Einleitung
Seit vielen Jahren berät der Autor als Ergotherapeut — Menschen mit posturalen, vor allem neuromuskulär bedingten Problemen im Zusammenhang mit der Organisation von Sitzunterstützung. Die Beratungen finden bis zu ihrem Abschluss gemeinsam mit dem involvierten Team von Fach- und Bezugspersonen vor Ort statt. In den meisten Fällen werden die — Menschen mit ihren Sitzunterstützungen in verschiedenen Entwicklungs- und Lebensphasen langfristig betreut. Das erlaubt einen Überblick darüber, welche Konzeptideen sich über einen längeren Zeitraum bewährt haben und welche überarbeitet werden sollten.
Im zeitlichen Verlauf lassen sich zwei Tendenzen beobachten: Auf der einen Seite gibt es markante Entwicklungen in der Diagnostik, in der Behandlung durch konservative, medikamentöse sowie operative Therapie und in der Unterstützung durch Orthopädie- und Reha-Technik. Auf der anderen Seite bleiben etablierte Vorstellungen und Gewohnheiten hartnäckig bestehen. Im Bereich der Sitzunterstützung sind dies Vorstellungen einer statischen, nicht oder nur minimal bewegten Sitzhaltung. Weit verbreitet scheint auch die Annahme zu sein, dass die Ursache eines Problems am Ort seiner Manifestation bearbeitet werden müsse. Darüber hinaus werden zudem oft technische Lösungen angestrebt, bevor eine sorgfältige Analyse der Probleme vorliegt
Plädoyer für mehr Bewegung in der Sitzunterstützung
Bei der intensiven Auseinandersetzung mit Menschen mit schweren Haltungsproblemen ist das Hineinversetzen in die Lage des Betroffenen immens wichtig. Durch Ausprobieren verschiedener Sitzunterstützungen über mehrere Stunden kann die jeweilige Wirkung über die Zeit besser erlebt werden. Aus dieser Erfahrung heraus plädiert der Autor dafür, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die auf Sitzunterstützungen angewiesen, jedoch zumindest teilweise nicht in der Lage sind, ihre Empfindungen und Bedürfnisse sprachlich auszudrücken.
Bewegung spielt beim Sitzen auf zweierlei Weise eine wichtige Rolle: Zum einen werden während des Sitzens – zumeist unbewusst – ständig kleine Haltungskorrekturen vorgenommen, um das körperliche Wohlbefinden sicherzustellen und unangenehmen Empfindungen auszuweichen. Zum anderen werden durch Bewegung beim Sitzen emotionale Regungen ausgedrückt. Mittels der willkürlichen Haltungsanpassungen treten Menschen entsprechend ihren Intentionen mit der Umwelt in Beziehung. Sitzunterstützungen sollten deshalb dabei unterstützen, die dazu erforderlichen Funktionen und Bewegungen verfügbar zu machen. In diesem Zusammenhang sind folgende Aspekte wichtig:
- Menschen, die aufgrund eines Handicaps auf Sitzunterstützung angewiesen sind, möchten ihre Haltung für ein besseres Wohlbefinden variieren und sich entsprechend ihren Intentionen und den dafür benötigten Funktionen organisieren.
- Menschen, die aufgrund von Muskelschwäche oder ausgeprägter Hypotonie über einen sehr schwachen Haltungshintergrund verfügen, möchten in ihrer Haltung so unterstützt werden, dass sie mit der verbleibenden Kraft die für sie wesentlichen Funktionen ausführen können.
- Menschen, die irreversible Kontrakturen haben, möchten den verbleibenden Bewegungsumfang entsprechend ihren Intentionen ausnutzen können.
- Menschen, die unter starker Spastik leiden, sind dankbar, wenn ihre spastischen Körperabschnitte nicht auf rigide Weise zurückgebunden werden, weil sie sich sonst in einen erschöpfenden und schmerzhaften Kampf gegen die rigide Begrenzung begeben müssen.
- Menschen, die unter einer ausgeprägten Dyskinesie leiden, sind dankbar, wenn ihre Extremitäten nicht zurückgebunden werden und wenn ihre Stabilität so organisiert wird, dass sie ihre Extremitäten entsprechend ihren Intentionen und Empfindungen bewegen können.
