Jacques Chêneau ist von uns gegangen. Die Skoliose-Familie weint und erkennt, wie tief sie in seiner Schuld steht. Dies ist ein Nachruf, den ich im Namen der vielen Kollegen schreibe, die das Privileg hatten, mit und von ihm zu lernen. Ich hatte während einer relativ kurzen Zeitspanne, etwa von 1988 bis 2015, persönlichen Kontakt zu ihm. Für einen Mann wie Dr. Chêneau, der auf ein langes und produktives Leben zurückblicken konnte, ist dies nur ein kleiner Ausschnitt, so dass sicher einige seiner engsten Freunde die Gelegenheit haben werden, aus einer persönlicheren und privateren Perspektive über sein Leben zu schreiben. Ich möchte hier seinen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der nichtoperativen Behandlung der Skoliose hervorheben. Er muss als einer der größten Meister auf diesem Gebiet angesehen werden.
Die Korsettversorgung ist eine weithin akzeptierte Behandlung, um das Fortschreiten einer ansonsten progressiven Skoliose zu verhindern oder zu begrenzen. Die Evidenz ist inzwischen vielfach belegt, aber die meiste Zeit des vergangenen Jahrhunderts, als Dr. Chêneau sein Konzept entwickelte, war die Korsettversorgung ein umstrittenes Thema, das von seinen Anhängern angewandt und von seinen Gegnern abgelehnt wurde. Wir können eher von einem Chêneau-Korsett-Konzept als von einem Chêneau-Korsett sprechen. Dr. Chêneau hat immer erklärt, dass er nicht die Absicht hatte, ein neues Korsett im Sinne eines orthopädischen Produkts zu erfinden oder zu schaffen, sondern dass es ihm hauptsächlich darum ging, die bekannten Korrekturprinzipien zur Anwendung zu bringen, die von den „Meistern des Gipskorsetts“ verwendet wurden.
Von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren in einigen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich, verschiedene Gipstechniken beliebt. Zu diesen Techniken gehören der „Elongation Cast“, der „Modeling Cast“, der „post-operative Cast“ und der „Abbot Type/Cotrel’s EDF“, der später von Stagnara und Jean Claude de Mauroy und in anderer Form auch von Perdriolle und Vidal weiterentwickelt wurde. Das Dreipunktsystem, das Derotationsprinzip und die Vorbeugung gegen den Effekt des Flachrückens waren wohldefinierte Korrekturprinzipien, die von den Meistern angewandt wurden und die Dr. Chêneau auch im Vorwort seines Buches „Corset-Chêneau“ (Éditions Frison-Roche, 1994) anerkennt. Er dankt Prof. Gaubert und zitiert einige seiner Lehrmeister, Matthiass, Cotrel, Neff, Heine, Duval Beaupere, Franke, Siegling und viele andere. Er dankt auch den Meistern Schaal und Lucas sowie seinen Freunden Heinz Günther Kemper und Dr. Gudrun Engels. Ich nenne sie hier alle, weil ich mir ganz sicher bin, dass dies Dr. Chêneaus Wunsch gewesen wäre. So erkannte er, dass auf diesem Gebiet bereits alles erfunden worden war, aber er kombinierte die verschiedenen Ideen perfekt, um die bestmögliche Korrektur zu erreichen und gleichzeitig die Belastung für den Patienten zu verringern. Er stellte fest, dass die Anwendung der Korrekturgipse sehr restriktiv war und keinen Raum für eine korrekte Atemmechanik und einen dynamischen Korrektureffekt ließ, welche potenziell durch das Wachstum und die körperliche Entwicklung, also letztlich zeitabhängig, gefördert wurden. Andererseits war die gesamte Prozedur des Gipsens für die Patienten sehr belastend. Um den Stress für den Patienten zu vermeiden, beabsichtigte er daher, diese bekannten Prinzipien in eine „beständige“ Positivform des Patienten einzubringen, die nach der Korrektur zur Formgebung einer Plastikschale verwendet werden konnte und somit zur Erstellung eines hoch individuellen Kunststoffkorsetts. Aber sein Korsett zeichnete sich nicht nur durch hochspezifische Kontaktflächen aus, die in Form, Orientierung und Höhe korrekt gestaltet werden mussten, um die bestmögliche 3D-Korrektur zu erzielen, sondern er dachte, inspiriert von Abbot, auch an die Bereitstellung von Expansionsräumen, um die dynamische Korrektur durch die Atemmechanik sowie durch Wachstum und Entwicklung zu erleichtern.
