Einleitung
Deutschland befindet sich in einem demografischen Wandel mit einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung. So liegt beispielsweise der Altenquotient (das Verhältnis der Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter bezogen auf die erwerbstätige Bevölkerung von 20 bis unter 65 Jahren) in Baden-Württemberg momentan bei 32 (also 32 Ältere pro 100 Erwerbstätige) und wird laut Prognose des Statistischen Landesamts bis 2030 auf 47 steigen. Die Verschiebung der Altersstruktur stellt eine große Herausforderung im Bereich der Unterstützung pflegebedürftiger Menschen dar, da der Bedarf an Pflegefachkräften steigt, aber nicht im erforderlichen Maße befriedigt werden kann. In Flächengebieten verschärfen sich diese Probleme infrastrukturbedingt noch mehr 1. Gleichzeitig wollen ältere Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung selbstständig wohnen bleiben, da die emotionale Bindung an das wohnliche Umfeld im Alter steigt 2. Dies ist selbst dann der Fall, wenn gesundheitliche Risiken oder Beeinträchtigungen vorliegen. Ältere Menschen verbringen fast 90 % ihrer Zeit in der Wohnumgebung, wodurch diese zum zentralen Lebensmittelpunkt wird. Sicherheit und sich sicher fühlen ist älteren Menschen dabei besonders wichtig.
Um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, wurden seit den 90er Jahren Hausnotrufsysteme speziell in den Wohnungen älterer oder körperlich beeinträchtigter Menschen eingesetzt, um ihnen mehr Sicherheit in den eigenen vier Wänden zu bieten und somit ihre Selbstständigkeit zu fördern 3. Die Systeme sind dafür ausgelegt, sich vor allem bei Stürzen oder Notfällen per Knopfdruck bemerkbar zu machen. Dieser Knopf befindet sich z. B. am Telefon oder an einem Band um den Hals des Nutzers.
Ein Großteil der Zielgruppe in Deutschland verbindet das System jedoch mit einem negativen Gefühl: Es wird mit Hilflosigkeit und fortgeschrittenem Alter assoziiert. Aus diesem Grund entscheiden sich viele ältere Menschen trotz Bedarf gegen ein solches System, da sie sich selbst nicht in dieser Situation sehen oder sich vor Nachbarn schämen. Das führt dazu, dass z. B. Stürze nicht oder zu spät erkannt werden. Selbst wenn Hausnotrufsysteme genutzt werden, gelangen sie schnell an ihre Grenzen. Denn ist ein Mensch nach dem Sturz bewusstlos, bleibt ihm keine Möglichkeit, den Notruf auszulösen. Leidet die Person zudem noch an einschränkenden Krankheiten wie Demenz, so ist ein aktiver Hilferuf in einer Notsituation in vielen Fällen unmöglich. Experten plädieren deshalb für bedarfsgerechte Technik, die dem Nutzer ein hohes Maß an Mobilität, Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit ermöglicht, indem sie Stürze und Notsituationen automatisch mit Hilfe von Sensoren erkennt und nicht per Knopfdruck ausgelöst werden muss.
Angst und Unsicherheit im Hinblick auf Notfälle zwingt viele ältere alleinlebende Menschen zu einem Umzug in eine stationäre Einrichtung, da sie sich diesem Risiko nicht aussetzen möchten. Auch die Sorge der Angehörigen spielt hierbei eine wichtige Rolle. AAL-Technik bietet hier eine große Chance, für mehr Sicherheit in der Wohnumgebung zu sorgen und dadurch Ängste vor Stürzen und Unfällen zu verringern, sodass die Selbstständigkeit älterer Menschen in der vertrauten Umgebung gefördert und erhalten werden kann.
In Deutschland gibt es neben wenigen markttauglichen Einzellösungen zahlreiche Forschungsarbeiten sowie AAL-Technik im Prototypenstadium, die im Prinzip über ein großes Marktpotenzial verfügen, bislang aber nicht zum Einsatz gekommen sind. Insbesondere im relevanten Bereich „Automatische Unfallerkennung und Notruf“ sind vielversprechende technische Lösungen vorhanden.