- Menschen, die an einer ausgeprägten neurogenen skoliotischen Fehlhaltung leiden, sind froh, wenn die Sitzunterstützung nicht nur von der Vorstellung der Symmetrie geleitet ist, sondern sinnvolle Prioritäten zugunsten der Lebensqualität gesetzt werden und der Symmetriegedanke sorgfältig dosiert umgesetzt wird.
- Menschen, bei denen schwere Fehlhaltungen und Fehlstellungen bestehen, sind auf eine großflächig wirkende Sitzunterstützung angewiesen. Umso wichtiger ist es für sie, wenn die großflächig wirkende Unterstützung Haltungsvariation auch über mehrere Körperabschnitte hinweg zulässt und ein akzeptables Mikroklima ermöglicht.
Menschen also, die ein ihre Sitzhaltung betreffendes Handicap haben und auf Sitzunterstützung angewiesen sind, wünschen sich eine Unterstützung, die den notwendigen Halt vermittelt, ohne durch die rigide Anwendung statischer Vorstellungen des Körpers in ihrer Haltungsvariation bzw. ihren intentionalen Bewegungen blockiert zu werden. Der Einsatz statischer Elemente bei der Sitzunterstützung ist zwar notwendig, um die mögliche Mobilität wirkungsvoll umsetzen zu können, aber es sollte eine anspruchsvolle Balance zwischen Statik und Bewegung gewährleistet sein. Dies kann nur mit einem systematischen Vorgehen in offener interprofessioneller Zusammenarbeit gelingen.
Vom Konzept zur Umsetzung
Die folgende zeitliche und logische Strukturierung der Entwicklung einer adäquaten Sitzunterstützung hat sich in der Praxis bewährt. Sie führt nach den Erfahrungen des Autors zu wenig Missverständnissen und Fehlern sowie zu langfristig befriedigenden Lösungen. Die Entwicklung eines geeigneten Konzepts zur Sitzunterstützung umfasst folgende Phasen:
Teambildung
- Klärung, welcher Personenkreis in die Entwicklung der Sitzunterstützung einbezogen werden soll
- Klärung der Rollen
- grundsätzliche Festlegung des Vorgehens
Abklärung
- Haltung und Bewegungsverhalten verstehen
- Ressourcen, Einschränkungen und Bedürfnisse aufnehmen
- Ziele definieren
- bei Zielkonflikten sinnvolle Prioritäten aushandeln
Konzeptentwicklung
- sinnvolle Ausgangsstellung für die einzelnen Körperabschnitte definieren
- erwünschte bzw. zugelassene Abweichung einzelner Körperabschnitte von der Ausgangsstellung in Bezug auf Richtung und Ausmaß definieren
- falls notwendig, rückführende Kraft definieren, die aus der abweichenden Stellung eines Körperabschnitts wieder in die sinnvolle Ausgangsstellung zurückhilft
- geeignete technische Umsetzung ermitteln, die die genannten Anforderungen erfüllen kann
- schriftliche Darlegung und Begründung des Konzepts zur Überprüfung durch die relevanten Personen und Entscheidungsträger; falls notwendig, Korrekturen; danach ist das Konzept verbindlich
Technische Umsetzung und Erprobung
- Umsetzung in Etappen: zunächst die Fixpunkte des Konzepts, später die abhängigen Variablen
- Überprüfung der einzelnen Etappen auf Wirksamkeit
Fallbeispiele erfolgreich umgesetzter Konzeptideen
Die nachfolgenden Beispiele wurden in den letzten Jahren entwickelt und umgesetzt. Erfolgreiche Konzepte werden laufend weiterentwickelt und verfeinert.
1. Fallbeispiel: ventrale dynamische Rumpfunterstützung
Problembeschreibung
Ein Junge mit bilateraler spastischer Zerebralparese und schwachem Haltungshintergrund hing ohne Unterstützung mit seinem Rumpf nach vorne oder nach einer Seite. Diese Tendenz war einerseits bedingt durch seine Haltungsschwäche, andererseits durch eine Verhaltensgewohnheit. Mit der ungünstigen Rumpfhaltung war eine entsprechend ungünstige Kopfhaltung verbunden (Abb. 1). Rigide Fixierungen des Rumpfs wie starre seitliche Rumpfunterstützungspelotten oder straff gespannte 4‑Punkt-Fixierungen (Rumpfweste) lehnte der Junge ab, oder er kämpfte bis zu deren Zerstörung dagegen an (Seitenpelotten). Zudem blieb die Kopfhaltung mit HWS-Flexion und HWS-Translation nach anterior unbefriedigend. Flexiblere Unterstützungen wie elastische Gurte unterstützten den Patienten zu wenig – die Kopfhaltung blieb immer unbefriedigend (Abb. 2).
