Die Stärke liegt in der Heterogenität der Gruppe: Unterschiedliche Lähmungsformen oder Einschränkungen, individuelle Lebensgeschichten und Erfahrungen sowie ihre jeweiligen Spezialthemen prädestinieren die Coaches dafür, breitgefächerte Frage- und Problemstellungen von Rollstuhlfahrer:innen in ihren Videoposts aufzugreifen.
Und so unterschiedlich sie sind, es eint die zehn Rollstuhlfahrer:innen eine gemeinsame Mission: als Ratgeber:innen im Rollstuhl andere Menschen mit authentischen Informationen, Berichten und Testvideos zu inspirieren, um mit diesen Lebenshinweisen das Leben ihrer Follower:innen zu verbessern. Dabei versteht sich die herstellerunabhängige Plattform nicht als klassischer Newsticker oder reines Informationsportal, „alles ist gewürzt mit Inspiration, Entertainment, schönen Videos, persönlichen Berichten“, erklärt Innovationsberater Danny Locher von der Orange Hills GmbH, die als Unternehmensberatung die Guides unterstützt und die Plattform verantwortet.
„Diese ist aus der Community heraus entstanden und wurde im September 2020 unter der Regie eines Herstellers gegründet und begleitet, bis die Guides zur Jahreswende 2021/2022 selbst die Plattform übernommen haben. Sie sind für die thematische Ausgestaltung und alles, was auf der Plattform passiert, selbstverantwortlich“, sagt Danny Locher, der die zentrale Organisation und Gestaltung der Plattform übernommen hat.
Hilfestellungen und Motivationsschub
Das Themenspektrum reicht von Tipps zur Ernährung, für Eltern im Rollstuhl, für den Festivalbesuch oder die ersten Tage im Krankenhaus über Tutorials zu Sportmöglichkeiten und Reisen bis hin zur Vorstellung von Equipment und Hilfsmitteln wie Zugmaschinen und Techniken wie beispielsweise „Selbst Aufhelfen nach einem Sturz“ oder „Meine Stuhl-Stuhl-Transfer-Technik“. Auch die Scheu vor „Tabu-Themen“ wie Inkontinenz zu nehmen, liegt den Coaches am Herzen. „Wir zeigen aus unserem Leben, wie wir Sachen machen, weil wir wissen, wie die Situation ist“, sagt Moritz Brückner, der seit einem Surfunfall vor drei Jahren Tetraplegiker ist. „Es ist die Authentizität der Berichte, die den großen Unterschied macht“, unterstreicht Danny Locher das Charakteristikum der Plattform.
„Meine Motivation ist es Leuten zu helfen, weil ich weiß, wie das ist, wenn man innerhalb einer Sekunde in ein komplett neues Leben geschmissen wird“, sagt der 23-jährige Moritz Brückner, der außerhalb der Plattform als Vortragsredner arbeitet und zudem studiert. „Man hat Schwierigkeiten mit ganz vielen Themen, die auf einmal zu managen sind.“ Aber nicht nur mit Hilfestellungen wollen die Guides digital an der Seite der Frisch- und Altverletzten stehen, sondern sie verstehen ihre Videos auch als Motivationsschub: „Wenn er es kann, dann schaffe ich das vielleicht auch.“
Die Zielgruppe ist für Moritz Brückner trotzdem nicht zu definieren: „Jeder profitiert von Guidzter: Frischverletzte lernen alles von vorne, Altverletzte können Optimierungspotenzial und immer neue Themen entdecken, Orthopädietechniker und Therapeuten haben einen Mehrwert, weil sie genauer wissen, wie wir Patienten funktionieren und wo Schwierigkeiten sind.“ Aber auch für Eltern, Freunde und Interessierte habe die Plattform einen Benefit. Es könnten Berührungsängste abgebaut werden – „das ist für den Inklusionsfaktor ein riesengroßer Vorteil“.