Zielsetzung
Im Rahmen des vom Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg geförderten Kooperationsprojektes „Integration von AAL-Technik zur Notfallerkennung in die häusliche Umgebung“ wurden innovative technische Sicherheitssysteme im Prototypen- bis marktreifen Stadium über den Projektzeitraum vom 01.08.2013 bis zum 31.07.2015 getestet. Ziel des Projekts war der Einsatz bereits entwickelter AAL-Technologien aus den Bereichen Sicherheit und Notfallerkennung in realen Einsatzumgebungen, um diese im authentischen Umfeld erproben zu können. Unter AAL-Sicherheitstechnik sind in diesem Zusammenhang sensorbasierte Systeme zu verstehen, die Notsituationen und Unfälle in der häuslichen Umgebung autark und automatisch erkennen und entsprechende Hilfsmaßnahmen einleiten. Dies kann sowohl durch die Auswertung direkter körperlicher Merkmale (z. B. durch die Erkennung eines Sturzes oder die direkte Überwachung von Vitaldaten) als auch indirekter Merkmale wie einer Abweichung vom gewohnten Verhalten geschehen (z. B. indem erkannt wird, dass eine Person über einen ungewöhnlich langen Zeitraum komplett bewegungslos bleibt). Die Ereigniserkennung ist zudem speziell für Personen mit demenziellen Erkrankungen geeignet, da Notrufe dabei ohne Zutun des Nutzers automatisch abgesetzt werden.
Da die Einsatzszenarien vielfältig sind, wurden unterschiedliche Systeme zur Studiendurchführung ausgewählt. Bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden Techniken wurden vorausgegangene Forschungsprojekte und deren Projektergebnisse berücksichtigt. So konnte gewährleistet werden, dass den Systemen fundierte Entwicklungszyklen zugrunde lagen und sie gleichzeitig Potenzial zur weiteren Marktreife boten.
Studiendurchführung
In insgesamt zehn Wohnungen des betreuten Seniorenwohnens und in der privaten Häuslichkeit wurden über einen Zeitraum von sechs Monaten verschiedene Notfallsysteme getestet. Davon nahmen sieben Bewohner des betreuten Wohnens aus dem ländlichen und städtischen Umfeld sowie drei Personen an der Testung teil, die in privaten Haushalten leben. Eingesetzt wurden insgesamt drei sensorbasierte Notfallsysteme, die als fertig entwickelte und unter Laborbedingungen erprobte Prototypen zur Verfügung standen:
System „Safe@home”
Mit Hilfe optischer Sensoren erkennt das Safe@home-System automatisch Notsituationen, indem es wahrnimmt, wenn sich der Körperschwerpunkt einer Person ungewöhnlich schnell verlagert, wie es z. B. bei einem Sturz der Fall ist. Das System wird, ähnlich wie ein Rauchmelder, an der Decke in allen Räumlichkeiten der Wohnung installiert, das heißt, der Nutzer muss keine Sensoren am Körper tragen. In einer kleinen Computerbox, die ebenfalls in der Wohnung installiert wird, wird die Sturzerkennung verarbeitet. Sobald eine auffällige Situation erkannt wird, werden Notrufe automatisch ohne Intervention des Nutzers und somit unabhängig von seinem Bewusstseinszustand an einen Angehörigen oder an eine entsprechende Notrufleitstelle weitergeleitet (Abb. 1).
System „Hausnotruf 2.0“
Das Hausnotruf‑2.0‑System erkennt durch sogenannte ambiente Sensorik (bestehend aus einer Basisstation, Türkontaktsensoren und einem Bewegungsmelder) Inaktivität über einen längeren Zeitraum. Durch Einbeziehung der Angehörigen z. B. über eine App oder eine Notrufleitstelle kann automatisch Hilfe geholt werden (Abb. 2 u. 3). Das System konzentriert sich auf passive Notfallerkennung in Form einer automatisierten Tagestastenfunktion. Das bedeutet, die Bewohner müssen nicht mehr einmal täglich eine Taste auf dem Notrufgerät drücken, um damit zu signalisieren, dass es ihnen gut geht, sondern Aktivitäten in der Wohnung werden automatisch vom System erkannt. Fehlalarme durch vergessenes Drücken der Tagestaste werden hierdurch reduziert. Mit Hilfe unauffälliger, nicht am Körper getragener Smart-Home-Sensoren (Bewegungsmelder und Türkontaktsensor) übermittelt das System sowohl positive Wohlaufmeldungen, z. B. zur Information und Beruhigung von Betreuern, als auch Alarme über kritische Ereignisse. Das heißt, es kommt erst dann zur Notfall-Alarmierung, wenn über einen längeren Zeitraum keine Aktivität stattfindet, obwohl die Person sich in der Wohnung aufhält.