Konzeptidee
Bei der interprofessionellen Abklärung konnte das Versorgungsteam durch Einsatz der Hände beobachten, dass eine dynamische ventrale Rumpfunterstützung eine positive Wirkung zeigen könnte, wenn sie folgende Bedingungen erfüllt: Die definierte gewünschte Ausgangsstellung soll im Sinne der Haltungsvariation und der Haltungsintention in einem definierten Umfang verlassen werden können; dabei soll die ventrale Unterstützung bei Abweichung von der definierten Ausgangsstellung eine rückführende Kraft ausüben (je größer die Abweichung, desto größer die rückführende Kraft) und den Jungen bei der Wiedererlangung und Erhaltung der definierten Ausgangsstellung unterstützen. Die aufrichtende Kraft der ventralen Unterstützung soll bei aufgerichteter Rumpfhaltung wenig Druck ausüben, eine leichte Lateralflexion zulassen und die Rumpfrotation möglichst wenig einschränken. Der Kopf soll auf dem gut aufgerichteten oberen Rumpfabschnitt gut ausbalanciert mit geringer Anstrengung gehalten und ohne weitere Kopfunterstützung im Raum frei bewegt werden können (Abb. 3).
Umsetzung und Wirkung
Technische Umsetzung des Konzepts: Auf eine vorne an der Sitzfläche aufsteckbare Abduktionsführung kann eine Carbonfeder von vorne in ein Führungsprofil aufgeschoben und in der passenden Position arretiert werden. Auf Höhe des Brustbeins ist eine den Rumpf seitlich umgreifende korsettartige Unterstützungsform angebracht, die in der Höhe und eventuell in der seitlichen Auslenkung eingestellt werden kann.
Die technische Umsetzung hielt die Vorgaben des Konzepts ein: Nach nur wenigen Korrekturen konnte die Unterstützung im Alltag eingesetzt werden. Die Kopfhaltung musste nicht zusätzlich unterstützt werden. Aufrichtung und Symmetrie des Rumpfs gelangen auch ohne Unterstützungsflächen für Ellbogen und Unterarme. Der einfache und praktische Transfer konnte technisch gut gelöst werden. Die Konzeptidee und ihre technische Umsetzung bewähren sich seit mehreren Jahren und konnten in der Zwischenzeit auch bei anderen Kindern und Jugendlichen erfolgreich angewandt werden (Abb. 4)
Aktuell bekommt der Junge erneut Probleme mit der Kopfaufrichtung; der Kopf hängt wiederum nach vorne. Bei der erneuten Abklärung zeigt sich, dass zwar die grundlegende Konzeptidee beibehalten werden kann, aber mit einer leichten Sitzkantelung (Neigung der gesamten Sitzeinheit) der Kopf von der Schwerkrafteinwirkung entlastet werden muss. Auf diese Weise kann der Junge mit aufgerichtetem Kopf entspannt an der Kopfstütze anlehnen.
2. Fallbeispiel: Priorität Schulter vor Becken durch bewegliches Becken
Problembeschreibung
Ein Junge mit starker Spastik, epileptischen Krampfanfällen und weiteren komplexen Problemen zeigte unter dem Einfluss der Spastik unter anderem eine ausgeprägte Tendenz zur Verkürzung einer Rumpfseite. Mittels Sitzbettung, Beckengurten und seitlichen Rumpfunterstützungsflächen (Pelotten) sollte der Rumpf entgegen der Spastik in Aufrichtung und Symmetrie gehalten werden. Der Junge kämpfte andauernd und bis zur Erschöpfung gegen diese Unterstützungsmaßnahmen.
