Nach­ruf auf Dr. Jac­ques Chê­neau: „Einer der größ­ten Meister“

Am 14. Juli 2022 ist Dr. Jacques Chêneau im Alter von 94 Jahren verstorben. Mit der Entwicklung des Chêneau-Korsetts Ende der 1970er-Jahre prägt er die Therapie von Skoliose-Patient:innen bis heute. Seitdem wurde es kontinuierlich – u. a. von Dr. Manuel Rigo (Barcelona) – weiterentwickelt. In einem Nachruf würdigt er die Arbeit seines Mentors.

Jac­ques Chê­neau ist von uns gegan­gen. Die Sko­lio­se-Fami­lie weint und erkennt, wie tief sie in sei­ner Schuld steht. Dies ist ein Nach­ruf, den ich im Namen der vie­len Kol­le­gen schrei­be, die das Pri­vi­leg hat­ten, mit und von ihm zu ler­nen. Ich hat­te wäh­rend einer rela­tiv kur­zen Zeit­span­ne, etwa von 1988 bis 2015, per­sön­li­chen Kon­takt zu ihm. Für einen Mann wie Dr. Chê­neau, der auf ein lan­ges und pro­duk­ti­ves Leben zurück­bli­cken konn­te, ist dies nur ein klei­ner Aus­schnitt, so dass sicher eini­ge sei­ner engs­ten Freun­de die Gele­gen­heit haben wer­den, aus einer per­sön­li­che­ren und pri­va­te­ren Per­spek­ti­ve über sein Leben zu schrei­ben. Ich möch­te hier sei­nen wesent­li­chen Bei­trag zur Ent­wick­lung der nicht­ope­ra­ti­ven Behand­lung der Sko­lio­se her­vor­he­ben. Er muss als einer der größ­ten Meis­ter auf die­sem Gebiet ange­se­hen werden.

Die Kor­sett­ver­sor­gung ist eine weit­hin akzep­tier­te Behand­lung, um das Fort­schrei­ten einer ansons­ten pro­gres­si­ven Sko­lio­se zu ver­hin­dern oder zu begren­zen. Die Evi­denz ist inzwi­schen viel­fach belegt, aber die meis­te Zeit des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, als Dr. Chê­neau sein Kon­zept ent­wi­ckel­te, war die Kor­sett­ver­sor­gung ein umstrit­te­nes The­ma, das von sei­nen Anhän­gern ange­wandt und von sei­nen Geg­nern abge­lehnt wur­de. Wir kön­nen eher von einem Chê­neau-Kor­sett-Kon­zept als von einem Chê­neau-Kor­sett spre­chen. Dr. Chê­neau hat immer erklärt, dass er nicht die Absicht hat­te, ein neu­es Kor­sett im Sin­ne eines ortho­pä­di­schen Pro­dukts zu erfin­den oder zu schaf­fen, son­dern dass es ihm haupt­säch­lich dar­um ging, die bekann­ten Kor­rek­tur­prin­zi­pi­en zur Anwen­dung zu brin­gen, die von den „Meis­tern des Gips­kor­setts“ ver­wen­det wurden.

