Einleitung
Im Gesamtkontext aller Arthroseerkrankungen ist in über 60 % der Fälle das Kniegelenk mit eindeutiger altersabhängiger Prävalenz betroffen 1. Die Behandlung der Gonarthrose ist aufwendig und kostenintensiv 2. Als Standard gelten hierbei operative Verfahren wie Gelenkersatz, Gelenkversteifung, Umstellungsosteotomien und arthroskopische Eingriffe 3. Nichtoperative Verfahren umfassen medikamentöse Behandlung, Physiotherapie und den gezielten Einsatz orthopädischer Hilfsmittel. Darunter hat sich die Nutzung von Orthesen etabliert. Dabei muss jedoch angenommen werden, dass das für die Orthopädietechnik mögliche Versorgungspotenzial nicht annähernd genutzt wird: Datenerhebungen zeigen, dass weltweit weniger als 1 % aller Gonarthrose-Patienten mit den Möglichkeiten von Orthesenversorgungen überhaupt in Kontakt kommen 4. Die Grundidee dieser orthopädischen Hilfsmittel besteht darin, das betroffene Kompartiment des Kniegelenks zu entlasten und dadurch die Schmerzen des Patienten zu reduzieren 5 6.
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die in der Praxis angewendeten Orthesenarten hinsichtlich Funktionsprinzip und Wirkung aus biomechanischer Sicht in einem vergleichenden Überblick zu diskutieren. Neben der Darstellung der biomechanischen Wirkung wird die Querverbindung zu den klinischen Effekten (ausführliche Darstellung u. a. bei Schwarze et al. 7) kurz aufgezeigt. Da die Ausführungen mit Hinweisen zum zielgerichteten orthopädietechnischen Vorgehen ergänzt werden, soll der Beitrag Ärzte und Orthopädietechniker bei der Auswahl der individuell am besten geeigneten orthopädietechnischen Versorgung unterstützen.
Biomechanische Bewertung der Belastung des Kniegelenks
Zur spezifischen Bewertung der Kniebelastung wird aus biomechanischer Sicht in der Mehrheit aller Studien das in der Frontalebene extern am Kniegelenk wirkende Moment herangezogen u. a. 8 9 10 11. Diese Betrachtung ist sinnvoll für die Phasen mit Körpergewichtsbelastung einer Bewegung in der Ebene, beispielsweise die Standphase beim Gehen. In dieser wirkt das Moment im physiologischen Fall überwiegend varisierend, weswegen sich auch die Begriffe „knee varus moment“ (VM) oder „knee adduction moment“ etabliert haben 12 13. Als spezieller Parameter zur Kennzeichnung der Kniebelastung fungiert dann in der Regel der erste „peak“, der während der Lastübernahme (meist zwischen 10 und 25 % des Gangzyklus) erreicht wird 14.Teilweise wird auch der „knee adduction moment im pulse“ (Integral unter der Moment-Zeit- Kurve) bewertend angegeben 15 16.
Das VM wird meist auf den frontalen Kniemittelpunkt bezogen. Generell trägt in der Belastungsphase auch das in der Sagittalebene wirkende externe Flexionsmoment zur Kniebelastung bei 17. Das Flexionsmoment sollte vor allem bei Bewegungsabläufen, die unter Körpergewichtsbelastung mit deutlich vergrößerten Flexionswinkeln und ‑momenten ausgeführt werden müssen (z. B. Aufwärtsgehen auf Schrägen und Treppen 18), in jedem Fall berücksichtigt werden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich mit dem ebenen Gehen auf die wichtigste Alltagsbewegung. Da hier in der Einbeinstandphase nur moderate Flexionswinkel bis etwa 20° erreicht werden, wird die nachfolgende Diskussion zu orthetischen Mechanismen der Knieentlastung ausschließlich mit dem VM geführt.