Intelligente Textilien
Textilien ermöglichen es, durch die Messung von Vitalparametern Notsituationen zu erkennen. So wird beispielsweise bei ungewöhnlichem Herzrhythmus automatisch ein Notruf abgesetzt (Abb. 4 u. 5). Die intelligenten Textilien sollen auch dafür sorgen, dass sich der Nutzer auch außerhalb der Wohneinheit sicher fühlen kann. Insbesondere ältere Personen, bei denen keine Mobilitätseinschränkungen bestehen, können außerhalb der Wohnung von diesem System profitieren. Die sensorischen Funktionen erfassen die Vitalparameter Herzschlag (EKG) und Atmung sowie die Aktivität und Gefährdungen durch potenzielle Sturzereignisse mit Beschleunigungssensoren. Eine am Körper in der Unterbekleidung getragene Elektronik erfasst, speichert und wertet diese Signale aus, bevor sie an die Alarmierungsschnittstelle weitergegeben werden. Stürze, Unregelmäßigkeiten in der Atmung oder Herzrhythmusstörungen können dadurch erkannt und unmittelbare Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden.
Die Funktionsweise der drei Notrufsysteme unterscheidet sich maßgeblich in ihrer Art der Notfallerkennung und des Alarmierungszeitpunktes: Das Safe@home-System und die intelligenten Textilien können zur unmittelbaren Notfallerkennung eingesetzt werden; das Hausnotruf‑2.0‑System konzentriert sich dagegen auf passive Notfallerkennung. Daraus ergeben sich unterschiedliche Einsatzgebiete für die einzelnen Systeme, die vom individuellen Unterstützungsbedarf der Anwender abhängig sind. Ein adäquater anwendungsbezogener Einsatz der Systeme trägt wesentlich zu deren Akzeptanz bei. Daher wurde für den Testzeitraum gezielt ausgewählt, welches System in welcher Unterstützungssituation angebracht ist und ob eine Kombination einzelner Systeme sinnvoll erscheint. Während des sechsmonatigen Testzeitraums wurden Teilnehmer und Betreuende mit Hilfe von Fragebögen zur Funktionalität der Systeme befragt. Die Informationen aus diesen Befragungen wurden als Grundlage für weitere Anwendungsentwicklungen genutzt, um spezifische Wünsche und Rahmenbedingungen der Anwender zu erfüllen und um eine optimale Funktionsweise auch bei vorliegender Demenz zu gewährleisten.
Neben dem Praxiseinsatz der beschriebenen Systeme dient die Feldstudie zudem dazu, bei der Ausstattung der Wohneinheiten vorhandene Infrastruktur optimal zu nutzen. Zusätzlich wurden im Rahmen des Projektes technische Kooperationen zwischen den Systemen durch gemeinsame Schnittstellen zwischen den Alarmierungssystemen hergestellt. Hierdurch ist es möglich, die einzelnen Sicherheitssysteme für eine kombinierte Alarmierung einzusetzen und damit den Nutzen für die Endanwender zu vervielfachen (Abb. 6).