Von den fünf­zi­ger bis zu den sieb­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts waren in eini­gen euro­päi­schen Län­dern, vor allem in Frank­reich, ver­schie­de­ne Gips­tech­ni­ken beliebt. Zu die­sen Tech­ni­ken gehö­ren der „Elon­ga­ti­on Cast“, der „Mode­ling Cast“, der „post-ope­ra­ti­ve Cast“ und der „Abbot Type/Cotrel’s EDF“, der spä­ter von Stag­na­ra und Jean Clau­de de Mau­roy und in ande­rer Form auch von Per­driol­le und Vidal wei­ter­ent­wi­ckelt wur­de. Das Drei­punkt­sys­tem, das Dero­ta­ti­ons­prin­zip und die Vor­beu­gung gegen den Effekt des Flach­rü­ckens waren wohl­de­fi­nier­te Kor­rek­tur­prin­zi­pi­en, die von den Meis­tern ange­wandt wur­den und die Dr. Chê­neau auch im Vor­wort sei­nes Buches „Cor­set-Chê­neau“ (Édi­ti­ons Fri­son-Roche, 1994) aner­kennt. Er dankt Prof. Gau­bert und zitiert eini­ge sei­ner Lehr­meis­ter, Mat­thi­ass, Cot­rel, Neff, Hei­ne, Duval Beau­pe­re, Fran­ke, Sieg­ling und vie­le ande­re. Er dankt auch den Meis­tern Schaal und Lucas sowie sei­nen Freun­den Heinz Gün­ther Kem­per und Dr. Gud­run Engels. Ich nen­ne sie hier alle, weil ich mir ganz sicher bin, dass dies Dr. Chê­ne­aus Wunsch gewe­sen wäre. So erkann­te er, dass auf die­sem Gebiet bereits alles erfun­den wor­den war, aber er kom­bi­nier­te die ver­schie­de­nen Ideen per­fekt, um die best­mög­li­che Kor­rek­tur zu errei­chen und gleich­zei­tig die Belas­tung für den Pati­en­ten zu ver­rin­gern. Er stell­te fest, dass die Anwen­dung der Kor­rek­tur­gip­se sehr restrik­tiv war und kei­nen Raum für eine kor­rek­te Atem­me­cha­nik und einen dyna­mi­schen Kor­rek­tur­ef­fekt ließ, wel­che poten­zi­ell durch das Wachs­tum und die kör­per­li­che Ent­wick­lung, also letzt­lich zeit­ab­hän­gig, geför­dert wur­den. Ande­rer­seits war die gesam­te Pro­ze­dur des Gip­sens für die Pati­en­ten sehr belas­tend. Um den Stress für den Pati­en­ten zu ver­mei­den, beab­sich­tig­te er daher, die­se bekann­ten Prin­zi­pi­en in eine „bestän­di­ge“ Posi­tiv­form des Pati­en­ten ein­zu­brin­gen, die nach der Kor­rek­tur zur Form­ge­bung einer Plas­tik­scha­le ver­wen­det wer­den konn­te und somit zur Erstel­lung eines hoch indi­vi­du­el­len Kunst­stoff­kor­setts. Aber sein Kor­sett zeich­ne­te sich nicht nur durch hoch­spe­zi­fi­sche Kon­takt­flä­chen aus, die in Form, Ori­en­tie­rung und Höhe kor­rekt gestal­tet wer­den muss­ten, um die best­mög­li­che 3D-Kor­rek­tur zu erzie­len, son­dern er dach­te, inspi­riert von Abbot, auch an die Bereit­stel­lung von Expan­si­ons­räu­men, um die dyna­mi­sche Kor­rek­tur durch die Atem­me­cha­nik sowie durch Wachs­tum und Ent­wick­lung zu erleichtern.

Sein Haupt­bei­trag, zumin­dest aus mei­ner per­sön­li­chen Sicht, war jedoch das sehr cle­ve­re Prin­zip der Umfor­mung des Brust­korbs durch Ver­klei­ne­rung des gro­ßen schrä­gen Brust­korb­durch­mes­sers und Ver­grö­ße­rung des klei­nen, mit der dar­aus fol­gen­den Ver­klei­ne­rung des trans­ver­sa­len und Ver­grö­ße­rung des sagit­ta­len Durch­mes­sers. Es hat sich gezeigt, dass dies, zusam­men mit der Atem­me­cha­nik, ein wirk­sa­mer Mecha­nis­mus ist, um die tho­ra­ka­le Lor­do­sie­rung, den manch­mal unkon­trol­lier­ba­ren Flach­rü­cken zu bekämp­fen. Dies ist kein klei­ner Bei­trag. Das ers­te Kor­sett, das nach die­sen Prin­zi­pi­en her­ge­stellt wur­de, wur­de 1979 von Pro­fes­sor Mat­thi­ass (Müns­ter) unter dem Namen „Chê­neau-Kor­sett“ vor­ge­stellt. Schnell began­nen die fran­zö­si­schen Kol­le­gen es CTM zu nen­nen, von Chê­neau-Tou­lou­se-Müns­ter, was zu eini­ger Ver­wir­rung führ­te. Dr. Chê­neau star­te­te eine gro­ße Anzahl von Kur­sen, in denen sich vie­le Ortho­pä­die­tech­ni­ker schnell mit sei­ner Idee ver­traut mach­ten. So wur­de das Kon­zept vor allem in Deutsch­land, Frank­reich, Öster­reich, der Schweiz, Ita­li­en, Spa­ni­en und ande­ren Län­dern popu­lär, aber auch in Polen, der Ukrai­ne, Russ­land und ande­ren ost­eu­ro­päi­schen Ländern.

