„Guidz­ter“: Rollstuhlfahrer:innen infor­mie­ren und inspirieren

„Wenn wir nur ein Mal verhindern können, dass jemand die gleiche schlechte Erfahrung macht, dann haben wir schon sehr viel gewonnen. Dann haben wir das Leben von einem Menschen schon verbessert“, bringt Matthias Fuchs seine Motivation auf den Punkt, seinen Alltag im Rollstuhl mithilfe selbstgedrehter Videos zu teilen. Der 46-Jährige, der wegen einer Autoimmunerkrankung im Rollstuhl sitzt, ist einer von zehn Guides der Onlineplattform „Guidzter“ – ein „Rollstuhlnetzwerk für jede Lebenssituation“.

Die Stär­ke liegt in der Hete­ro­ge­ni­tät der Grup­pe: Unter­schied­li­che Läh­mungs­for­men oder Ein­schrän­kun­gen, indi­vi­du­el­le Lebens­ge­schich­ten und Erfah­run­gen sowie ihre jewei­li­gen Spe­zi­al­the­men prä­de­sti­nie­ren die Coa­ches dafür, breit­ge­fä­cher­te Fra­ge- und Pro­blem­stel­lun­gen von Rollstuhlfahrer:innen in ihren Video­posts aufzugreifen.

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Und so unter­schied­lich sie sind, es eint die zehn Rollstuhlfahrer:innen eine gemein­sa­me Mis­si­on: als Ratgeber:innen im Roll­stuhl ande­re Men­schen mit authen­ti­schen Infor­ma­tio­nen, Berich­ten und Test­vi­de­os zu inspi­rie­ren, um mit die­sen Lebens­hin­wei­sen das Leben ihrer Follower:innen zu ver­bes­sern. Dabei ver­steht sich die her­stel­ler­un­ab­hän­gi­ge Platt­form nicht als klas­si­scher News­ti­cker oder rei­nes Infor­ma­ti­ons­por­tal, „alles ist gewürzt mit Inspi­ra­ti­on, Enter­tain­ment, schö­nen Vide­os, per­sön­li­chen Berich­ten“, erklärt Inno­va­ti­ons­be­ra­ter Dan­ny Locher von der Oran­ge Hills GmbH, die als Unter­neh­mens­be­ra­tung die Gui­des unter­stützt und die Platt­form verantwortet.

„Die­se ist aus der Com­mu­ni­ty her­aus ent­stan­den und wur­de im Sep­tem­ber 2020 unter der Regie eines Her­stel­lers gegrün­det und beglei­tet, bis die Gui­des zur Jah­res­wen­de 2021/2022 selbst die Platt­form über­nom­men haben. Sie sind für die the­ma­ti­sche Aus­ge­stal­tung und alles, was auf der Platt­form pas­siert, selbst­ver­ant­wort­lich“, sagt Dan­ny Locher, der die zen­tra­le Orga­ni­sa­ti­on und Gestal­tung der Platt­form über­nom­men hat.

Hil­fe­stel­lun­gen und Motivationsschub

Das The­men­spek­trum reicht von Tipps zur Ernäh­rung, für Eltern im Roll­stuhl, für den Fes­ti­val­be­such oder die ers­ten Tage im Kran­ken­haus über Tuto­ri­als zu Sport­mög­lich­kei­ten und Rei­sen bis hin zur Vor­stel­lung von Equip­ment und Hilfs­mit­teln wie Zug­ma­schi­nen und Tech­ni­ken wie bei­spiels­wei­se „Selbst Auf­hel­fen nach einem Sturz“ oder „Mei­ne Stuhl-Stuhl-Trans­fer-Tech­nik“. Auch die Scheu vor „Tabu-The­men“ wie Inkon­ti­nenz zu neh­men, liegt den Coa­ches am Her­zen. „Wir zei­gen aus unse­rem Leben, wie wir Sachen machen, weil wir wis­sen, wie die Situa­ti­on ist“, sagt Moritz Brück­ner, der seit einem Surf­un­fall vor drei Jah­ren Tetra­ple­gi­ker ist. „Es ist die Authen­ti­zi­tät der Berich­te, die den gro­ßen Unter­schied macht“, unter­streicht Dan­ny Locher das Cha­rak­te­ris­ti­kum der Plattform.

