Einleitung
Die Zerebralparese (CP) ist mit einer Prävalenz von 1,5–2/1.000 lebendgeborenen Kindern die häufigste Ursache für Bewegungsstörungen im Kindesalter 1. Die Bewegungsstörung entsteht durch eine Fehlfunktion der Bereiche des Gehirns, die Bewegungen kontrollieren. Diese Fehlfunktion entsteht durch eine nicht progrediente Störung, durch Läsion des sich entwickelnden Gehirns – z. B. bei Gehirnfehlbildungen als frühe Anlagestörung (genetische Ursachen sind hiervon nicht immer einfach abzugrenzen) –, durch toxische Einflüsse oder durch eine Sauerstoffmangelsituation mit Zelluntergang (z. B. durch Hypoxie oder Gehirnblutungen) vor, während oder kurz nach der Geburt. Frühgeburtlichkeit stellt nach wie vor den größten Risikofaktor für die Entstehung einer CP dar.
Die Einschränkungen einer Zerebralparese wirken sich je nach dem Ort der Schädigung auf verschiedene Bereiche der Entwicklung aus 2. Jedes Kind zeigt einen spezifischen Entwicklungskorridor 3. Auch wenn die Beeinträchtigungen nicht reversibel sind, lassen sie sich durch therapeutische Maßnahmen positiv beeinflussen, sodass jeder Patient einen individuell abgestimmten und multiprofessionellen Behandlungsplan erhalten muss 4. Zu berücksichtigen sind dabei zum einen die körperlichen Einschränkungen bei Bewegung, Haltung und anderen motorischen Fähigkeiten sowie weitere Funktionen wie Sensibilität, Wahrnehmung, Sehen, Hören, Kognition, Kommunikationsfähigkeit und Nahrungsaufnahme. Verhaltensauffälligkeiten, Epilepsien, sekundäre muskuloskelettale Probleme wie Muskelkontrakturen oder Gelenk- und Wirbelsäulendeformitäten stellen auf Dauer typischerweise weitere Einschränkungen dar. Die genannten Störungen verhindern in den meisten Fällen ein Leben ohne Beeinträchtigung 5.
Die körperlichen Einschränkungen bei der CP zeigen sich meist in Veränderungen des Muskeltonus und der muskulären Koordination. Sie sind an den unteren Extremitäten ausgeprägter als an den oberen. Dadurch wird das Erlernen der Fortbewegung, insbesondere des Gehens, erschwert oder sogar unmöglich gemacht 6. Die betroffenen Kinder lernen Gehen zumindest mit einem veränderten Gangbild und benötigen meist Hilfsmittel. Dadurch bleiben sie in ihrer Mobilität und Selbstständigkeit dauerhaft eingeschränkt 7.
Der Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung bzw. die funktionellen Fähigkeiten eines Kindes mit CP und die Notwendigkeit der Hilfsmittelbenutzung für die Alltagsmobilität (Stöcke, Rollator, Rollstuhl) wird mit dem Gross Motor Function Classification System (GMFCS) beschrieben und in fünf Stufen eingeteilt: Kinder mit GMFCS-Level I erreichen das freie Gehen ohne Gehhilfen; Kinder mit GMFCS-Level V haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, willkürlich ihre Bewegungen zu kontrollieren, und können keine selbstständige Fortbewegung erlernen 8. Anhand einer Entwicklungskurve, die für jeden GMFCS-Level zur Verfügung steht, ist es möglich, das Entwicklungspotenzial eines Kindes mit CP einzuschätzen 9. Die Entwicklungskurven der GMFCS-Level III bis V zeigen außerdem, dass bei Kindern mit CP entsprechender Ausprägung ab der zweiten Hälfte der ersten Lebensdekade eine Tendenz zur Verschlechterung der motorischen Fähigkeiten zu erwarten ist 10. Aus den Entwicklungskurven wurden Therapiekurven entwickelt, die Angehörigen, Ärzten, Therapeuten und Orthopädie-Mechanikern Empfehlungen zur Erstellung individueller Therapiekonzepte geben 11.
Eine geringe Gehfähigkeit ist prädiktiv für wenig Belastbarkeit bei Aktivitäten, Partizipation, sozialen Interaktionen und Integration 12. Da Gehfähigkeit Selbstständigkeit ausdrückt, lautet eines der häufigsten Ziele in der Entwicklungsförderung und der Rehabilitation von Kindern mit CP und ihren Eltern, dass die Gehfähigkeit des Kindes je nach Schweregrad ihrer Erkrankung so gut es geht erlangt und erhalten wird 13.