Und knapp 40 Prozent der registrierten Mitglieder auf der Plattform seien keine Rollstuhlfahrer:innen. Rund 2.500 Registrierungen (Stand: Anfang August 2022) im deutschsprachigen Raum verzeichne die Plattform, sprich diejenigen Besucher:innen, die nach einer kostenfreien Anmeldung Zusatzfunktionen nutzen: Zugang zu allen Videos und die Nutzung der Kommentar-/Chatfunktion sowie die Möglichkeit, mit den Guides individuelle 20- bis 30-minütige Calls zu vereinbaren. Für das Team der Guides habe die Registrierung den Vorteil, besser zu verstehen, mit wem sie interagieren, um die Beiträge und Videos gezielter an den Interessensgebieten auszurichten. „Durch die freigeschalteten Videos ist die Zahl der Views aber deutlich höher, Gleiches gilt für die Zahl der Besucher auf der Website pro Monat“, ergänzt Danny Locher. „Wir wachsen ganz ordentlich pro Monat.“
Mit Flyern in Sanitätshäusern vertreten
Ihren wachsenden Bekanntheitsgrad hat die Plattform in erster Linie den Social-Media-Aktivitäten ihrer Guides zu verdanken, die beispielsweise auf ihren Instagram-Profilen kleine Trailer ihrer Videos posten. Aber auch in Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Werkstätten sowie in manchen Kliniken liegen Flyer und Plakate aus. Nicht zuletzt auf der Rehab, auf der die Guides im Juni den ersten Schritt von den digitalen Medien in die dreidimensionale Ebene unternahmen, rückte „Guidzter“ ins Bewusstsein der Community. Im Rahmen seiner Kooperation mit der Fachmesse in Karlsruhe hatte das Guidzter-Team an seinem Stand einen Raum für Austausch geschaffen – angereichert durch Kurzvorträge mit Anregungen für Fragen und Antworten sowie Zeitslots für Communitytreffen.
Aktuell sind keine weiteren Messekooperationen geplant. „Wir sind ein relativ kleines Team mit starkem Digitalfokus, regional weit verteilt, was ich durchaus als eine Stärke empfinde“, sagt Danny Locher. Dadurch werde jedoch eine Beteiligung auf einer großen Messe für das Team zu einem kleinen Kraftakt. „Große Messen werden es sicherlich sehr wenige bleiben“, doch angedacht sei es, in Zukunft vielleicht häufiger Hausmessen in den Regionen zu besuchen, in denen die Guides vertreten sind. „Das ist für uns interessant, weil wir gezielt in die Breite der Community kommen.“
Und zu denjenigen, die die Plattform bereits für sich entdeckt haben, gehört auch „ein guter Anteil an Profis“, allen voran Therapeut:innen – das habe das Feedback auf der Rehab gezeigt. Gerade für Physio- und Ergotherapeut:innen, die als Erstes mit Frischverletzten arbeiten, habe es einen „Mehrwert, wenn sie von Grund auf wissen, was wir können und was wir nicht können, welche Formen von Querschnitten, welche gesundheitlichen Einschränkungen es gibt. Andernfalls hat man manche Problematiken gar nicht auf dem Schirm“, sagt Moritz Brückner. „Wir haben auch schon Kooperationen mit Ausbildungsstätten für Ergotherapeuten gehabt, wo wir zu einer Vorlesung eingeladen waren zum Thema: Wie ist unser Leben im Rollstuhl? Was ist zu beachten?“, ergänzt Matthias Fuchs, der in Vollzeit als Ingenieur in der Automobilindustrie arbeitet.
Ihm ist es auch ein Anliegen, Patient:innen und Versorger über das Spektrum extravaganterer Möglichkeiten zu informieren, wie beispielsweise die elektrofunktionale Orthese, die über Elektroimpulse und Beschleunigungssensoren lange Zeit seinen Fußheber angesteuert hat. „Gerade für Menschen, die MS haben, sind solche Hilfsmittel nützlich, bevor sie später im Rollstuhl sitzen“, sensibilisiert er dafür, alle Versorgungsformen auszuloten.