„Mei­ne Moti­va­ti­on ist es Leu­ten zu hel­fen, weil ich weiß, wie das ist, wenn man inner­halb einer Sekun­de in ein kom­plett neu­es Leben geschmis­sen wird“, sagt der 23-jäh­ri­ge Moritz Brück­ner, der außer­halb der Platt­form als Vor­trags­red­ner arbei­tet und zudem stu­diert. „Man hat Schwie­rig­kei­ten mit ganz vie­len The­men, die auf ein­mal zu mana­gen sind.“ Aber nicht nur mit Hil­fe­stel­lun­gen wol­len die Gui­des digi­tal an der Sei­te der Frisch- und Alt­ver­letz­ten ste­hen, son­dern sie ver­ste­hen ihre Vide­os auch als Moti­va­ti­ons­schub: „Wenn er es kann, dann schaf­fe ich das viel­leicht auch.“

Die Ziel­grup­pe ist für Moritz Brück­ner trotz­dem nicht zu defi­nie­ren: „Jeder pro­fi­tiert von Guidz­ter: Frisch­ver­letz­te ler­nen alles von vor­ne, Alt­ver­letz­te kön­nen Opti­mie­rungs­po­ten­zi­al und immer neue The­men ent­de­cken, Ortho­pä­die­tech­ni­ker und The­ra­peu­ten haben einen Mehr­wert, weil sie genau­er wis­sen, wie wir Pati­en­ten funk­tio­nie­ren und wo Schwie­rig­kei­ten sind.“ Aber auch für Eltern, Freun­de und Inter­es­sier­te habe die Platt­form einen Bene­fit. Es könn­ten Berüh­rungs­ängs­te abge­baut wer­den – „das ist für den Inklu­si­ons­fak­tor ein rie­sen­gro­ßer Vorteil“.

Und knapp 40 Pro­zent der regis­trier­ten Mit­glie­der auf der Platt­form sei­en kei­ne Rollstuhlfahrer:innen. Rund 2.500 Regis­trie­run­gen (Stand: Anfang August 2022) im deutsch­spra­chi­gen Raum ver­zeich­ne die Platt­form, sprich die­je­ni­gen Besucher:innen, die nach einer kos­ten­frei­en Anmel­dung Zusatz­funk­tio­nen nut­zen: Zugang zu allen Vide­os und die Nut­zung der Kom­men­tar-/Chat­funk­ti­on sowie die Mög­lich­keit, mit den Gui­des indi­vi­du­el­le 20- bis 30-minü­ti­ge Calls zu ver­ein­ba­ren. Für das Team der Gui­des habe die Regis­trie­rung den Vor­teil, bes­ser zu ver­ste­hen, mit wem sie inter­agie­ren, um die Bei­trä­ge und Vide­os geziel­ter an den Inter­es­sens­ge­bie­ten aus­zu­rich­ten. „Durch die frei­ge­schal­te­ten Vide­os ist die Zahl der Views aber deut­lich höher, Glei­ches gilt für die Zahl der Besu­cher auf der Web­site pro Monat“, ergänzt Dan­ny Locher. „Wir wach­sen ganz ordent­lich pro Monat.“

Mit Fly­ern in Sani­täts­häu­sern vertreten

Ihren wach­sen­den Bekannt­heits­grad hat die Platt­form in ers­ter Linie den Social-Media-Akti­vi­tä­ten ihrer Gui­des zu ver­dan­ken, die bei­spiels­wei­se auf ihren Insta­gram-Pro­fi­len klei­ne Trai­ler ihrer Vide­os pos­ten. Aber auch in Sani­täts­häu­sern und ortho­pä­die­tech­ni­schen Werk­stät­ten sowie in man­chen Kli­ni­ken lie­gen Fly­er und Pla­ka­te aus. Nicht zuletzt auf der Rehab, auf der die Gui­des im Juni den ers­ten Schritt von den digi­ta­len Medi­en in die drei­di­men­sio­na­le Ebe­ne unter­nah­men, rück­te „Guidz­ter“ ins Bewusst­sein der Com­mu­ni­ty. Im Rah­men sei­ner Koope­ra­ti­on mit der Fach­mes­se in Karls­ru­he hat­te das Guidz­ter-Team an sei­nem Stand einen Raum für Aus­tausch geschaf­fen – ange­rei­chert durch Kurz­vor­trä­ge mit Anre­gun­gen für Fra­gen und Ant­wor­ten sowie Zeit­slots für Communitytreffen.

