachtet werden, dass die Gurte und Verschlüsse nicht am häufig durch Atrophie sehr prominenten Schlüsselbein reiben. Bedenken, dass das gedruckte Material nicht stabil genug sein könnte, erweisen sich als unbegründet, nachdem der Patient berichtet, mit der Orthese mehrere Klettersteige und die Zugspitze bestiegen zu haben. Dabei nutzte er teilweise auch die betroffene Seite, um sich festzuhalten. Ein Nachteil dieser Versorgung ist, dass die Umgreifung der Epicondylen und des Olecranons dazu führt, dass Hemden im Bereich des Ellenbogens deutlich stärker spannen als bei der konfektionierten Orthese. Um dies zu vermeiden, wird bei zukünftigen Versorgungen der Randverlauf angepasst (Abb. 6, 7, Video 1).
Orthesen zum Fahrrad- und Motorradfahren
Unser Konzept für Orthesen zum Fahrrad- und Motorradfahren begann 2013 mit Patienten, welche unabhängig voneinander mit dem Wunsch, wieder auf zwei Rädern unterwegs zu sein, und dem Willen, selbst viel Zeit und Geduld in ihre Versorgungen zu stecken, zu uns kamen. Im Rahmen dieser ersten Versorgungen entsteht unter intensiver Mitarbeit der Patienten das Versorgungskonzept, welches in unserem Hause in seinem Grundprinzip unverändert bis heute angewandt wird.
Beim „einhändigen“ Fahren von Zweirädern, egal ob mit oder ohne Motor, stellen sich folgende Probleme: Den Lenker mit nur einer Hand zu stabilisieren, ist auf ebenem Untergrund zwar gut möglich, wird mit zunehmenden Unebenheiten oder Neigungen aber immer schwieriger und kraftfordernder. Dieses kann mit einer Orthese gelöst werden, die eine Kraftübertragung vom Lenker direkt auf den Oberarm oder Brustkorb ermöglicht.
Je nach Art der funktionellen Ausfälle kommen dafür verschiedene Komponenten zum Einsatz: bei Ausfall der Greiffunktion eine Schale für Unterarm und Hand, die am Lenker befestigt wird. Bei Ausfall der Ellenbogenmuskulatur eine Ellenbogenorthese, welche mit einem Dämpfer versteift wird. Wenn sich aufgrund insuffizienter Bänder der Humeruskopf im Schultergelenk stark nach dorsal verschieben lässt oder sich der Schultergürtel (bestehend aus Schulterblatt und Schlüsselbein) nicht mehr aktiv bewegen lässt, ist es nicht sinnvoll, die Kraft vom Lenker auf den proximalen Oberarm zu übertragen. In diesen selten vorkommenden Fällen ist ein Schulterkorb indiziert, welcher Kraft direkt auf den Brustkorb überträgt.
Ein weiteres Problem ist, dass die betroffene Hand nicht verwendet werden kann, um Bremsen, Schaltung, Gas oder Blinker zu bedienen. Dies erfordert, dass der Anwendende sein Zweirad in einer entsprechenden Werkstatt so umbauen lässt, dass er alle nötigen Funktionen auf andere Weise betätigen kann. Beim Fahrrad bedeutet das in der Regel, dass Bremshebel, Klingel und Schaltung auf die andere Seite des Lenkers umgelegt werden. Einige Anwender berichten, dass absenkbare Sattelstützen das Auf- und Absteigen erleichtern.
Bei Motorrädern sind, zusätzlich zum eigentlichen Umbau, Prüfungen durch den TÜV und ärztliche Gutachten nötig, um das Motorrad legal auf der Straße bewegen zu dürfen. Diese Überprüfungen durch offizielle Stellen sind wichtig, da die Beurteilung von Verkehrstauglichkeit und Sicherheit des Gesamtsystems weder im Kompetenz- noch im Zuständigkeitsbereich der Orthopädietechnik liegt.
Beim Umbau von Zweirädern und dem Bewältigen der bürokratischen Hürden kann der Verein „Einarmhelden“ Hilfestellung leisten8.
Versorgungsbeispiel Fahrrad
Frau H. erlitt vor über 25 Jahren bei einem Motorradunfall eine Läsion des P. brachialis rechts. Die Sensibilität nimmt unterhalb der Schulter ab und ist ab dem Ellenbogen nicht mehr vorhanden. Die komplette Hand- und Ellenbogenmuskulatur ist ohne Funktion. Die Schulterabduktoren haben einen Muskelstatus von 2 nach Janda, Ante- und Retroversion sind mit 0 zu bewerten. Die Pronation der Hand in den Radioulnargelenken ist leicht eingeschränkt, ansonsten ist die ROM unauffällig. Der Arm bereitet ihr starke Dysästhesien und in den Schultergürtel ausstrahlende Schmerzen. Medikamentös lassen diese sich reduzieren, aber nicht gänzlich verhindern.