Günstig für die Bewertung der Wirkung einer Intervention bei Gonarthrose ist die Erfahrung, dass das VM für Patienten mit medialer Gonarthrose im Vergleich mit Kniegesunden in der Regel erhöht, für Patienten mit lateraler Gonarthrose meist verringert ist 19 20. Bei der Nutzung der aus dem VM rekrutierten Bewertungsparameter muss ferner beachtet werden, dass es sich dabei um bewegungsanalytisch bestimmte Größen handelt, bei denen der Zusammenhang mit der orthopädisch relevanten Gelenkkontaktkraft im medialen und/oder lateralen Kniekompartiment zunächst offen ist. Diese Kräfte sind nur in instrumentierten Endoprothesen direkt messbar 21, nicht jedoch im natürlichen Gelenk. Somit verbleibt hier zur Abschätzung der Kontaktkraft nur die Nutzung spezifischer biomechanischer Modelle, die auf Eingangsdaten aus der Bewegungsanalyse zurückgreifen 22. In entsprechenden Studien wird zumindest teilweise gezeigt, dass die VM-Parameter mit den Kniekontaktkräften korrelieren 23.
Orthesenkonzepte
Zur orthetischen Entlastung des jeweils betroffenen Kniegelenkkompartiments können drei verschiedene Orthesenarten genutzt werden:
- Eine in der Orthopädie sehr „alte“ Idee ist es, das Gelenk mit Hilfe einer keilförmigen lateralen oder medialen Schuhranderhöhung (in der Regel bis 4 mm) oder einer Einlage mit integrierter Randerhöhung zu entlasten 24. Die Gesamtheit dieser Versorgungsmöglichkeiten wird nachfolgend unter dem Begriff „Randerhöhung“ (RE) zusammengefasst.
- Die seit Mitte der neunziger Jahre zur Verfügung stehende, heute am häufigsten verwendete Orthesenversorgung ist die gelenkübergreifenden Knieorthese (KO).
- Als neueres Prinzip erweiterte schließlich die seit etwa 2015 nutzbare Unterschenkelorthese (AFO) das Spektrum der orthopädietechnischen Behandlungsmöglichkeiten.
Beispiele dieser drei Orthesentypen sind in den in Tabelle 2 integrierten Abbildungen dargestellt. Da in der übergroßen Mehrzahl der Fälle das mediale Kompartiment betroffen ist 25 26, werden nachfolgend die Orthesenvarianten für die gezielte Behandlung dieser Gelenkregion diskutiert.
Funktionsprinzip und Wirkung von Randerhöhungen (RE)
Die Grundidee einer Reduktion der Kniebelastung von RE ist in Abbildung 1 dargestellt. Dabei wird angenommen, dass unter Belastung eine Außenranderhöhung zu einer Verschiebung des Kraftangriffspunktes (Center of Pressure, COP) nach lateral führt. Unter der weiteren Annahme einer nicht grundsätzlich geänderten Gangmotorik (u. a. keine signifikante Änderung der Spurbreite und/oder der nach medial gerichteten Kraftkomponente) liegt dann eine Verkürzung des frontalen Krafthebelarms am Kniegelenk und somit eine Reduktion des VM nahe. In diesem Zusammenhang durchgeführte Untersuchungen liefern jedoch widersprüchliche Resultate: Es wird sowohl von signifikanten Reduktionen der VM-Parameter (meist zwischen 5 und 10 % 27 28 29) als auch von biomechanisch wirkungslosen Interventionen 30 31 32 berichtet. Somit ist generell davon auszugehen, dass eine knieentlastende Wirkung von RE nicht bei jedem Gonarthrose-Patienten prognostiziert werden kann. Dies korreliert mit Aussagen zu klinischen Bewertungen (positive Effekte z. B. 33 34; negative Effekte z. B. 35 36 und Erfahrungen aus der Versorgungspraxis. Dabei ist anzumerken, dass im Falle eines positiven Effektes verständlicherweise von einer hohen Akzeptanz – nicht zuletzt durch die einfache Handhabung bedingt – ausgegangen werden kann.
Funktionsprinzip und Wirkung von Knieorthesen (KO)
Zur knieentlastenden Wirkung von Knieorthesen werden zwei differente Effekte diskutiert: der mechanische und der sensomotorische Effekt. Auf diese beiden Effekte wird im Folgenden genauer eingegangen.