Fehlversorgungen vorbeugen
Auch Fehlversorgungen seien ein großes Thema. „Häufig hört man die Aussage: Wenn ich das gewusst hätte, als ich meinen Rollstuhl bekommen habe, dann hätte ich das ganz anders gemacht“, schildert Matthias Fuchs. Ihm und seinen Mitstreiter:innen ist es daher wichtig, Patient:innen im Vorhinein über die Möglichkeiten zu informieren und darauf hinzuweisen, was zu beachten ist. Ein Frischverletzter könne dies in seiner Situation oft nicht einschätzen. „Wenn man erst im Rollstuhl sitzt, bekommt man von der Krankenkasse nicht so schnell einen neuen“, warnt Fuchs. „Wir wollen nicht nur die Techniker aufmerksam machen, sondern auch die Patienten wachrütteln, dass sie ihr eigener Anwalt sind und den Mund aufmachen müssen, wenn sie nicht zurechtkommen.“
Auch für manches Start-up könnten die Videos eine Fundgrube sein: „In der Rubrik Querschnitt oder generell Rollstuhlfahren, wo man keine Nano-Technologie braucht, gibt es noch sehr viel zu entwickeln – ganz einfache Dinge“, weiß Moritz Brückner aus eigener Tüftlererfahrung. „Eines der größten Probleme bei mir gerade, für das ich keine Lösung habe: Wenn mir im Stuhl bei Transferen die Hose rutscht, kriege ich sie nicht mehr selbst hochgezogen. Ich kann die Hose nicht greifen. Also Motivation für Start-ups: Hosenhochzieher“, sagt der 23-Jährige lachend, für den Hosenträger wegen der Dekubiti keine Option sind.
Wachstum fest im Blick
Weiterentwicklung steht auch bei dem „Guidzter“-Team auf der Agenda. „Wir wollen auf Seiten der Guides wachsen, weil jeder sein Herzensthema mitbringt und in seinem Herzensthema authentisch ist. Unsere Zukunftsvision ist es, auf der Plattform thematisch über die Guides zu wachsen“, blickt Danny Locher nach vorn. „Wir sind ja eine Rollstuhlplattform und beispielsweise keine Querschnittplattform“, ergänzt Moritz Brückner, der sich wünscht, dass es künftig Videos zu jeder Form von Behinderung im Rollstuhl gibt sowie für jede Altersform, für jede Bruchhöhe, die speziell ist. „Mein persönliches Ziel wäre es, irgendwann Guidzter so voll zu haben, dass es wie eine Bibliothek ist“, sagt der aktive Tetra, der als Mitglied des Recruitement-Teams für die Erweiterung des Guide-Teams zuständig ist. Er freut sich daher über neue Coaches, die die Lücken ausfüllen, die die Plattform bisher noch nicht bedient. „Wenn ich ein spezielles Problem habe, finde ich ein Video dazu und wenn mich ein Fahrgerät interessiert, finde ich einen Test“, so die Zukunftsmusik.
Bereits jetzt ist auf der Plattform ein Rollstuhltest integriert, in dem 32 Versorgungen von sechs Herstellern vorgestellt und verglichen werden. Ausgebaut werden soll der Bereich der Videos, in denen Equipment durch die Guides vorgestellt und getestet wird. „Die Plattform wird werbefrei bleiben“, betont Danny Locher. „Es ist eine Plattform, auf der herstellerunabhängig berichtet werden kann, soll und muss.“ Geplant seien jedoch Kooperationsvideos, in denen gemeinsam mit einem Hersteller beispielsweise Zuggeräte vorgestellt werden. „In diesen Videos werden die Guides bestimmte Dinge auf Herz und Nieren überprüfen und ihre authentische Meinung dazu abgeben.“
„Es gibt noch viel zu tun, noch viel aufzuklären“, sagt Moritz Brückner. Sein Wunsch: „Dass wir es irgendwann geschafft haben, Leuten Unsicherheit zu nehmen, sei es bei Gegenständen, bei Themen wie Inkontinenz, bei anderen Problemen im Alltag. Dass sie durch die Videos sehr viel lernen und somit sehr viel selbstständiger werden und erfahren, dass sie einen schönen Alltag, ein schönes Leben haben können. Am coolsten wäre es, wenn jeder Rollstuhlfahrer oder jeder, den es interessiert, schon von Guidzter gehört hätte.“
Wer Interesse hat, selbst Guide zu werden, kann sich beim Recruitement-Team unter kontakt@guidzter.com melden. Gleiches gilt für Sanitätshäuser, die Flyer für ihre Patient:innen auslegen möchten. Weitere Informationen gibt es auf der Website und über den Instagram-Account „@guidzter“.
Jana Sudhoff
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