2021 kommt sie im Alter von gut 50 Jahren im beschriebenen Zustand zu uns und äußert den Wunsch nach einer Orthese zum Fahrradfahren. Einhändig unternahm sie bereits Fahrversuche, welche auf ebenem Untergrund auch gelangen. Bordsteine, Neigungen oder Schotter sind aber kaum zu bewältigen, sodass auch gemäßigte Radtouren kaum möglich und mit großer Unsicherheit verbunden sind.
Die Versorgung mit einer Wilmer Trageorthese wird besprochen, aber von der Patientin, die ihren Alltag mit Lähmung seit über zwei Jahrzehnten ohne Hilfsmittel gut bewältigt, zu diesem Zeitpunkt abgelehnt.
Es folgt die Versorgung mit einer Ganzarmorthese zum Fahrradfahren. Die Abformtechnik erfolgt mit Gips, die Schalen werden mit C‑Faser armiert und gegossen (Abb. 8). Unterarm und Hand werden in einer rigiden Schale gelagert, das Handgelenk befindet sich in leichter Dorsalextension, um den Arm am Vorrutschen zu hindern. Unter Berücksichtigung des leichten Pronationsdefizits wird die Hand nicht ganz parallel zum Lenker positioniert. In der Anprobe zeigt sich, dass der Daumen, welcher nicht mit in der Schale gebettet ist, zwischen Orthese und Lenker eingeklemmt werden kann. Um dies zu verhindern wird ein zusätzlicher Gurt verwendet, welcher um den Daumen und quer über alle Finger verläuft. Rückblickend wäre es sinnvoll gewesen, den Daumen mit in der Handschale zu lagern, in vergangenen Versorgungen war dies aufgrund deutlich stärker eingeschränkter Mobilität der Finger nicht nötig. Die Oberarmschale verfügt schulternah über eine frontale Anlage, welche der Kraftübertragung dient, und ellenbogennah über eine dorsale Anlage, welche verhindert, dass der Arm in der Orthese nach hinten rutscht. Diese Spiralform erschwert zwar das Anziehen, aber verringert den Längshub in der Orthese beim Fahren deutlich (Abb. 9, 10, Video 2).
Verbindung zum Lenker
Da die Greiffunktion der Hand nicht mehr gegeben ist, muss eine kraftübertragende, aber trotzdem bewegliche Verbindung zwischen Orthese und Lenker hergestellt werden. Wäre diese Verbindung unbeweglich, würde dies die Beweglichkeit des Oberkörpers beim Fahren zu stark einschränken. Außerdem muss die Verbindung so fest sein, dass sie sich nicht unbeabsichtigt vom Lenker lösen kann, aber gleichzeitig so locker, dass die Anwenderin die Orthese selbstständig am Fahrrad anbringen und von diesem lösen kann. Auch im Falle eines Sturzes muss sich die Verbindung auf jeden Fall lösen können.
Diese Anforderungen werden durch eine zweiteilige Konstruktion erfüllt: eine mit der Orthese verschraubte Klammer, welche auf den Lenker „geklickt“ wird, und ein Paar Klemmringe, welche mit einem längs zum Lenker verlaufenden Steg verbunden sind. Die Klemmringe verhindern, dass die Klammer seitlich vom Lenker abrutscht. Der Längssteg schränkt die Rotation der Klammer um den Lenker ein, sodass sich die Orthese vom Lenker löst, falls der Anwender sich über den Lenker nach vorne bewegen sollte. Seitliches Verkippen der Orthese zum Lenker führt ebenfalls zum Abhebeln der Klammer vom Lenker. Auf Zug ist die Verbindung jedoch sehr belastbar (Abb. 11).
Die Klammer am Lenker anzubringen, ist für Frau H. zunächst schwierig, stellt mit etwas Übung aber kein Problem dar. Indem man die Öffnung der Klammer vergrößert, kann das Anbringen erleichtert werden. Dies kann aber schnell dazu führen, dass sich die Orthese bei der Fahrt zu leicht vom Lenker lösen lässt. Deswegen ist es wichtig, Anwendenden ausreichend Gelegenheit zu geben, sich mit dem System vertraut zu machen und verschiedene Techniken zum Anbringen auszuprobieren, bevor man die Öffnung vergrößert.