Aktu­ell sind kei­ne wei­te­ren Mes­se­ko­ope­ra­tio­nen geplant. „Wir sind ein rela­tiv klei­nes Team mit star­kem Digi­tal­fo­kus, regio­nal weit ver­teilt, was ich durch­aus als eine Stär­ke emp­fin­de“, sagt Dan­ny Locher. Dadurch wer­de jedoch eine Betei­li­gung auf einer gro­ßen Mes­se für das Team zu einem klei­nen Kraft­akt. „Gro­ße Mes­sen wer­den es sicher­lich sehr weni­ge blei­ben“, doch ange­dacht sei es, in Zukunft viel­leicht häu­fi­ger Haus­mes­sen in den Regio­nen zu besu­chen, in denen die Gui­des ver­tre­ten sind. „Das ist für uns inter­es­sant, weil wir gezielt in die Brei­te der Com­mu­ni­ty kommen.“

Und zu den­je­ni­gen, die die Platt­form bereits für sich ent­deckt haben, gehört auch „ein guter Anteil an Pro­fis“, allen vor­an Therapeut:innen – das habe das Feed­back auf der Rehab gezeigt. Gera­de für Phy­sio- und Ergotherapeut:innen, die als Ers­tes mit Frisch­ver­letz­ten arbei­ten, habe es einen „Mehr­wert, wenn sie von Grund auf wis­sen, was wir kön­nen und was wir nicht kön­nen, wel­che For­men von Quer­schnit­ten, wel­che gesund­heit­li­chen Ein­schrän­kun­gen es gibt. Andern­falls hat man man­che Pro­ble­ma­ti­ken gar nicht auf dem Schirm“, sagt Moritz Brück­ner. „Wir haben auch schon Koope­ra­tio­nen mit Aus­bil­dungs­stät­ten für Ergo­the­ra­peu­ten gehabt, wo wir zu einer Vor­le­sung ein­ge­la­den waren zum The­ma: Wie ist unser Leben im Roll­stuhl? Was ist zu beach­ten?“, ergänzt Mat­thi­as Fuchs, der in Voll­zeit als Inge­nieur in der Auto­mo­bil­in­dus­trie arbeitet.

Ihm ist es auch ein Anlie­gen, Patient:innen und Ver­sor­ger über das Spek­trum extra­va­gan­te­rer Mög­lich­kei­ten zu infor­mie­ren, wie bei­spiels­wei­se die elek­tro­funk­tio­na­le Orthe­se, die über Elek­tro­im­pul­se und Beschleu­ni­gungs­sen­so­ren lan­ge Zeit sei­nen Fuß­he­ber ange­steu­ert hat. „Gera­de für Men­schen, die MS haben, sind sol­che Hilfs­mit­tel nütz­lich, bevor sie spä­ter im Roll­stuhl sit­zen“, sen­si­bi­li­siert er dafür, alle Ver­sor­gungs­for­men auszuloten.

Fehl­ver­sor­gun­gen vorbeugen

Auch Fehl­ver­sor­gun­gen sei­en ein gro­ßes The­ma. „Häu­fig hört man die Aus­sa­ge: Wenn ich das gewusst hät­te, als ich mei­nen Roll­stuhl bekom­men habe, dann hät­te ich das ganz anders gemacht“, schil­dert Mat­thi­as Fuchs. Ihm und sei­nen Mitstreiter:innen ist es daher wich­tig, Patient:innen im Vor­hin­ein über die Mög­lich­kei­ten zu infor­mie­ren und dar­auf hin­zu­wei­sen, was zu beach­ten ist. Ein Frisch­ver­letz­ter kön­ne dies in sei­ner Situa­ti­on oft nicht ein­schät­zen. „Wenn man erst im Roll­stuhl sitzt, bekommt man von der Kran­ken­kas­se nicht so schnell einen neu­en“, warnt Fuchs. „Wir wol­len nicht nur die Tech­ni­ker auf­merk­sam machen, son­dern auch die Pati­en­ten wach­rüt­teln, dass sie ihr eige­ner Anwalt sind und den Mund auf­ma­chen müs­sen, wenn sie nicht zurechtkommen.“

Auch für man­ches Start-up könn­ten die Vide­os eine Fund­gru­be sein: „In der Rubrik Quer­schnitt oder gene­rell Roll­stuhl­fah­ren, wo man kei­ne Nano-Tech­no­lo­gie braucht, gibt es noch sehr viel zu ent­wi­ckeln – ganz ein­fa­che Din­ge“, weiß Moritz Brück­ner aus eige­ner Tüft­ler­er­fah­rung. „Eines der größ­ten Pro­ble­me bei mir gera­de, für das ich kei­ne Lösung habe: Wenn mir im Stuhl bei Trans­fe­ren die Hose rutscht, krie­ge ich sie nicht mehr selbst hoch­ge­zo­gen. Ich kann die Hose nicht grei­fen. Also Moti­va­ti­on für Start-ups: Hosen­hoch­zie­her“, sagt der 23-Jäh­ri­ge lachend, für den Hosen­trä­ger wegen der Deku­bi­ti kei­ne Opti­on sind.