Nach dem Einsatz einer Baclofen-Pumpe konnte eine deutliche Reduktion der Spastik beobachtet werden; eine zeitweise einschießende Spastik blieb aber bestehen und manifestierte sich in der temporären Verkürzung einer Rumpfseite, die zunächst als Haltungsschwäche missdeutet wurde. Die Spastik war derart stark, dass die seitliche Rumpfpelotte überwunden wurde und der Junge in eine zur Seite flektierte Position geriet, aus der er sich selbst nicht mehr befreien konnte. Die rigiden Maßnahmen zur Erhaltung der Symmetrie provozierten weiterhin einen erschöpfenden Kampf des Jungen gegen die Unterstützungsmaßnahmenund erhöhten beobachtbar Frequenz, Intensität und Dauer der Ereignisse mit einschießender Spastik. Der Junge hielt es in der Sitzunterstützung schließlich nur noch kurze Zeit aus, entwickelte Angst vor ihr und wehrte sich gegen den Transfer. Ein vollständiger Verzicht auf die seitlichen Unterstützungsflächen war nicht möglich, da der Junge auf diese Weise in eine nicht vertretbare Rumpfhaltung gekippt wäre, aus der er sich nicht selbst hätte befreien können. Die Sitzunterstützung konnte demnach in dieser Form nicht mehr eingesetzt werden (Abb. 5).
Konzeptidee
Bei der Beratung stellte sich folgende Frage: Kann die Sitzunterstützung im Rollstuhl so organisiert werden, dass der obere Rumpfabschnitt aufgerichtet und in der Symmetrie gehalten werden kann und dass bei einschießender Spastik die Verkürzung einer Rumpfseite zugelassen werden kann, ohne Aufrichtung und Symmetrie des oberen Rumpfabschnitts aufgeben zu müssen? Auf diese Weise würde dem oberen Rumpfabschnitt und der Schulter Priorität gegenüber dem Becken eingeräumt.
Die Ausgangsstellung des Beckens soll definiert und gesichert werden, es soll sich aber im Zusammenhang mit der Verkürzung einer Rumpfseite in einer physiologisch richtigen Weise aus der definierten Ausgangsstellung bewegen lassen und danach mit Unterstützung einer rückführenden Kraft wieder in die Ausgangsstellung zurückgebracht werden. Die Symmetrie des oberen Rumpfabschnitts soll durch seitliche Unterstützungsflächen gesichert werden. Die Bewegungsmöglichkeit des Beckens soll so gestaltet werden, dass der obere Rumpfabschnitt in aufgerichteter Position verbleiben kann (Abb. 6).
Umsetzung und Wirkung
Technische Umsetzung: Die bestehende Sitzform wurde auf ihrer Unterseite zu einer abgerundeten, leicht gleitenden Fläche umgebaut, die schwimmend auf einer passend geformten Fläche mit wenig Haftreibung liegt, die ihrerseits auf dem Rollstuhlrahmen fixiert ist. Die schwimmende Sitzform wird durch elastische Bänder in Position gehalten, Kraftrichtung und Kraftstärke der elastischen Bänder können eingestellt werden. Die unmittelbare Wirkung des Konzepts ist eindrucksvoll: Der Junge kann wieder längere Zeit in der Sitzunterstützung sitzen, ist entspannt und hat die Angst vor der Sitzunterstützung verloren. Die einschießende Spastik tritt deutlich seltener auf und ist in ihrer Intensität geringer.
Die Möglichkeit zu haben, mit dem Becken seitlich zugunsten der Verkürzung einer Rumpfseite auszuweichen, scheint den Jungen zu beruhigen und führt dazu, dass die Ausweich- und Rückführungsfunktion der Sitzunterstützung nur in sehr geringem Umfang beansprucht wird und sie letztlich deutlich weniger leisten muss als angenommen. Auch diese Konzeptidee hat sich über den Zeitraum mehrerer Jahre bewährt.