Mechanischer Effekt
Dieser Effekt resultiert aus dem allgemein bekannten 3‑Punkt-Prinzip (Abb. 2). Dabei wirken zwei Kräfte in der Frontalebene beim Versuch, das mediale Kompartiment zu entlasten:
- am Ober- und Unterschenkel jeweils eine nach lateral gerichtete Kraft,
- im Bereich des lateralen Femurkondylus eine nach medial gerichtete Kraft.
Mit dieser – meist einstellbaren – Krafteinleitung erzeugt die Orthese ein Valgusmoment, also ein Orthesenmoment (OM), das dem VM entgegenwirkt. Dadurch kompensiert die KO einen Teil des externen Moments; die auf das Kniegelenk wirkende Belastung wird zunächst zumindest um den Betrag des OM reduziert.
Zur Bestimmung der Größe der kompensatorischen Wirkung sind in der internationalen Literatur differente Ansätze zu finden. Bereits im Jahr 2000 stellten Self und Mitarbeiter 37 die Nutzung einfacher Drucksensoren vor. Dabei wurde die Druckentwicklung zwischen Orthesenpelotte und lateralem Femurkondylus während der Standphase erfasst, wodurch auf das OM geschlossen werden konnte. In der oft zitierten Studie von Pollo et al. 38 wurde das OM aus den Daten von in der Orthese applizierten Kraftsensoren berechnet; eine mit einem Momentensensor instrumentierte Orthese nutzten Fantini et al. 39. Ohne eine instrumentierende Veränderung der Orthese kommt ein spezielles Kalibrierverfahren aus, das beispielsweise in den Studien von Schmalz et al. 40 und Brandon et al. 41 vorgestellt wurde (Abb. 3). Grundidee ist hier, mit einem spezifischen Kalibriervorgang den Zusammenhang zwischen Orthesendeformation („Verbiegung“ der Orthesenschalen) und der dazu notwendigen Kraft (z. B. F2 in Abb. 2) zu bestimmen. Misst man nachfolgend bei realen Bewegungsabläufen mit bewegungsanalytischen Verfahren die natürlicherweise auftretende (in ihrer Stärke einstellbare) Verbiegung der Orthese, ist das OM ebenfalls berechenbar. Die Werte für das OM können bezüglich Messverfahren, Orthesentyp und individueller Einstellung variieren. Aus der Gesamtheit der differenten Studien kann jedoch geschätzt werden, dass das OM bei praxisrelevanten Einstellungen während des in der Standphase auftretenden ersten „peak“ des VM im Mittel etwa 15 % von diesem beträgt.
Bezüglich der Frage, ob bei Nutzung einer KO das VM direkt reduzierbar ist, ergibt sich kein einheitliches Bild. Einige Studien berichten von geringfügigen Reduktionen der VM-Parameter 42 43 44, andere hingegen von keinen signifikanten Effekten 45 46 47 48 49. Ein plausibler Grund für gemessene geringfügige Reduktionen des VM kann darin bestehen, dass in diesen Fällen Patienten mit Knieinstabilitäten mit einer KO versorgt wurden. Bei Betrachtung der Gesamtheit aller Messresultate und Erfahrungswerte erscheint es gerechtfertigt, den durch das OM erzeugten kompensatorischen Mechanismus als wesentlich für den mechanischen Effekt von Gonarthrose-KO anzunehmen.