Bereits Ende der 90er Jahre wurde die konventionelle Laufbandtherapie mit einem von Therapeuten manuell geführten Gehen als erfolgreiche Therapieform bei Kindern mit CP beschrieben 14. Aufgabenspezifisches Üben und die zahlreichen Wiederholungen eines Bewegungsablaufes (Repetition) spielen dabei eine entscheidende Rolle 15 1617.
Robotergestützte Gangtherapie am Beispiel des Gangroboters Lokomat®
Seit 2006 kann die manuelle Führung durch Therapeuten beim Gehen auf dem Laufband durch die robotergestützte Gangorthese „Pediatric Lokomat®“ (Hocoma AG, Volketswil, Schweiz) ersetzt werden (Abb. 1). Das Pediatric-Lokomat®-System besteht aus einem Laufband, einem Gewichtsentlastungssystem und einer elektrisch angetriebenen computergesteuerten Gangorthese (Exoskelett), welche die Beine über ein Manschettensystem (Lokomat® Robotic Gait Orthosis) mit dem Laufband synchronisiert führt. Das Laufband hat eine Tragfähigkeit von 159 kg und kann eine maximale Geschwindigkeit von 3 km/h erreichen. In Tabelle 1 sind Spezifikationen und Anpassungsmöglichkeiten des Lokomaten® und deren therapeutische Einsatzgebiete zusammengefasst.
Da die Füße durch den Lokomaten® nur wenig korrigiert werden können, ist es wichtig, dass der Patient während der Laufbandtherapie angepasste und im Alltag etablierte Einlagen oder knöchelumfassende Orthesen trägt, um eine möglichst physiologische Aufrichtung im Mittelfuß zu erreichen und zu halten. In der entsprechenden Versorgung sollte eine leichte Dorsalextension im Sprunggelenk möglich sein.
Seit Ende 2017 gibt es das sogenannte FreeD-Modul auch für das pädiatrische Modul als Ergänzung zum bisherigen Lokomaten®. Es führt Becken und Oberkörper während der Standbeinphase bis zu 2 cm (Kindermodul) lateral auf das Standbein. Dadurch wirkt das vollständige Gewicht auf das Standbein, und Becken- und Rumpfmuskulatur werden stärker aktiviert. Mit dem FreeD-Modul kann das Gangbild im Lokomaten® noch mehr dem physiologischen Gangbild entsprechen, da es eine Transversalrotation des Beckens zulässt.
Robotergestützte Laufbandtherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital
Am Dr. von Haunerschen Kinderspital wird seit 12 Jahren die robotergestützte Laufbandtherapie mit dem Lokomaten® als dreiwöchiger ambulanter Intensiv-Therapieblock („ROBERT“) praktiziert (mehr als 150 Kinder, über 300 Blöcke). Die Therapie ist eingebettet in eine ambulante Betreuung im iSPZ (integriertes Sozialpädiatrisches Zentrum) am Dr. von Haunerschen Kinderspital. Dort werden Kinder von ihrer Geburt an bis zum Alter von 18 Jahren mit zentralen Bewegungsstörungen multiprofessionell (Arzt, Therapeut, Psychologe, Sozialberatung) und entwicklungsbegleitend behandelt und beraten. Am ROBERT-Programm kann jedes Kind teilnehmen, für welches die Verbesserung der Gehfunktion als therapeutisches Ziel definiert wurde und das ein erfolgreiches Lokomat®-Probetraining absolviert hat.
In den meisten Fällen sind dies Kinder nach dem 4. Geburtstag mit Beeinträchtigung der selbstständigen Gehfähigkeit (GMFCS-Level II, III und IV), da bei diesen Kindern die Verbesserung oder der Erhalt ihrer (Steh- und) Gehfunktion ein wichtiges therapeutisches Ziel darstellt. Der Ablauf des ROBERT-Programms ist in Abbildung 2 dargestellt.
Zur kontinuierlichen Entwicklungsförderung können Patienten im Verlauf mehrere ROBERT-Blöcke absolvieren. Dafür ist ein Intervall von mindestens 6 Monaten zwischen zwei Therapieblöcken realistisch und im Alltag praktikabel. Der gezielte Einsatz eines ROBERT-Programms vor oder nach Operationen (Weichteiloperationen, Umstellungsosteotomien, selektive dorsale Rhizotomie) sowie im Zusammenhang mit einer Botulinumtoxin-Therapie stellen weitere besondere Indikationen dar.