Ellenbogengelenk
Um Kraft über den Ellenbogen hinaus zu übertragen, wird unilateral ein frei bewegliches Orthesengelenk in Verbindung mit einem Gasdruckdämpfer verwendet (Abb. 12). Duozentrische Gelenke haben sich hierbei bewährt, da diese sowohl flach als auch stabil sind. Die Inkongruenz des duozentrischen Gelenks zum Ellenbogengelenk kann bei dieser Art von Versorgung vernachlässigt werden, weil das Gelenk beim Fahren nur selten und kurz gebeugt wird. Der Dämpfer fixiert das Orthesengelenk in einem über ein Schlitzteil einstellbaren Winkel. Extension über den eingestellten Winkel hinaus ist nicht möglich, Flexion nur gegen den Widerstand des Dämpfers. Dämpfer mit einem Widerstand von 150 N haben sich bei vielen Anwendenden bewährt, abhängig von Körpergewicht, Kraft, Sitzposition und Anwendungsgebiet können aber auch weichere oder härtere Dämpfer sinnvoll sein. Beim normalen Fahren bleibt das Gelenk im eingestellten Winkel, der Anwender lenkt über den Oberkörper und Schultergürtel. Die so erreichbaren Lenkausschläge sind zwar kleiner als normal, aber für die beim Fahren nötigen Lenkbewegungen mehr als ausreichend. Sollten z. B. beim Rangieren doch stärkere Lenkbewegungen nötig sein, kann der Anwender, indem er sich mit dem Oberkörper gegen die Orthese lehnt, den Dämpfer zusammendrücken und das Ellenbogengelenk beugen. Außerdem schwächt der Dämpfer bei unebenem Untergrund Stöße, welche vom Lenker über die Orthese auf den Körper übertragen werden, ab.
In den drei Jahren, die Frau H. die Orthese nun hat, standen kürzere und längere Radtouren an Wochenenden oder im Urlaub häufig auf der Tagesordnung. Ihr Ehemann, der zugegebenermaßen ohne Motor und bei längeren Touren mit Anhänger fuhr, hatte dabei teilweise Schwierigkeiten mitzuhalten.
Versorgungsbeispiel Motorrad
Herr B. zog sich bei einem Motorradunfall eine Läsion des P. brachialis zu. Arm‑, Hand- und Schultermuskulatur fallen funktionell aus. Unterarm und Hand sind nicht, der Oberarm nur in Teilen sensibel. 2013 gehört er zu den ersten, die in unserem Haus mit einer Orthese zum Zweiradfahren versorgt wurden. An der Planung und Umsetzung seiner Orthese wirkte er intensiv mit.
Die Grundlegenden Anforderungen an die Versorgung sind, genau wie bei Frau H., eine Verbindung zum Lenker und das Ermöglichen einer Kraftübertragung über den Ellenbogen zu schaffen. Die Verbindung zum Lenker ist identisch mit der im Fallbeispiel von Frau H. beschriebenen Konstruktion. Um die Kraftübertragung über den Ellenbogen zu ermöglichen, kommt hier aber kein Gasdruck‑, sondern ein Federdämpfer zum Einsatz, welchen Herr B. selbst zusammenstellte. Dieser ermöglicht nicht nur eine gedämpfte Flexion, sondern auch eine gedämpfte Extension. Außerdem lässt sich der Anbindungspunkt des Dämpfers an die Orthese am Dämpfer selbst verstellen, sodass das Schlitzteil zum Einstellen des Ausgangswinkels des Ellenbogengelenks hier nicht benötigt wird. Die Verwendung dieser Art von Dämpfer ist ein Einzelfall, grundsätzlich verwenden wir auch für Motorradfahrer die im Fallbeispiel von Frau H. bereits beschriebene Konstruktion aus Gasdruckdämpfer und Schlitzteil.
Da die bandhafte Sicherung des Schultergelenkes von Herrn B. nicht mehr ausreichend gegeben ist, kommt ein Schulterkorb zum Einsatz. Dieser wird mithilfe eines Tamarac-Gelenks mit der Oberarmschale verbunden, ein zusätzlicher Gurt zwischen Oberarmschale und Schulterkorb sorgt für eine gleichmäßigere Kraftübertragung auf den Brustkorb. Um die Orthese besser transportieren zu können, ist das Tamarac-Gelenk auf einer Seite mit einer trennbaren Steckverbindung gesichert, sodass sich der Schulterkorb demontieren lässt. Eine Kappe aus PE bewahrt die Hand davor vom Fahrtwind ausgekühlt zu werden (Abb. 13). Über den Weg des leidenschaftlichen Motorradfahrers zurück auf zwei Räder mit Umbau des Motorrades und der aufwendigen Straßenzulassung und Anerkennung der Verkehrstüchtigkeit wird in einem Artikel der Zeitschrift „Motorrad“ (Ausgabe 6/2017) berichtet9.