Sensomotorischer Effekt
Der der Wirkung von KO ebenfalls zugeschriebene sensomotorische Effekt geht von der Tatsache aus, dass die Kniegelenke von Gonarthrose-Patienten teilweise instabil sind und dass deshalb kompensatorisch höhere Aktivitäten der knieübergreifenden Muskelgruppen zu beobachten sind 50. Aus detaillierten EMG-Analysen ist in diesem Zusammenhang bekannt, dass Indizes, die die Ko-Kontraktion dieser Muskelgruppen beschreiben, bei Nutzung von KO signifikant gesenkt werden 51 52 53. Da beim Vergleich zweier Situationen (mit und ohne Orthese) aus einer reduzierten Ko-Kontraktion auf eine reduzierte notwendige gelenkstabilisierende Muskelkraftentwicklung geschlossen werden kann, ist final zu folgern, dass durch diesen Effekt auch die Gelenkkontaktkräfte reduziert werden können. Die gegenwärtig einzige Möglichkeit, die Stärke dieses Mechanismus abzuschätzen, besteht in der Nutzung biomechanischer Modelle, die u. a. EMG-Daten als Input nutzen. Aktuelle Studien zu dieser Frage, durchgeführt mit gesunden Probanden und Gonarthrose-Patienten, gelangen zu dem Schluss, dass der mit reduzierten Ko-Kontraktionen nachweisbare sensomotorische Effekt im Vergleich mit dem mechanischen extrem gering ist 54 55 und deshalb bei der Diskussion der knieentlastenden Wirkung vernachlässigt werden kann.
Klinische Resultate
Zur klinischen Bewertung von Interventionen zur Behandlung der Gonarthrose werden meist spezifische Fragebögen wie der „Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index“ (WOMAC) oder der „Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score“ (KOOS) verwendet. Die mit solchen Instrumenten ermittelten positiven klinischen Resultate der KO sind auf der Basis des vorliegenden Datenmaterials unbestreitbar. Hervorzuheben sind hier in erster Linie die signifikante Schmerzreduktion, die Reduktion von Gelenkinstabilitäten sowie Verbesserungen hinsichtlich der Ausführung von Alltagsaktivitäten. Relativierend erwähnt werden aber auch Probleme wie das Auftreten von Hautirritationen, die mitunter schwierige Handhabung und Rutscheffekte. Eine übersichtliche Zusammenfassung dieser klinischen Resultate ist beispielsweise in den Review-Artikeln von Reeves/Bowling 56, Mistry et al. 57 und Gohal et al. 58 sowie in der Metaanalyse von Moyer et al. 59 zu finden.
Funktionsprinzip und Wirkung von Unterschenkelorthesen (AFO)
Die Resultate der biomechanischen Wirkung von RE lieferten Diskussionsstoff bezüglich der individuell differenten Effekte. Ein plausibler Erklärungsansatz wurde bereits vor ca. 15 Jahren in einer Prinzipstudie überprüft und führte dazu, eine AFO zur Knieentlastung einzusetzen 60. Der Erklärungsansatz bezüglich der unzuverlässigen Wirkung von RE bestand darin, dass insbesondere bei Instabilitäten im Bereich des unteren und oberen Sprunggelenks (USG und OSG) die Applizierung einer Außenranderhöhung in der frühen Standphase mit einer verstärkten Eversion kompensiert wird und sich somit keine Lateralverschiebung des COP und keine VM-Reduktion einstellt. Um diese unerwünschte Kompensation auszuschließen, wurde in der Prinzipstudie eine AFO mit einem lateralen Bügel getestet, der USG und OSG rigide überbrückt. Im Vergleich der Interventionen RE einerseits und RE + AFO andererseits bestätigte sich, dass sich aus der rigiden frontalen Überbrückung von USG und OSG eine signifikante Lateralverschiebung des COP und eine VM-Reduktion ergibt 61. Aus Sicht der Gelenkkinematik geht dieser Effekt mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer deutlichen Verringerung der initialen Eversion einher. Dieses Ergebnis führte zu der in Abbildung 4 dargestellten Orthesenvariante, die im Artikel von Drewitz et al. 62 im Detail vorgestellt wurde. Neben der rigiden frontalen Überbrückung der Sprunggelenke ist der Orthesenbügel individuell einstellbar, womit die Kraftwirkung am Unterschenkel variiert werden kann. An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Modulation dieser Krafteinleitung nur ein sekundärer Wirkeffekt ist: Die gelenkentlastende Wirkung resultiert in hohem Maße aus der rigiden frontalen Knöchelüberbrückung. Im Gegensatz zu den mit RE erzielbaren Effekten führt dies zuverlässig zur Lateralverschiebung des COP und zur signifikanten Reduktion der VM-Bewertungsparameter (Abb. 4B–D). Dieser klare mechanische Effekt ist mittlerweile in einer Vielzahl von Studien mit gesunden Probanden und Gonarthrose-Patienten nachgewiesen worden (Tab. 1). Anhand der Ergebnisse dieser Untersuchungen kann abgeschätzt werden, dass das spezifische Prinzip der AFO den ersten „peak“ des VM im Mittel um ca. 15 bis 20 % reduziert.