Studienbegleitende ethische Evaluation der Systeme
Technische Unterstützungsoptionen halten vor allem im Bereich der Sicherheit zunehmend Einzug in den Alltag älterer Menschen. Dabei erfassen und verarbeiten technische Assistenzsysteme Nutzerdaten, die vor allem im Bereich der Notfallerkennung nur dann sinnvoll genutzt werden können, wenn daraus Informationen abgeleitet werden und ein automatischer Notruf generiert wird. Kurz gesagt: Informationen verlassen die Häuslichkeit und somit den „geschützten Raum“. Damit geht automatisch die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit solcher Notrufsysteme einher. Vor allem dann, wenn es zur Kollision divergierender Wertvorstellungen kommt, ergibt sich die konkrete Frage nach dem ethisch richtigen Einsatz 4. Umso wichtiger ist es, individuelle Anforderungen und die Selbstbestimmung der Nutzer in den Fokus zu nehmen und sie bei der Entwicklung solcher Systeme zu berücksichtigen. Anwender müssen bereits zu Beginn der Entwicklung involviert sein und gleichsam als Taktgeber fungieren: Sie geben vor, in welchen Anwendungsbereichen Technik sinnvoll unterstützen kann und wie sich der Einsatz gestaltet 5. Demnach muss auch der Nutzen integrierter Notfallsysteme individuell ermittelt werden.
Im Rahmen eines Evaluations-Workshops wurden die eingesetzten Notfallsysteme mit Hilfe des MEESTAR-Modells nach ethischen Gesichtspunkten reflektiert 6. In interdisziplinären Gruppen aus den Bereichen Ethik, Pflege, Technik und Leitung wurden insgesamt vier Arbeitsmodule bearbeitet. Ziel des Workshops war es, in Gruppen ein konkretes Szenario, das sich auf die eingesetzte Technologie bezieht, zu diskutieren und ethisch zu bewerten, um anschließend mögliche Konflikte und Herausforderungen sowie Nutzen und Mehrwert des technischen Assistenzsystems zu eruieren.
Ergebnisse
Nach der sechsmonatigen Testphase konnten erste Erkenntnisse zum Einsatz der Systeme im Realbetrieb erhoben werden:
Ergebnisse aus Sicht der Nutzer
Ein wichtiger Mehrwert im Rahmen der Integration der Notrufsysteme war die Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls bei den einzelnen Testpersonen. Selbst die Probanden, bei denen nach eigener Einschätzung keine körperlichen oder kognitiven Einschränkungen und vermeintlich keine Notfallgefahr vorlag, schätzten das Mehr an Sicherheit durch den Einsatz der Systeme. Vor allem die autonome Erkennung von Notfällen und die damit verbundene automatische Alarmierung wurden als angenehm empfunden. Gerade die Tester im betreuten Wohnen, die dazu neigten, den Handsender des klassischen Hausnotrufsystems nicht zu tragen, waren von der automatischen Alarmierungsmöglichkeit durch die in die Wohnung eingebaute Sensorik überzeugt. Ein Gefühl der Stigmatisierung durch offensichtlich getragene oder erkennbare Technik blieb aus, was wesentlich zur Akzeptanz der Systeme beitrug.
Das Projekt trug zudem auch zu einer signifikanten Verbesserung der Fehlerdetektionsrate des Systems Safe@home bei. Der Test unter realen Bedingungen erbrachte mehrere Optimierungen und Erweiterungen für das Konzept und erhöhte dessen Zuverlässigkeit enorm. Das System wurde dabei sowohl von Nutzern als auch von Betreuern gut angenommen. Positive Rückmeldungen gab es insbesondere über das Systemkonzept, das sich sinnvoll in die Wohnung integriert und nur dann aktiv interagiert, wenn ein Notfall auftritt. Hierdurch fühlten sich auch technikferne Personen angesprochen. Das System kann sturzgefährdete Personen, entweder durch Alter oder Krankheit, unterstützen. Es erhöht hierdurch die gefühlte sowie die tatsächliche Sicherheit und kann somit die Selbstständigkeit in den eigenen vier Wänden verlängern und verbessern.
Für Angehörige und Ehepartner kann insbesondere das System Hausnotruf 2.0 durch die Erkennung von Veränderungen des Tagesablaufes (erhöhte Aktivtäten bei Nacht, Verlassen der Wohnung zu ungewöhnlichen Uhrzeiten, Veränderungen des Bewegungsprofils) über längere Zeit wichtige Informationen liefern. Daraus lassen sich z. B. kognitive Einschränkungen ermitteln, die schlussendlich auf eine beginnende Demenz schließen lassen.
