E‑Handbike för­dert Mobi­li­tät und Teilhabe

Viele Radler:innen setzen heute auf ein E-Bike. Eine Technik, von der auch Rollstuhlfahrer:innen profitieren können. Denn Reichweite und Umfang eigenständiger Mobilität sind im Rollstuhl oftmals begrenzt. Um diese zu steigern und so auch Teilhabe zu ermöglichen, hat ein Forschungsteam der Privaten Hochschule Göttingen (PFH) am Hansecampus Stade das Projekt Emob-Reha (Elektromobilität in der Rehabilitationstechnik) ins Leben gerufen. Ergebnis ist ein elektrisch unterstütztes, dreirädriges Handbike. Der Prototyp ist fertig – und an der erweiterten „Weltneuheit“ wird derzeit auf Hochtouren gearbeitet.

Das Inno­va­ti­ons­po­ten­zi­al besteht laut Pro­jekt­lei­ter Prof. Dr.-Ing. Marc Sie­bert dar­in, dass das Hand­bike das gleich­zei­ti­ge Steu­ern und Antrei­ben zulässt sowie neben der elek­tri­schen Unter­stüt­zung auch über einen klei­nen Wen­de­kreis und eine gute Trak­ti­on ver­fügt, sodass auch ein Befah­ren von losem Unter­grund mög­lich ist. Damit wird einer mög­lichst gro­ßen Grup­pe kör­per­lich behin­der­ter Men­schen, Erwach­se­nen und Kin­dern glei­cher­ma­ßen, die Nut­zung eines Hand­bikes ermög­licht. „Das wol­len wir auch unter Anwen­dung einer modu­la­ren Platt­form­stra­te­gie errei­chen, die u. a. dadurch gekenn­zeich­net ist, dass Schnitt­stel­len geschaf­fen wer­den, mit der han­dels­üb­li­che Seri­en­kom­po­nen­ten aus dem Fahr­rad­be­reich ver­wen­det wer­den kön­nen“, sagt Sie­bert. Basie­rend auf einem Basis­rah­men-Kon­zept kön­nen so sowohl ein All­tags-Hand­bike, ähn­lich einem Trek­king- bzw. City­rad, als auch ein High-End-Sport­ge­rät rea­li­siert werden.

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Betei­ligt waren an dem Pro­jekt Stu­die­ren­de des 5. Semes­ters des Bache­lor­stu­di­en­gangs „Verbundwerkstoffe/Composites“, die im Rah­men der Vor­le­sung „Fer­ti­gungs­ver­fah­ren für Faser­ver­bund­struk­tu­ren (FVT)“ ein ver­stell­ba­res Sitz­sys­tem für das Hand­bike ent­wi­ckel­ten. „Das Ziel der Vor­le­sung mit den Pro­jek­ten besteht dar­in, die Stu­die­ren­den den ent­schei­den­den Schritt aus der kon­zep­tio­nel­len Pha­se hin zur rea­len Umset­zung und Fer­ti­gung phy­si­ka­li­scher Pro­to­ty­pen voll­zie­hen zu las­sen“, erläu­tert Sie­bert. Zudem sei es für ihn ein Test gewe­sen, ob Stu­die­ren­de die­ses Semes­ters bereits an For­schungs­pro­jek­ten erfolg­reich mit­ar­bei­ten kön­nen. Und den soll­ten sie bestehen: „Das Ergeb­nis kann sich sehen las­sen, das Sitz­sys­tem wur­de erfolg­reich in Leicht­bau­wei­se umge­setzt und ver­fügt über alle erfor­der­li­chen Ver­stell­be­rei­che zur indi­vi­du­el­len Anpas­sung“, betont Sie­bert. „Für Fünfts­e­mes­ter ist das eine Top-Arbeit“, sagt der Inge­nieur über das mit Mit­teln des Euro­päi­schen Fonds für regio­na­le Ent­wick­lung (EFRE) geför­der­te Pro­jekt, das das Team vom 1. Janu­ar 2020 bis zum 31. Dezem­ber 2021 durchführte.

Lösung für Groß und Klein

Laut Sie­bert sind klas­si­sche Hand­bikes sehr tief, wür­den Rollstuhlfahrer:innen durch auf­wen­di­ges Auf- und Abstei­gen und die not­wen­di­ge Unter­stüt­zung von Begleit­per­so­nen nicht sel­ten die Lust am Fah­ren ver­mie­sen. Ange­bo­te für Kin­der sei­en beson­ders rar. Und selbst Profisportler:innen blieb vor Jah­ren – man­gels elek­tri­schen Antrie­bes – der Wunsch, die Alpen per Hand­bike zu erklim­men ver­wehrt. Beim ent­wi­ckel­ten Hand­bike wür­den die Rollstuhlfahrer:innen von einer weg­schwenk­ba­ren Lenk­säu­le sowie einer leicht erhöh­ten Sitz­po­si­ti­on pro­fi­tie­ren. „Wir kom­men mit einem Rah­men aus“, freut sich Sie­bert zudem über die prak­ti­ka­ble Lösung für Groß und Klein. Durch geschick­tes Aus­nut­zen der Ver­stell­be­rei­che kann das E‑Handbike von Per­so­nen mit einer Kör­per­grö­ße zwi­schen 1,30 und 1,85 Metern genutzt wer­den. Auch für die Kos­ten­trä­ger ein inter­es­san­ter Aspekt, fin­det Sie­bert. „Da das Bike mit­wächst, ist es eine lang­fris­ti­ge Inves­ti­ti­on.“ Eine Fahrt im tie­fen, losen Sand am Strand? Auch das sei dank FAT-Berei­fung kein Pro­blem. Die gute Gelän­de­gän­gig­keit habe sich auch bei Tests auf Gras, Wald­bo­den und stei­len Berg­auf­fahr­ten bestätigt.