Dr. Chê­neau betrach­te­te die­ses Kon­zept jedoch nie als abge­schlos­sen und führ­te stän­dig tech­ni­sche Ände­run­gen ein. Sein Kon­zept wur­de auch kri­ti­siert, vor allem wegen sei­ner Kom­ple­xi­tät und des Man­gels an Stan­dards, aber auch wegen sei­ner asym­me­tri­schen Form­ge­bung und der gro­ßen Frei­räu­me. Vie­le Kol­le­gen wer­den sich an sei­nen Kom­men­tar erin­nern, als man ihm vor­warf, sein Kor­sett sei sehr kom­plex: „Die Kom­ple­xi­tät liegt in der Sko­lio­se, nicht in mei­nem Kor­sett“, pfleg­te er zu sagen. Er war sehr auf­ge­schlos­sen und hör­te all jenen, die gegen sei­ne Ideen dis­ku­tier­ten, aber auch jenen, die mit „neu­en“ Ideen zu sei­nem Kon­zept bei­tra­gen woll­ten, stets mit Respekt und Ruhe zu. Sei­ne Ant­wor­ten waren immer sehr ruhig und ange­mes­sen, wobei er meist unan­ge­neh­me Kon­tro­ver­sen ver­mied, indem er ver­sprach, nach­zu­den­ken und spä­ter zu ant­wor­ten, was er immer mit Klar­heit, Genau­ig­keit und vol­ler erstaun­li­cher Details tat. Auch in die­ser Hin­sicht war er ein Meis­ter. Sei­ne respekt­vol­le und beschei­de­ne Art war bei den Work­shops in Bad-Sobern­heim, die Dr. Hans Rudolf Weiss im letz­ten Jahr­zehnt des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts ver­an­stal­te­te, für jeder­mann sicht­bar. Das Kon­zept ent­wi­ckel­te sich sehr stark als Fol­ge der Dis­kus­sio­nen auf sehr hohem Niveau unter den vie­len Kol­le­gen wei­ter, die an die­sen Work­shops teil­nah­men. Dies war wahr­schein­lich die schöp­fe­rischs­te Peri­ode der Ent­wick­lung, und seit­dem oder dank des­sen wur­de das Kon­zept des Chê­neau-Kor­setts auch auf ande­ren Kon­ti­nen­ten wie Ame­ri­ka, Asi­en und Afri­ka popu­lär. Wäh­rend der letz­ten zwei Jahr­zehn­te war der Name Chê­neau immer prä­sent und sein Kon­zept gilt als eines der ein­fluss­reichs­ten, das nach und nach vie­le ande­re Kor­sett­kon­zep­te in der Welt präg­te. Dies geschah vor allem in der SOSORT (The Inter­na­tio­nal Socie­ty for Sco­lio­sis Ortho­pe­dic and Reha­bi­li­ta­ti­on Tre­at­ment), einer Gesell­schaft, die die Ehre hat­te, ihn zu ihren ange­se­hens­ten Mit­glie­dern zu zäh­len und die ihm den „Life­time SOSORT Hono­ra­ry Mem­ber­ship Pri­ze“ verlieh.

Gute Ideen wer­den sich immer durch­set­zen und das Chê­neau-Kor­sett-Kon­zept wird mit Sicher­heit wei­ter Erfolg haben. Es ist Teil der Geschich­te der Sko­lio­se­be­hand­lung und der Name Chê­neau wird künf­ti­gen Gene­ra­tio­nen in Erin­ne­rung bleiben.

Lie­ber Jac­ques, ruhe in Frieden.

Dr. Manu­el Rigo, Barcelona

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