Die Stärken des intelligenten Textil-Systems, bestehend aus sensorischer Weste und Vitalmodul, bestehen in der Erkennung gefährlicher gesundheitlicher Veränderungen und von Aktivitätsänderungen und Ereignissen quasi in Echtzeit. Das System ist außerdem nicht auf den Wohnbereich mit fest installierter Infrastruktur begrenzt, sondern kann durch die Erweiterung der Konnektivität mit bestehenden Mobilfunk- und WLAN-Netzen beliebig erweitert werden. Dadurch ist das System insbesondere für weitgehend autonom und autark lebende Personen mit gesundheitlichen Risiken geeignet. Durch Erkennen des Verlassens definierter Bereiche kann insbesondere desorientierten Personen rechtzeitig geholfen werden, ohne ihre freie Bewegungsmöglichkeit einschränken zu müssen. Die Akzeptanz der sensorischen Weste muss angesichts der gewonnenen Erkenntnisse allerdings noch durch geeignetere textile Gestaltung verbessert werden – insbesondere der Wärmekomfort bei warmer Witterung im Sommer sowie die Fixierung des Vitalmoduls können noch optimiert werden.
Ergebnisse aus Sicht der Mitarbeitenden
Die Mitarbeiter schätzten den Gedanken, dass mit den getesteten Systemen Notsituationen schnell und zuverlässig erkannt werden können. Sie wissen, dass sie unverzüglich informiert werden, auch wenn sie z. B. außer Hörweite von Hilferufen sind. Aus Sicht der Mitarbeitenden im betreuten Wohnen konnte insbesondere die automatisierte Tagestastenfunktion des Hausnotruf‑2.0‑Systems überzeugen. Die hohe Fehlalarmquote, die sich durch eine nicht bekanntgegebene Abwesenheit von Bewohnern ergibt, konnte damit deutlich reduziert werden. Die Systeme erkannten automatisch, ob sich die Person zum Zeitpunkt der Wohlauf-Meldung außerhalb der Wohnung aufhielt, um in diesem Fall keine Alarmmeldung zu versenden. Dies führte zu einer Arbeitsentlastung des Personals. Auch konnte durch die Individualisierung des Systems ein individueller „Wohlauf-Service“ angeboten werden.
Ergebnisse der ethischen Betrachtung
Der Ethikworkshop hat dazu beigetragen, dass ethische Herausforderungen unter den sieben Dimensionen des MEESTAR-Modells (Fürsorge, Selbstbestimmung, Sicherheit, Gerechtigkeit, Privatheit, Teilhabe und Selbstverständnis) in verschiedenen Gruppen mit unterschiedlicher Zusammensetung (Ältere, Angehörige, Fachpflegekräfte, bürgerschaftlich Engagierte u. a.) genauer beleuchtet wurden. Somit wurde sichergestellt, dass die Sensibilität für ethische Problemfelder bzgl. der Notrufsysteme in den unterschiedlichen Disziplinen angesprochen und Lösungen vorgeschlagen werden konnten. Schon vor Beginn der Gruppeneinteilung hat sich gezeigt, dass die Selbstbestimmung der Bewohner und Bewohnerinnen gegeben sein muss. Daher sind eine Beratung über die technischen Systeme und vor allem eine Aufklärung über den Vorgang unumgänglich, die für Transparenz und Vertrauen sorgt. Ein weiterer Aspekt, der angesprochen wurde, besteht darin, dass eine grundsätzliche Aufklärung über die Systeme und ihre Funktionen notwendig ist. Schließlich wurde im Verlauf des Workshops auch deutlich, dass neben dem Datenschutz die Aspekte Bedienung, Funktion und Verlässlichkeit eine wichtige Rolle spielen.