Wachs­tum fest im Blick

Wei­ter­ent­wick­lung steht auch bei dem „Guidzter“-Team auf der Agen­da. „Wir wol­len auf Sei­ten der Gui­des wach­sen, weil jeder sein Her­zens­the­ma mit­bringt und in sei­nem Her­zens­the­ma authen­tisch ist. Unse­re Zukunfts­vi­si­on ist es, auf der Platt­form the­ma­tisch über die Gui­des zu wach­sen“, blickt Dan­ny Locher nach vorn. „Wir sind ja eine Roll­stuhl­platt­form und bei­spiels­wei­se kei­ne Quer­schnitt­platt­form“, ergänzt Moritz Brück­ner, der sich wünscht, dass es künf­tig Vide­os zu jeder Form von Behin­de­rung im Roll­stuhl gibt sowie für jede Alters­form, für jede Bruch­hö­he, die spe­zi­ell ist. „Mein per­sön­li­ches Ziel wäre es, irgend­wann Guidz­ter so voll zu haben, dass es wie eine Biblio­thek ist“, sagt der akti­ve Tetra, der als Mit­glied des Recrui­te­ment-Teams für die Erwei­te­rung des Gui­de-Teams zustän­dig ist. Er freut sich daher über neue Coa­ches, die die Lücken aus­fül­len, die die Platt­form bis­her noch nicht bedient. „Wenn ich ein spe­zi­el­les Pro­blem habe, fin­de ich ein Video dazu und wenn mich ein Fahr­ge­rät inter­es­siert, fin­de ich einen Test“, so die Zukunftsmusik.

Bereits jetzt ist auf der Platt­form ein Roll­stuhl­test inte­griert, in dem 32 Ver­sor­gun­gen von sechs Her­stel­lern vor­ge­stellt und ver­gli­chen wer­den. Aus­ge­baut wer­den soll der Bereich der Vide­os, in denen Equip­ment durch die Gui­des vor­ge­stellt und getes­tet wird. „Die Platt­form wird wer­be­frei blei­ben“, betont Dan­ny Locher. „Es ist eine Platt­form, auf der her­stel­ler­un­ab­hän­gig berich­tet wer­den kann, soll und muss.“ Geplant sei­en jedoch Koope­ra­ti­ons­vi­de­os, in denen gemein­sam mit einem Her­stel­ler bei­spiels­wei­se Zug­ge­rä­te vor­ge­stellt wer­den. „In die­sen Vide­os wer­den die Gui­des bestimm­te Din­ge auf Herz und Nie­ren über­prü­fen und ihre authen­ti­sche Mei­nung dazu abgeben.“

„Es gibt noch viel zu tun, noch viel auf­zu­klä­ren“, sagt Moritz Brück­ner. Sein Wunsch: „Dass wir es irgend­wann geschafft haben, Leu­ten Unsi­cher­heit zu neh­men, sei es bei Gegen­stän­den, bei The­men wie Inkon­ti­nenz, bei ande­ren Pro­ble­men im All­tag. Dass sie durch die Vide­os sehr viel ler­nen und somit sehr viel selbst­stän­di­ger wer­den und erfah­ren, dass sie einen schö­nen All­tag, ein schö­nes Leben haben kön­nen. Am cools­ten wäre es, wenn jeder Roll­stuhl­fah­rer oder jeder, den es inter­es­siert, schon von Guidz­ter gehört hätte.“

Wer Inter­es­se hat, selbst Gui­de zu wer­den, kann sich beim Recrui­te­ment-Team unter kontakt@guidzter.com mel­den. Glei­ches gilt für Sani­täts­häu­ser, die Fly­er für ihre Patient:innen aus­le­gen möch­ten. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen gibt es auf der Web­site und über den Insta­gram-Account „@guidzter“.

Jana Sud­hoff

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