Erste groß angelegte klinische Studien, ebenfalls in der Regel basierend auf den spezifischen Gonarthrose-Fragebögen, bestätigen die positiven subjektiven Erfahrungen aus der Versorgungspraxis und korrelieren gut mit dem biomechanischen Effekt 63 64. Demnach kann für Versorgungen mit einer AFO insbesondere von reduziertem Schmerzempfinden und einer gesteigerten Lebensqualität ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang erscheint besonders die im „randomized cross-over design“ mit 160 Patienten durchgeführte multizentrische Studie von Petersen et al. interessant 65. Darin wurden die klinischen Effekte, die mit KO und AFO erzielbar sind, vergleichend untersucht. Dabei ergaben sich positive Resultate für beide Orthesenvarianten, die sich quantitativ nicht unterschieden.
Vergleichende Zusammenfassung
Die diskutierten biomechanischen Wirkmechanismen sind in Tabelle 2 vergleichend zusammengefasst. Der prinzipielle Unterschied zwischen der knieübergreifenden Orthese und den anderen beiden Orthesenarten besteht darin, dass die Kniebelastung mit der KO durch einen kompensatorischen Effekt reduziert wird, wohingegen AFO und RE durch eine direkte Reduktion des VM wirken. Die Zuverlässigkeit der Wirkung kann für KO und AFO als gleichwertig hoch und für RE als deutlich verringert angenommen werden.
In der Zusammenfassung wird weiter der Versuch unternommen, im Sinne einer Mittelung die Effekte quantitativ anhand der Angaben in der internationalen Literatur abzuschätzen. Der etwa gleiche Entlastungseffekt des medialen Kompartiments für KO und AFO liegt im Bereich zwischen 15 und 20 % VM; im Falle einer erfolgreichen Versorgung mit einer RE ist meist mit Effekten < 10 % VM zu rechnen.
Die im Rahmen einer individuellen Versorgung erzielbare Wirkung ist natürlich weiter abhängig von den spezifischen konstruktiven Merkmalen der ausgewählten Orthese, was hauptsächlich auf KO zutrifft. Übersichtliche Informationen zum detaillierten Vergleich konstruktiver KO-Varianten findet man beispielsweise in den Review-Artikeln von Brooks et al. 66 und Philipps et al. 67.
Individuelle Auswahl des Orthesentyps – Empfehlungen aus Sicht des Orthopädietechnikers
Anhand der obigen Ausführungen wurden vorrangig die gut untersuchten Funktionsprinzipien der Orthesen aus Sicht der Biomechanik erläutert. Bei der Frage der Auswahl der für einen Patienten individuell optimalen Variante muss der Orthopädietechniker jedoch neben der knieentlastenden Wirkung weitere Aspekte für die Entscheidungsfindung berücksichtigen, die im Folgenden umrissen werden.
Im Rahmen der Beratung sollten mit dem Patienten die unterschiedlichen Orthesenvarianten getestet werden, da sich gezeigt hat, dass die individuell differente orthesenabhängige Entlastungs- und Schmerzreduktionswahrnehmung schon nach wenigen Metern Gehstrecke vom Patienten zuverlässig zurückgemeldet wird. Als generelle Regel kann gelten, dass bei deutlich instabilem Kniegelenk knieübergreifende Orthesen zu bevorzugen sind. Demnach ist dann meist die KO das Mittel der Wahl. Wenn im Rahmen der orthetischen Versorgung auch eine Achskorrektur möglich ist, sollte die individuelle Ganzbeinorthese (KAFO) in Betracht gezogen werden. Aufgrund der unzuverlässigen und vergleichsweise geringen Wirkung bietet sich die Außenranderhöhung nur als zusätzliche alternative Maßnahme an. Diese könnte beispielsweise genutzt werden, wenn die individuelle Situation das Tragen einer knöchel- oder knieübergreifenden Orthese vorübergehend nicht zulässt.