Kontraindikationen sind im Sinne der Medizinproduktezulassung zu berücksichtigen und gehören zu jedem Schulungsvorgang. Die Besonderheiten für Kinder mit CP bedingen allerdings, dass diese im Einzelfall nicht immer berücksichtigt werden können. Für die Therapie mit dem Lokomaten® sind bei Kindern mit zentralen Bewegungsstörungen oft leichte Kontrakturen der unteren Extremitäten zu tolerieren, solange eine gute Positionierung im Exoskelett durch einen erfahrenen Therapeuten kontrolliert und kontinuierlich überwacht werden kann. Ebenso verhält es sich mit Knocheninstabilitäten bzw. Osteoporose, einer kardiovaskulären Insuffizienz, Thromboembolien, chirurgisch bedingten Einschränkungen für volle Körperbelastung und schweren Epilepsien. Das wichtigste Kriterium sollte sein, dass die Kinder in der Lage sein müssen, Schmerzen und Missempfindungen eindeutig zu kommunizieren (gemäß der Pediatric Lokomat® Expert Group 18).
Während der Therapiesession lautet das Ziel, die Kinder mit möglichst vollem Eigengewicht und möglichst wenig Führungskraft gehen zu lassen. Um die Motivation zur aktiven Teilnahme an der Therapie optimal zu fördern, bekommen sie in einer möglichst variantenreichen Therapiesession verschiedene Ganggeschwindigkeiten angeboten, es wird ein möglichst großes Bewegungsausmaß in Hüfte und Knie erarbeitet, und das sogenannte Augmented Performance Feedback System (APF) wird so viel wie möglich eingesetzt.
Zudem wird die Aktivitätsaufmerksamkeit des Kindes über spielerische Elemente wie das Kicken eines Luftballons oder das Übersteigen kleiner, weicher Hindernisse erhöht und möglichst lange erhalten. Die verschiedenen flexibel einsetzbaren Therapieparameter wie Gewichtsentlastung, Führungskraft, Geschwindigkeit und Bewegungsausmaße werden während jeder einzelnen Therapiesession und im dreiwöchigen Therapieverlauf kontinuierlich angepasst und so verändert, dass das Kind die bestmögliche Leistung zeigt.
Empfehlungen zur Implementation der robotergestützten Laufbandtherapie in ein therapeutisches Gesamtkonzept sowie die Besonderheiten eines sinnvollen Einsatzes der verschiedenen aktivitätssteigernden Elemente während der Lokomat®-Therapie wurden von der Pediatric Lokomat® Expert Group publiziert und können bei Aurich-Schuler et al. im Detail nachgelesen werden 19.
Zusammenfassung der Wirksamkeit des ROBERT-Programms
Die Therapie mit dem Lokomaten® im Rahmen des ROBERT-Programms wurde am Dr. von Haunerschen Kinderspital von 2006 bis Ende 2017 mit mehr als 150 Kindern mit CP und insgesamt mehr als 300 ROBERT-Blöcken mit einem „Pediatric Lokomat®“ der ersten Generation durchgeführt. In Tabelle 2 sind die Publikationen aufgeführt, mit denen die Effektivität des ROBERT-Programms sowohl in kontrollierten als auch in nicht kontrollierten Studien belegt werden konnte 20 21 22 23 24 25 26 27.
Die intensive robotergestützte Laufbandtherapie unterstützt Kinder mit CP in der Entwicklung ihrer Steh- und Gehfähigkeit in relevanter und nachhaltiger Weise. Die Patienten profitieren auf allen Ebenen der ICF-CY (Funktion, Aktivität und Partizipation), wobei der Schweregrad (GMFCS-Level) und das Alter bei Therapie einen relevanten Einfluss auf die Verbesserung haben. Bei Teilnahme an mehreren ROBERT-Blöcken addiert sich die Verbesserung der Steh- und Gehfunktion auch noch in einem Alter, in dem die natürliche Entwicklung der Kinder mit CP keine Verbesserung mehr erwarten lässt.