Viele Radfahrer geben an, dass die Möglichkeit, Kleidung über die Orthese zu ziehen, für sie zweitrangig ist, da sie hauptsächlich bei gutem Wetter fahren und dafür maximal dünne langärmlige Oberteile unter der Orthese tragen. Eine Protektorenjacke tragen zu können, ist für Motorradfahrer aber entscheidend. Problematisch ist hier insbesondere die Bettung der Hand. Soll diese für zusätzlichen Schutz komplett in einer Schale gefasst werden, kann es schwierig sein, die Orthese durch den Ärmel zu bekommen. Eine weitere Engstelle ist der Dämpfer. Die möglichst körpernahe Gestaltung dieser beiden Engstellen ermöglichte es den meisten unserer Anwendenden, eventuell nach einiger Suche nach einem geeigneten Modell, konfektionierte Protektorenjacken über die Orthese zu ziehen. Wenn dies nicht möglich ist, müssen Abänderungen konfektionierter Jacken oder Sonderanfertigungen in Betracht gezogen werden.
Geburtsassoziierte Plexusläsionen und myoelektrische Orthesen
Die beschriebenen Konzepte und Fallbeispiele decken weder die Versorgungsmöglichkeiten noch die Gruppe der Betroffenen vollständig ab. Geburtstraumatische Plexusläsionen und die Versorgung mit myoelektrischen Orthesen sind Themengebiete, in denen der Autor nur wenig Erfahrung hat. Gänzlich unerwähnt sollen diese Themen trotzdem nicht bleiben.
Geburtstraumatische Plexusläsionen
Geburtstraumatische Plexusläsionen kommen bei ca. 1,5 ‰ aller Geburten vor. In leichten Fällen können korrekte Lagerung und physiotherapeutische Behandlung ausreichen, um eine vollständige Heilung zu erreichen. Ist dies nicht der Fall, steht zusätzlich eine Vielzahl operativer Interventionen wie Nervenrekonstruktionen oder Muskeltransplantationen zur Verfügung, wobei die Vorstellung beim Chirurgen bereits im Alter von zwei Monaten erfolgen sollte10.
Besondere Herausforderungen bei der Behandlung von Kindern sind unter anderem deren körperliche und kognitive Entwicklung, das soziale Umfeld und die Compliance der jungen Patientinnen und Patienten. Außerdem müssen die Eltern intensiv in alle therapeutischen Maßnahmen mit einbezogen werden11 12.
Orthesen kommen meist bei symptomatisch ausgeprägten Fällen zur Unterstützung der konservativen Kontrakturbehandlung, deren Prophylaxe oder postoperativ in einer Vielzahl von Ausführungen zum Einsatz. Beispielhaft lässt sich hier die sog. Concept-4D-Orthese, eine Nachtlagerungsorthese zur dynamischen Korrektur, nennen. Sie kann sowohl postoperativ als auch zur konservativen Behandlung eingesetzt werden und wurde in einem Artikel in der Ausgabe 07/2023 der „Orthopädie-Technik“ im Detail beschrieben13.
Myoelektrische Handorthesen
Während die Nutzung myoelektrischer Signale zur Steuerung eines Hilfsmittels in der Prothetik schon lange etabliert ist, kommt diese in der Orthetik noch deutlich seltener zum Einsatz. In den letzten Jahren kamen mit Systemen wie der „MyoPro“, der „Neo1“ oder der „Exomotion hand one“ allerdings mehrere myoelektrische Orthesensysteme auf den Markt. Diese ermöglichen Anwendenden aktives Greifen und bei der „Neo1“ auch aktive Ellenbogenextension und ‑flexion14 15 16. Ellenbogenfreie Systeme wie die „Exomotion hand one“ lassen sich auch mit der Wilmer Trageorthese kombinieren17. Kontrakturen und das Finden eines geeigneten EMG-Signals sowie ein instabiles Schultergelenk können die Versorgung von Patienten mit Läsion des P. brachialis mit myoelektrischen Orthesen erschweren, müssen je nach verwendetem Orthesensystem aber keine absoluten Kontraindikationen sein. Eine myoelektrische Orthese im Alltag effektiv einsetzen zu können, benötigt zwar langes und intensives Training, kann den Anwendenden aber bei zahlreichen Aktivitäten des täglichen Lebens eine große Hilfe sein. Als Therapiegeräte, beispielsweise zum Verbessern der ROM oder zur Korrekturprophylaxe, sind myoelektrische Orthesen in der Regel nicht gedacht, auch wenn dies ein regelmäßig auftretender erfreulicher Nebeneffekt ist18 19 20.
