Einleitung
Der Einsatz orthopädietechnischer Hilfsmittel zählt neben medikamentösen und physiotherapeutischen Maßnahmen zu den konservativen Methoden der Gonarthrosebehandlung. Die bisher allgemein bekannten Verfahren sind dabei Außenranderhöhungen von Schuhen und Einlagen sowie Knieorthesen 1234. Der klinische Nachweis der Wirkung von Knieorthesen ist in einer Vielzahl von Studien erbracht 567. Die Akzeptanz der Patienten ist jedoch nicht immer gegeben. Gründe hierfür liegen unter anderem in der grundsätzlichen Rutschneigung, der auftragenden Kosmetik und der in manchen Fällen einschnürenden Gurte 89.
Der Erfolg des Einsatzes von Außenranderhöhungen an Schuhen oder Einlagen wird kontrovers diskutiert. Während in den Untersuchungen von Crenshaw et al. 10 und Kerrigan et al. 11 diesbezüglich eine Reduktion der Kniebelastung gemessen wurde, konnten Pham et al. 12 und Maillefert et al. 13 keine signifikante Knieentlastung durch die Applikation von Außenranderhöhungen feststellen. Der Gedanke, mittels eines Keiles die Kniebelastung zu reduzieren, funktioniert nur bedingt, da offensichtlich die erzwungene Pronationsstellung des Fußes im unteren Sprunggelenk kompensiert werden kann.
Dieser Sachverhalt führte zum Konzept der Agilium-Freestep-Orthese. Mit dieser wird das untere und obere Sprunggelenk rigide überbrückt, womit eine direkte Beeinflussung des Kniegelenkes möglich sein soll.
Biomechanischer Hintergrund
Physiologisch betrachtet verläuft unter Belastung beim Gehen der Bodenreaktionskraftvektor in der Frontalebene medial der Kniegelenkmitte, wodurch ein varisierendes Moment wirkt. Der Maximalwert wird während der Gangphase „Loading Response“ gemessen und liegt durchschnittlich bei etwa 0,5 Nm/kg. Bei einem Varusgonarthrosepatienten ist dieser Wert häufig erhöht, bei einem Valgusgonarthrosepatienten meist deutlich verringert. Studien belegen, dass das varisierende Moment direkt mit der Gelenkkontaktkraft korreliert und somit als gut messbarer Belastungsindikator angesehen werden kann 14 (Abb. 1).
Mit diesem Bewertungsparameter wurde die vermutete Wirkung der Agilium-Freestep-Orthese im Jahr 2003 in einer Studie mit einem ersten Prototyp an 10 Gesunden überprüft 15. Dabei wurden folgende Situationen ganganalytisch miteinander verglichen:
- nur Schuh,
- Schuh mit 10 mm Außenranderhöhung,
- semirigide Sprunggelenksbandage (Malleo Sprint, Fa. Otto Bock) + 10 mm Außenranderhöhung und
- Prototyp der Agilium-Freestep-Orthese mit 10 mm Außenranderhöhung.
Die Untersuchung belegte, dass das mediale Kompartiment des Kniegelenks bei Interventionen unterhalb des Kniegelenks mit einer hohen Zuverlässigkeit nur durch eine rigide Überbrückung des unteren und oberen Sprunggelenkes entlastet werden kann. Nur in diesem Fall war eine eindeutige, signifikante Reduktion des Belastungsparameters nachweisbar (Abb. 2).
Die Orthesenkonstruktion
Die biomechanischen Resultate und Überlegungen führten zur finalen Konstruktionsgestaltung der Agilium-Freestep-Orthese. Die Berücksichtigung einer Außenranderhöhung ist dabei nicht erforderlich, da, wie sich in ergänzenden Untersuchungen zeigte, der Haupteffekt nicht aus der „Verkippung“ des Fußes resultiert. Die technischen Hauptmerkmale sind ein sprunggelenksübergreifender rigider Fußbügel, ein in der Sagittalebene frei bewegliches Knöchelgelenk und eine in der Frontalebene verstellbare Unterschenkelanlage (Abb. 3).
Die eindeutig messbare Wirkung wird durch zwei Effekte erreicht: Aufgrund der rigiden Überbrückung des unteren und oberen Sprunggelenkes wird zunächst die Eversionsbewegung des Fußes in der Standphase reduziert. Des Weiteren wirkt eine einstellbare Kraft über die laterale Anlage auf den Unterschenkel ein. Beide Mechanismen führen zu einer Verschiebung der Bodenreaktionskraft in lateraler Richtung und somit zu einer Verringerung des wirksamen Hebelarms am Kniegelenk. Das externe frontale Kniedrehmoment reduziert sich signifikant, was mit der oben beschriebenen Entlastung des medialen Knie-Kompartiments korreliert 161718 (Abb. 4). Zur Behandlung der Valgusgonarthrose (laterale Arthrose) ist die Orthese mit medialer Schienenführung erhältlich. Hier ist das Ziel, die Bodenreaktionskraft in mediale Richtung zu verschieben.
Klinische Ergebnisse
Für das Verständnis von Wirkung und Funktion der Orthese sind die oben ausgeführten biomechanischen Betrachtungen essentiell. Der Grad der Akzeptanz der Patienten leitet sich jedoch weitgehend aus den klinischen Bewertungen ab. Bei einer ersten Anwendungsbeobachtung mit 12 Patienten mit überwiegend Arthrosegrad 2 bis 3 (Kellgren-Skala) im Jahr 2010 gaben alle Teilnehmer bei Nutzung der Orthese eine deutliche Schmerzlinderung an. Der hier ermittelte Wert (Basis: VAS-Skala; 0: kein Schmerz bis 10: extrem hoher Schmerz) für das ebene Gehen sank signifikant von 6.5 (ohne Orthese) auf 2.8 Punkte (mit Orthese). Auch für das Treppengehen berichteten alle Patienten von einer spürbaren Schmerzreduktion 19.