Ausblick
Der Einsatz des neuen Modells „Lokomat® Pro“ mit einem neuen Freiheitsgrad für einen „lateral shift“ des Beckens (seit 2017 für Kinder erhältlich) ermöglicht eine Steigerung der Therapievariabilität bei einem noch physiologischeren Gangbild. Es verfügt außerdem über ein sehr viel flexibleres APF-System, das einen differenzierteren und gezielteren Einsatz der interaktiven Spiele zur Aktivitätssteigerung ermöglicht. Die Erfahrungen in den ersten Monaten mit dem neuen Lokomaten® lassen vermuten, dass sich die Kinder – motiviert durch die differenzierteren Spiele – noch aktiver, aufmerksamer und mit mehr Spaß an der Therapie im ROBERT-Programm beteiligen.
Inwieweit die differenzierteren Möglichkeiten des neuen Lokomaten® sich auch positiv auf die Effektivität der Therapie auswirken, wird aktuell untersucht. Zur Steigerung der klinischen Erfahrung von Mensch-Maschine-Interaktionen in der (Neuro-)Rehabilitation wurde 2013 das Netzwerk ARTIC (Advanced Robotic Therapy Integrated Centers) eingerichtet. Es beinhaltet unter anderem eine spezielle Interessengruppe für pädiatrische Aspekte robotergestützter Therapien, die im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit bereits erste Erfahrungen über verschiedene Anwenderzentren hinweg publiziert hat 28. In diesem Gremium soll die Entwicklung praxisbezogener Empfehlungen auf internationaler Ebene weitergeführt werden.
Für die Autoren:
Birgit Warken-Madelung M. Sc., Physiotherapeutin
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Kinderklinik und Kinder-poliklinik im Dr. von Haunerschen
Kinderspital, Abteilung für Pädiatrische Neurologie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie, integriertes Sozialpädiatrisches Zentrum (iSPZ)
Lindwurmstraße 4, 80337 München
birgit.warken@med.uni-muenchen.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Hardware | Hardware | Hardwareeinstellunge | Softwareeinstellungen | Kontraindikationen | Therapeutischer Fokus |
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Laufband | Geschwindigkeit 0,5–3,0 km/h | unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Gehen |
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Gewichtsentlastungssystem | Sitzhose | Größe XXS–L | stufenlose Gewichtsabnahme | Körpergewicht 14 kg | Training möglichst mit vollem eigenem dynamisch oder Körpergewicht |
Gewichtsentlastungssystem | Sitzhose | dynamisch oder Körpergewicht statisch | stufenlose Gewichtsabnahme | Körpergewicht 14 kg | Training möglichst mit vollem eigenem dynamisch oder Körpergewicht |
Exoskelett | Pediatric- Exoskelett | 21–34 cm OS-Länge | Bewegungsausmaß Hüfte und Knie | Knie- und Hüftbeugekontraktur, massive Achsfehlstellung | physiologisches Gangbild, Bewegungserweiterung |
Exoskelett | Adult-Exoskelett | 34–47 cm OS-Länge | Bewegungsausmaß Hüfte und Knie | Knie- und Hüftbeugekontraktur, massive Achsfehlstellung | physiologisches Gangbild, Bewegungserweiterung |
Exoskelett | Manschetten | Größe 3–8 | Bewegungsausmaß Hüfte und Knie | Knie- und Hüftbeugekontraktur, massive Achsfehlstellung | physiologisches Gangbild, Bewegungserweiterung |
Exoskelett | Führungskraftreduktion Hüfte/Kniegelenk bis 10 % | unbewusste Aktivitätssteigerung |
|||
Exoskelett | Fußheber | 2 Größen | kontrakte Spitzfußstellung | physiologischer Abrollvorgang |
|
Augmented Performance Feedback System | verschiedene interaktive Spiele mit unterschiedlichem Aktivitätsfokus | Aufmerksamkeits- und Aktivitätssteigerung |
Tab. 2 Erfahrungen zur robotergestützten Laufbandtherapie am von Haunerschen Kinderspital 2006–2018 (n = Anzahl;
MW = Mittelwert; GMFCS = Gross Motor Function Level; 10MWT = 10-Meter Walking Test; 6MWT = 6‑Minute Walking Test;
GMFM-66 = Gross Motor Function Measure; Dim. D = Stehen; Dim. E = Gehen; COPM = Canadian Occupational Performance Measure).
Warken-Madelung B, König H, Weinberger R, Schroeder AS. Mensch-Maschine-Interaktion im Kindesalter. Orthopädie Technik, 2020; 70 (1): 35–40
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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