Sein Hauptbeitrag, zumindest aus meiner persönlichen Sicht, war jedoch das sehr clevere Prinzip der Umformung des Brustkorbs durch Verkleinerung des großen schrägen Brustkorbdurchmessers und Vergrößerung des kleinen, mit der daraus folgenden Verkleinerung des transversalen und Vergrößerung des sagittalen Durchmessers. Es hat sich gezeigt, dass dies, zusammen mit der Atemmechanik, ein wirksamer Mechanismus ist, um die thorakale Lordosierung, den manchmal unkontrollierbaren Flachrücken zu bekämpfen. Dies ist kein kleiner Beitrag. Das erste Korsett, das nach diesen Prinzipien hergestellt wurde, wurde 1979 von Professor Matthiass (Münster) unter dem Namen „Chêneau-Korsett“ vorgestellt. Schnell begannen die französischen Kollegen es CTM zu nennen, von Chêneau-Toulouse-Münster, was zu einiger Verwirrung führte. Dr. Chêneau startete eine große Anzahl von Kursen, in denen sich viele Orthopädietechniker schnell mit seiner Idee vertraut machten. So wurde das Konzept vor allem in Deutschland, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Italien, Spanien und anderen Ländern populär, aber auch in Polen, der Ukraine, Russland und anderen osteuropäischen Ländern.
Dr. Chêneau betrachtete dieses Konzept jedoch nie als abgeschlossen und führte ständig technische Änderungen ein. Sein Konzept wurde auch kritisiert, vor allem wegen seiner Komplexität und des Mangels an Standards, aber auch wegen seiner asymmetrischen Formgebung und der großen Freiräume. Viele Kollegen werden sich an seinen Kommentar erinnern, als man ihm vorwarf, sein Korsett sei sehr komplex: „Die Komplexität liegt in der Skoliose, nicht in meinem Korsett“, pflegte er zu sagen. Er war sehr aufgeschlossen und hörte all jenen, die gegen seine Ideen diskutierten, aber auch jenen, die mit „neuen“ Ideen zu seinem Konzept beitragen wollten, stets mit Respekt und Ruhe zu. Seine Antworten waren immer sehr ruhig und angemessen, wobei er meist unangenehme Kontroversen vermied, indem er versprach, nachzudenken und später zu antworten, was er immer mit Klarheit, Genauigkeit und voller erstaunlicher Details tat. Auch in dieser Hinsicht war er ein Meister. Seine respektvolle und bescheidene Art war bei den Workshops in Bad-Sobernheim, die Dr. Hans Rudolf Weiss im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts veranstaltete, für jedermann sichtbar. Das Konzept entwickelte sich sehr stark als Folge der Diskussionen auf sehr hohem Niveau unter den vielen Kollegen weiter, die an diesen Workshops teilnahmen. Dies war wahrscheinlich die schöpferischste Periode der Entwicklung, und seitdem oder dank dessen wurde das Konzept des Chêneau-Korsetts auch auf anderen Kontinenten wie Amerika, Asien und Afrika populär. Während der letzten zwei Jahrzehnte war der Name Chêneau immer präsent und sein Konzept gilt als eines der einflussreichsten, das nach und nach viele andere Korsettkonzepte in der Welt prägte. Dies geschah vor allem in der SOSORT (The International Society for Scoliosis Orthopedic and Rehabilitation Treatment), einer Gesellschaft, die die Ehre hatte, ihn zu ihren angesehensten Mitgliedern zu zählen und die ihm den „Lifetime SOSORT Honorary Membership Prize“ verlieh.
Gute Ideen werden sich immer durchsetzen und das Chêneau-Korsett-Konzept wird mit Sicherheit weiter Erfolg haben. Es ist Teil der Geschichte der Skoliosebehandlung und der Name Chêneau wird künftigen Generationen in Erinnerung bleiben.
Lieber Jacques, ruhe in Frieden.
Dr. Manuel Rigo, Barcelona
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024