Da das Bike das gleich­zei­ti­ge Antrei­ben (Kur­bel­trieb) und Steu­ern (Fahrt­rich­tungs­wech­sel) zulas­sen soll­te, wur­de auf einem zuvor ent­wi­ckel­ten Hand­bike-Ergo­me­ter ermit­telt, wel­cher Schwenk­be­reich der Antriebskur­bel – sub­jek­tiv – noch als ange­nehm bzw. sinn­voll hin­sicht­lich des gleich­zei­ti­gen Antrei­bens und Ein­len­kens emp­fun­den wird. Sie­bert war es wich­tig, den Proband:innen so wenig Ein­wei­sung wie mög­lich zu geben, son­dern sie intui­tiv han­deln zu las­sen. „Ich hat­te mehr zu meckern als die Testfahrer:innen“, gibt er mit einem Augen­zwin­kern zu. Mit dem Ergeb­nis, „einem erträg­lich klei­nen Wen­de­kreis“, sei­en aber schließ­lich alle zufrie­den gewe­sen. Beim Selbst­ver­such stell­te Sie­bert zudem fest: Das Bike kommt an. Nicht nur bei den Nutzer:innen selbst, son­dern auch bei Außen­ste­hen­den. „Wie cool ist das denn?“, hieß es, als er sei­nen Sohn mit dem Bike, inklu­si­ve Moun­tain­bike-Stol­len­rei­fen, von der Schu­le abhol­te. „Nicht nur Men­schen mit Behin­de­run­gen – wir alle kön­nen das Bike nut­zen“, schluss­fol­gert Sie­bert. Ein gro­ßer Schritt Rich­tung Mobi­li­tät, Selbst­stän­dig­keit, Teil­ha­be und Inklusion.

Für Groß und Klein, Jung und Alt, All­tag oder Off­road – Ziel des Pro­jekt­teams war es, eine mög­lichst gro­ße Nut­zer­grup­pe anzu­spre­chen, und das zu einem erschwing­li­chen Preis. Wer mehr will, setzt auf ein High-End-Modell und nimmt zusätz­li­che Optio­nen wie Rei­fen­druck­sen­so­ren und Sturz­sen­so­ren in Anspruch. Ein Radar­sys­tem erkennt Fahr­zeu­ge, die sich nähern. Für Sie­bert nicht nur eine net­te Spie­le­rei, son­dern ein wich­ti­ger Sicher­heits­aspekt für die schnell zu über­se­hen­de „Renn­flun­der“ auf der Stra­ße. Trans­por­tiert wer­den kann das Bike mit­tels eines Anhän­ge­kupp­lungs­trä­gers, so wie es auch für kon­ven­tio­nel­le Fahr­rä­der üblich ist.

Noch han­delt es sich bei dem E‑Handbike um einen Pro­to­typ. Opti­mie­rungs­be­darf sieht Sie­bert bei­spiels­wei­se beim Sitz­sys­tem. Für die bis­lang ver­wen­de­te und selbst ent­wi­ckel­te Seil­zug­len­kung gebe es kei­ne Zuk­auf­lö­sun­gen. Das soll der Umstieg auf eine Zahn­rie­men­len­kung ändern.

Vor­stel­lung auf der Reha­ca­re 2022

Zu sehen sein wird das E‑Handbike auf der Reha­ca­re 2022, die vom 14. bis 17. Sep­tem­ber in Düs­sel­dorf statt­fin­det. Dann – und dar­an arbei­tet das Team der­zeit mit Hoch­druck – soll dem Publi­kum nicht das bestehen­de, son­dern ein opti­mier­tes Modell, eine „Welt­neu­heit“, vor­ge­stellt wer­den: ein Hand­bike mit ket­ten­lo­sem Antrieb.

Das For­schungs­team der PFH strebt die Markt­rei­fe und die Ver­mark­tung des E‑Handbikes an. Der Lie­fe­rant der Basis-Fahr­ge­stel­le habe bereits signa­li­siert koope­rie­ren zu wol­len und die Her­stel­lung spe­zi­el­ler Alu­mi­ni­um­rah­men zu über­neh­men. Die Sani­täts­häu­ser, mit denen wäh­rend des Pro­jekts zusam­men­ge­ar­bei­tet wur­de, zeig­ten eben­falls Inter­es­se, seri­en­rei­fe Hand­bikes, ins­be­son­de­re für Kin­der, in das Pro­dukt­port­fo­lio auf­zu­neh­men. Zusam­men mit dem Zen­trum für Entre­pre­neur­ship der PFH sei über die Mög­lich­keit einer Aus­grün­dung und För­der­mög­lich­kei­ten zur Ver­mark­tung von Hand­bikes gespro­chen worden.

                                                                                                                                     Pia Engelbrecht

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