3. Fallbeispiel: Sicherung der Ausgangsstellung des Beckens
Problembeschreibung
Oft haben Menschen mit einer Schwäche der Rumpfhaltung gleichzeitig eine ausgeprägte Extensionsspastik: Die Hüftstreckung führt dazu, dass sich das Becken nach Abklingen der Spastik in einer Position weiter vorne befindet und nach dorsal kippt. Trotz des Einsatzes eines gut passenden und in anderen Fällen gut wirksamen Beckengurts konnte das Vorrutschen des Beckens des Jugendlichen im dargestellten Beispiel nicht verhindert werden. Er zeigte eine stark kyphosierte Rumpfhaltung und einen hängenden Kopf bei nicht unterstützter Beckenkippung nach hinten. Bei unterstützt aufgerichtetem Becken war dagegen eine adäquate Rumpfund Kopfhaltung möglich. Alle Versuche, die Ausgangsstellung des Beckens mit Beckengurten und Beckenspangen über die spastischen Phasen hinweg zu erhalten, scheiterten. Spreizhosen führten zu Gefühlsverlust im Bereich der inneren Oberschenkel und der Genitalien und wurden nicht akzeptiert (Abb. 7).
Konzeptidee
Bei der Beratung stellte sich folgende Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Ausgangsstellung des Beckens zu sichern, die bei einer Streckspastik die Hüftstreckung in definiertem Umfang zulässt und danach das Becken wieder in die sinnvolle Ausgangsstellung zurückführt? Außerdem sollen die Beine weiterhin individuell bewegt werden können (vor allem Hüftflexion, Abduktion, Adduktion, Knieextension und ‑flexion). Die Konzeptidee: Die Unterstützungsfläche für die Oberschenkel soll zweigeteilt werden und so beweglich sein, dass die Hüftgelenke im Sinne von Abduktion, Adduktion und Flexion weitgehend frei beweglich bleiben. Die Unterstützungsflächen sollen im Bereich der Kniebeuge ca. 90° gebogen und ca. zwei Drittel entlang der Waden geführt werden. Die Verlängerung über die Waden ermöglicht es, die Beine über die vorderen Oberschenkel bzw. die oberen Unterschenkel mit Bändern so zu sichern, dass das Becken bei jeglicher Bewegung der Beine in der Ausgangsstellung verbleibt oder nach Hüftextension wieder in die definierte Ausgangsstellung zurückgleitet. Hüftextension wird ermöglicht durch den Verzicht auf enge Beckengurte oder ‑spangen. Der Gurt über das Becken erfüllt allein den Zweck eines Sicherheitsgurts, begrenzt das Ausmaß der Streckung und verhindert dadurch die Verlagerung des Schwerpunkts zu weit nach vorne (Abb. 8).
Umsetzung und Wirkung
Bei der technischen Umsetzung handelt es sich bereits um die weiterentwickelte dritte Version dieser Konzeptidee zur Sicherung der Ausgangsstellung des Beckens. Die Montage der Unterstützungsflächen für die beiden Beine erfolgt als Drehgelenk mit der vertikalen Rotationsachse möglichst genau unterhalb des jeweiligen Hüftgelenks. Die Drehgelenke der beiden Unterstützungsflächen ermöglichen dem Hüftgelenk Abduktion und Adduktion; die Materialbeschaffenheit der Unterstützungsflächen (im Beispiel Polypropylen-Platten mit 6 mm Stärke) ermöglichen dem Hüftgelenk Flexion, Innen- und Außenrotation, dem Kniegelenk Flexion und Extension. Die Polsterung wird direkt auf die individuell beweglichen Unterstützungsplatten aufgebracht (Abb. 9). Dieser Lösungsansatz ist mittlerweile bei unterschiedlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Sicherung der Ausgangsstellung des Beckens erfolgreich im Einsatz.
4. Fallbeispiel: Kopfunterstützung bei sehr schwacher Kopfkontrolle
Problembeschreibung
Ein Mädchen mit außerordentlich schwachem Haltungshintergrund infolge einer ausgeprägten generellen Hypotonie kann nur mit starker Neigung der gesamten Sitzeinheit recht passiv gelagert werden. Durch seitliche Unterstützung und 4‑Punkt-Gurt kann der Rumpf auch bei mehr Aufrichtung zwar gehalten werden, der Kopf fällt dann aber unkontrolliert nach vorne und kann selbstständig nicht aufgerichtet werden. Der Einsatz einer Halskrause scheidet aus, weil sie die Beweglichkeit des Kopfs zu stark einschränkt und vom Mädchen abgelehnt wird. Der Einsatz einer seitlich und frontal unterstützenden Kopfstütze mit Referenzpunkt Rollstuhlrahmen scheidet ebenfalls aus, weil dadurch die Bewegung des Kopfs eingeschränkt wird und die HWS zu Extension/Translation nach anterior tendiert (Abb. 10).