Fazit
Die von Läsionen des P. brachialis betroffene Klientel ist durch den hohen Anteil an verunfallten Motorradfahrern eine sehr aktive Patientengruppe. Individuelle Pathologien und Lebensumstände machen jede Versorgung einzigartig und tragen immer neue Herausforderungen in die orthopädietechnischen Werkstätten. Diesen gerecht zu werden fordert Kreativität, Empathie, fachliches Verständnis und handwerkliches Geschick – hier zeigt sich unser Handwerk von seinen schönsten Seiten. Gelungene Versorgungen bedeuten für Anwendende mehr Möglichkeiten, mehr Normalität und mehr Lebensqualität.
Die Entstehung eines breit anwendbaren Orthesenkonzeptes zum Fahrrad- und Motorradfahren wäre ohne den großen Einsatz der ersten Anwender und die Bereitschaft aller Beteiligten, ein Projekt mit ungewissem Erfolg anzugehen, nicht möglich gewesen.
Auf Informationen über die bestehenden Versorgungsmöglichkeiten stoßen Betroffene häufig erst in Eigenrecherche oder durch Empfehlungen aus dem sozialen Umfeld. Viele unserer Patientinnen und Patienten hatten bei der Rückkehr in ihren Alltag nach dem Trauma im besten Fall einen Gilchrist-Verband, jedoch keinerlei Informationen, wie und wo sie sich über Versorgungsmöglichkeiten hätten beraten lassen können. Die Versorgung von Herrn E. mit einer Wilmer Trageorthese ca. ein Jahr nach seinem Unfall ist hier leider als Beispiel für eine vergleichsweise frühe Versorgung zu nennen.
Im Bewusstsein der Orthopädietechnik ist die Wilmer Trageorthese trotz ihrer verlässlichen Wirkweise und breiten Anwendbarkeit kaum präsent.
Die Informationen in diesem Artikel stellen nur einen Bruchteil dessen, was es zur Versorgung von Läsionen des P. brachialis zu wissen gibt, dar. Trotzdem hat der Autor die Hoffnung, damit einen Beitrag für die gute Beratung und Versorgung der Betroffenen leisten zu können.
Der Autor:
Michael Leßke
Orthopädietechniker-Meister
Ortema GmbH
Kurt-Lindemann-Weg 10
71706 Markgröningen
michael.lesske@ortema.de
Tel.: 07145–9153800
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Leßke M. Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis. Orthopädie Technik, 2024; 75 (12): 44–51
Video 1:
Der Anwender Herr E. demonstriert die Handhabung der individuellen Wilmer Trageorthese.
Video 2:
Versorgungsbeispiel Fahrrad: Frau H. macht eine Probefahrt mit der Orthese auf ihrem E‑Bike.
Quellenverzeichnis
- Laborprüfung von Knieorthesen – aktueller Stand und Anwendung — 8. Dezember 2025
- Peer Counseling: Wegbereiter für eine optimierte Nachbehandlung nach Amputation — 5. Dezember 2025
- Fingerphantome in der Prothesenhand – Pilotstudie an einem armamputierten Patienten — 4. Dezember 2025
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- Schünke M et al. Prometheus LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. 5. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme, 2018
- Niethard FU, Pfeil J, Biberthaler P. Duale Reihe Orthopädie und Unfallchirurgie. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2014
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- van Leerdam N. De WILMER Draagorthese: An effective orthotic device for the neutralisation of shoulder subluxations. In dit Verband, 2004; (14) Juni: 31–35. Eine Übersetzung des Artikels ins Englische ist auf Anfrage an info@ambroise.nl verfügbar.
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- Schwenzer T, Bahm J. Schulterdystokie und Plexusparese. Heidelberg, Berlin: Springer, 2016
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- Schäfer M, Bahm J. Neuartige Orthesenversorgung für Kinder mit geburtstraumatischer Plexusläsion. Orthopädie Technik, 2023; 74 (7): 50–55
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