Neben der primären knieentlastenden Wirkung können auch andere klinische Aspekte entscheidend für die Hilfsmittelauswahl sein. So bietet zum Beispiel bei venösen oder lymphatischen Beschwerden, Baker-Zysten, konischen Beinformen oder schwierigen Weichteilverhältnissen die AFO deutliche Vorteile gegenüber der KO, da es keine einschnürenden Verschlüsse gibt und die Ortsstabilität der Orthese gesichert ist.
Der für den Patienten spezifische Einsatzbereich kann für die Auswahl der Orthese ebenfalls eine primäre Bedeutung haben. So ist beispielsweise für den alpinen Skisport die KO das optimale unterstützende Hilfsmittel, da u. a. die Unterschenkelorthese nicht kompatibel mit dem Ski-Schuh ist. Andererseits zeigen Erfahrungen, dass die AFO bei Patienten mit stabilem Kniegelenk ein schmerzreduziertes Joggen ermöglicht, was mit KO vor allem aufgrund der verstärkten Rutschneigung stark eingeschränkt ist.
Da im Rahmen der Gonarthrose-Behandlung Betroffene häufig zum ersten Mal mit der Nutzung einer Orthese konfrontiert werden, sind auch psychosoziale Faktoren wie persönliche Lebensumstände oder Kleidergeschmack bei der Beratung zu berücksichtigen. Prinzipiell ist es deshalb wichtig, den Patienten zur Nutzung des geeigneten Hilfsmittels zu motivieren, da dies entscheidend für den langfristigen medizinischen Erfolg ist. Im Rahmen dessen spielt die Erläuterung der Wirkprinzipien eine essentielle Rolle. Während der Beratung und Versorgung ist die Messung der im Beitrag besprochenen Parameter in der Regel zwar nicht möglich, jedoch können objektivierende Hilfsmittel wie Videobild- oder Statikanalyse genutzt werden. Moderne Videoanalyseprogramme erlauben beispielsweise während der Einbeinstandphase die vergleichende Visualisierung von Gelenkwinkeln oder die schematische Andeutung von Kraftwirkungslinien. Ein eindrucksvolles Beispiel während der Analyse der statischen Gelenkbelastung, durchführbar mit dem L.A.S.A.R. Posture, ist die gut sichtbare Verschiebung der Wirkungslinie der vertikalen Bodenreaktionskraftkomponente beim Anlegen der AFO.
Fazit
Im Spektrum der Orthesenvarianten, die im Rahmen der konservativen Behandlung der Gonarthrose eingesetzt werden können, repräsentieren KO und AFO sinnvolle Möglichkeiten, das Kniegelenk in quantitativ vergleichbarer Weise sehr zuverlässig zu entlasten. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der hauptsächliche Mechanismus, der zu der unbestrittenen Schmerzreduktion führt und somit die Lebensqualität des Patienten erhöhen kann. Durch diesen orthopädietechnischen Effekt werden Voraussetzungen geschaffen, um beispielsweise für den Patienten notwendige Medikationen zu reduzieren, den Zeitpunkt unumgänglicher operativer Maßnahmen zu verschieben oder sogar ganz auf endoprothetische Versorgungen zu verzichten. Die profunde Kenntnis der biomechanischen Wirkungen unterstützt den Orthopädietechniker bei der Auswahl der individuell optimalen Orthesenvariante.
Für die Autoren:
Dr. Thomas Schmalz
Clinical Research & Services/Biomechanics
Otto Bock Healthcare SE & Co. KGaA
Hermann-Rein-Straße 2a
37075 Göttingen
thomas.schmalz@ottobock.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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