Konzeptidee
Das Konzept besteht in einer relativ dynamischen Stützung des Kopfes mit auf der Schulter aufgelegter Unterstützung Die unterstützende Form stützt den Kopf entlang der Linie laterales Os occipitale – laterales Os temporale – laterale Mandibula, ohne die Beweglichkeit des Kiefergelenks zu beeinträchtigen. Dorsal wird die Unterstützungsform mit der Kopfstütze (eventuell elastisch) verbunden, ventral mit gekreuzter Verbindung zu den Sicherheits- oder Beckengurten. Durch „Aufklappen“ der Unterstützung gelingt auch das An- und Ausziehen der Unterstützung einfach und zuverlässig (Abb. 11).
Umsetzung und Wirkung
Die Unterstützungsform ist aus Plastazote geformt und im Nackenbereich mit einer starren Metallleiste, in den Schenkeln mit formbarem Aluminiumblech verstärkt. Die Aluminiumschenkel sind mit der Metallleiste per Gelenk verbunden, damit die Unterstützungsform für den Transfer auseinandergeklappt werden kann. An der Metallleiste im Nackenbereich und an den Schenkelenden sind Gurtbänder angebracht, die die richtige Position und Wirkung der Unterstützungsform sicherstellen sollen. Da diese Kopfunterstützung auf der Schulter aufliegt und ihre Position durch die Verbindung zur Kopfstütze und gekreuzt zu Sicherheits- oder Beckengurten erhalten bleibt, wird eine interessengesteuerte Kopfbewegung, vor allem eine Rotation, bei gut aufgerichtetem Kopf ermöglicht. Das Mädchen kann mit deutlich weniger Neigung der gesamten Sitzeinheit aufgerichteter sitzen und hat so bessere Voraussetzungen für Aktivität und Kommunikation. Die Kopfhaltung ist auch für den Schluckvorgang günstiger (Abb. 12).
Bei einem älteren Mädchen mit ähnlicher Fragestellung können Bauweise und Wirkung einer solchen Kopfunterstützung noch deutlicher dargestellt werden: Bei diesem Mädchen wurden verschiedene Halskrausen erprobt, die aber nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führten. Die rasselnden Atemgeräusche blieben bestehen, die Beweglichkeit des Kopfes war stark eingeschränkt, im Anschluss an epileptische Krampfanfälle kam es zu einer ungünstigen Kopfhaltung. Mit der neuen Kopfunterstützung, die sich aktuell in der Testphase befindet, sind die Ergebnisse nach den ersten Wochen positiv: Die Patientin kann über längere Zeit getragen werden, es ist mehr Aufrichtung möglich, es gibt deutlich weniger rasselnde Atemgeräusche und ein erfolgreicheres Aushusten. Das Mädchen ist entspannt, es entstehen keine Nachteile während epileptischer Krampfanfälle, die adäquate Kopfhaltung bleibt über Krampfanfälle hinweg bestehen oder wird automatisch wieder eingenommen (Abb. 13).
Fazit
Wie aufgezeigt wurde, lohnt es sich, ein grundsätzliches Verständnis der Probleme im Zusammenhang mit der Sitzhaltung anzustreben. Dabei sollte die Notwendigkeit von Haltungsvariationen in Sitzunterstützungen anerkannt und die Möglichkeiten zur Abweichung von definierten Ausgangsstellungen berücksichtigt, eingeplant und in einem definierten Rahmen zugelassen werden. Es ist auch möglich, sogenannte pathologische Bewegungsmuster in einem umschriebenen Rahmen zuzulassen und besonders bei Spastik den erschöpfenden Kampf gegen rigide Begrenzungen zu vermeiden oder zu reduzieren. Die Resultate dieser Bestrebungen sind ermutigend und spornen zur Anwendung und Weiterentwicklung an.
Der Autor:
Urs Bächli
Ergotherapeut FH,
MSc Neuroorthopädie –
Disability Management
Wolfganghof 7a
CH-9014 St. Gallen
Schweiz
urs.baechli@bluewin.ch
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Bächli U. Organisation von Sitzunterstützung – neue Ideen mit mehr Bewegung. Orthopädie Technik, 2017; 68 (10): 36–41
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