In einer Beobachtungsstudie von Menger et al. 20 wurden klinische Parameter im Verlauf von 12 Monaten nach der Orthesenversorgung ermittelt. Dabei wurden mit 23 ambulanten Patienten mit unikompartimenteller Gonarthrose ohne bisherige operative Interventionen nach 3, 6, 9 und 12 Monaten Follow-up-Untersuchungen durchgeführt. Als wichtigstes Bewertungsinstrument wurde der WOMAC-Score verwendet. Der WOMAC-Score (Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index) ist ein auf den Patienten bezogener Selbsteinschätzungsfragebogen und bietet die Möglichkeit, die wichtigsten und alltagsrelevanten Konsequenzen z. B. einer Arthrose zu evaluieren.
Der WOMAC-Gesamt-Index und der WOMAC-Pain-Index zeigten eine signifikante Reduktion bereits innerhalb der ersten 3 Monate. Im letzten Quartal verringerten sich die Werte nochmals geringfügig (Abb. 5). Die Gelenksteifigkeit konnte während des Jahres deutlich verringert werden. Die Handhabung der Orthese wurde überwiegend mit „gut“ bis „sehr gut“ bewertet.
Nutzung der Orthese in Kombination mit Einlagenversorgungen
In der Versorgungspraxis wird man häufig mit der Situation konfrontiert, dass neben der Gonarthroseproblematik auch Fußdeformitäten vorhanden sein können. Es stellt sich die Frage, ob die Wirkung der Orthese am Kniegelenk durch eine zusätzliche Einlagenversorgung beeinträchtigt wird.
Diese Problematik aufgreifend, untersuchte Wille 21 in einer aktuellen ganganalytischen Studie 12 gesunde Probanden im Vergleich folgender Situationen:
- ohne Hilfsmittel,
- Außenranderhöhung (5 mm),
- Einlage (konfektionierte Senkfußeinlage Modell ErgoPad® work, Bauerfeind AG),
- Agilium Freestep,
- Einlage + Außenranderhöhung (5 mm),
- Agilium Freestep mit Einlage.
Die Resultate (Tab. 1) belegen eindeutig, dass die Kniebelastung sowohl bei der ausschließlichen Verwendung der Agilium-Freestep-Orthese als auch in Kombination mit der Senkfußeinlage in einer vergleichbaren Größenordnung zuverlässig reduziert wird (20 bzw. 23 %). Die Vermutung liegt nahe, dass durch die zusätzliche Nutzung der Einlage die Eversionsbewegung des Fußes zusätzlich eingeschränkt wird und sich somit der knieentlastende Effekt noch etwas verstärkt. Die alleinige Nutzung der Einlage führte in den meisten Fällen zu einer Erhöhung des Moments, wodurch sich die Belastung des medialen Kniekompartiments vermutlich erhöhen wird. Die Vermessung der Außenranderhöhung bestätigt eindrucksvoll die bekannten widersprüchlichen Aussagen zur Effektivität dieser Versorgung: In 6 Fällen wird eine deutliche Reduktion der Kniebelastung erreicht, in 2 Fällen fällt diese nur minimal aus, und in 2 weiteren Fällen wird sogar ein Anstieg des Moments gemessen. Somit zeigt sich erneut, dass mit dieser Behandlungsmethode eine Reduktion der Kniebelastung nicht zuverlässig erwartet werden kann.
Fazit und Versorgungsempfehlung
Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit der Agilium Freestep eine eindeutige Reduktion der Kniebelastung erreicht wird. Das zeigen die klinischen und biomechanischen Ergebnisse verschiedener Studien 2223242526. Die Größe des Effektes ist vergleichbar mit der, die bei Knieorthesen mehrfach nachgewiesen wurde 272829. Eine bedingte Anwendung ist bei stark instabilen Kniegelenken zu sehen. Hier ist mit Knieorthesen oder auch individuellen Ganzbeinorthesen (KAFO) eine effektivere Führung des Kniegelenkes zu erwarten.
Die Kombination der Agilium-Freestep-Orthese mit Einlagen (z. B. beim Knick-Senkfuß) ist möglich und empfehlenswert, da hier der knieentlastende Effekt eher verstärkt wird. Patienten, die neben der Gonarthrose auch über venöse Beinleiden klagen, sollten bevorzugt mit der Agilium-Freestep-Orthese versorgt werden, da es hier nicht zu Einschnürungen von stark angezogenen Verschlussgurten kommt, wie dies bei Knieorthesen der Fall sein kann.
Aufgrund der nicht knieübergreifenden Bauweise, der guten Kompatibilität mit der Bekleidung und der einfachen Handhabung stellt diese Orthese aus Sicht der Verfasser ein Hilfsmittel mit hoher Patienten-Compliance und damit eine Versorgungsalternative zu den bekannten Methoden dar.
Für die Autoren:
Heiko Drewitz, OTM, M. Sc. Neuroorthopädie
Leitung Orthetik, Otto Bock HealthCare Deutschland GmbH
Kompetenz-Zentrum und Forschungs- und Entwicklungswerkstatt
Hermann-Rein-Straße 2a
37075 Göttingen
drewitz@ottobock.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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