Ergebnisse aus Sicht der Technik
Auch im Hinblick auf die Technik konnten wichtige Erkenntnisse gesammelt werden. Insbesondere bei den zwei laborerprobten Prototypen zeigte sich weiteres Entwicklungspotenzial. So wurde beispielsweise im Projektverlauf das Safe@home-System um Infrarotlichter erweitert. Im Feld hatte sich nämlich gezeigt, dass so besser auf die unterschiedlichen Lichtverhältnisse in den Wohnungen eingegangen und die Personenerkennung verbessert werden kann. Um den Datenschutz der Nutzer zu wahren und Zugriffe auf Bilddaten zu verhindern, wurde die Datenauswertung zu Sturzerkennung direkt in der Häuslichkeit vorgenommen, sodass lediglich die Information einer vorliegenden Gefahrensituation aus der Wohnung transportiert wird. Die als zunächst unangenehm empfundene Größe des Vitalbox-Moduls des intelligenten Textils und auftretende Bewegungsartefakte aus dem Alltag führten zu einer Anpassung des textilen Notfallsystems. Durch die gleichzeitige Speicherung der Rohdaten aus allen eingesetzten Systemen können von den Textilien erkannte Ereignisse retrospektiv beurteilt und Alarmierungsparameter zukünftig weiter verbessert werden.
Aber auch die unterschiedliche Netzwerkinfrastruktur gerade in Bezug auf die Internetanbindung für die Systeme hatte weitere Entwicklungen und eine gezieltere Auswahl von Mobilfunkbetreibern zur Folge. Auch die Funkreichweite von Sensoren konnte im Verlauf des Projektes optimiert werden, sodass das Hausnotruf‑2.0‑System in flexiblen Infrastrukturen und auch ohne aufwendige Netzüberprüfungen eingebaut werden konnte. Die Verbindung mit dem Safe@home-System eröffnet die Chance, Stürze und Verhaltensänderungen gleichzeitig zu erkennen und dadurch ein System für Notfälle, aber auch für schleichende Änderungen zu bieten. Während der Projektlaufzeit konnte das bewertete Hausnotruf‑2.0‑System außerdem zu einem marktreifen Produkt – das System „EasierLife“ – weiterentwickelt werden. So konnten zur Projektlaufzeit auch bereits Aspekte der Kosten-Nutzen-Bewertung in die Bewertung der Probanden einfließen.
Fazit
Sowohl die älteren Testpersonen als auch die Mitarbeiter erkennen einen Mehrwert in den getesteten Notfallsystemen. Die einfache Handhabbarkeit und das subjektive Sicherheitsgefühl, das durch die Systeme generiert wird, überzeugten die Probanden. Die intelligenten Textilien bedürfen demgegenüber insbesondere im Hinblick auf den Tragekomfort noch weiterer Entwicklungsarbeit. Das Safe@home-System ist im Vergleich zu den anderen beiden Systemen teurer, überzeugt jedoch durch die unmittelbare Notfallerkennung. Das EasierLife-System ist kostengünstig und bringt nur einen sehr geringen Installationsaufwand mit sich. Da sich die Systeme in der Art und Dauer der Notfallerkennung unterscheiden, ist der Einsatz des jeweiligen Systems stark vom individuellen Bedarf des Nutzers abhängig.
Für die Autoren:
Verena Pfister
Ringelbachstr. 211
72762 Reutlingen
verena.pfister@bruderhausdiakonie.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Pfister V, Steiner B, Röll N, Chiriac S. Innovative Notrufsysteme im Realtest — Vom Labor in die Häuslichkeit. Orthopädie Technik, 2017; 68 (9): 36–41
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Manzeschke A. Technische Assistenzsysteme. Eine Antwort auf die Herausforderung des demografischen Wandels. ProAlter, 2011; 5: 36–40
- Wahl H‑W, Iwarsson S. Aging Well and the Environment: Toward an Integrative Model and Research Agenda for the Future. Gerontologist, 2012; 52 (3): 306–316
- Adam C. Der Hausnotruf, ein wichtiger Baustein für ein selbstbestimmtes Leben. Wir starten neu durch. Vortrag Fachtagung, 07.10.2009, Dortmund
- Ammicht Quinn R, Beimborn M et al. Alter. Technik. Ethik. Ein Fragen- und Kriterienkatalog. Tübingen: Eberhard Karls Universität Tübingen, 2015
- Huber JM, Schneider H, Pfister V, Steiner B. Use and Development of New Technologies in Public Welfare Services: A User-Centred Approach Using Step by Step Communication for Problem Solving. In: Kollak, I (Hrsg.). Safe at Home with Assistive Technology. Berlin: Springer International Publishing, 2017: 109–135
- Manzeschke A, Weber K et al. Ergebnisse der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“. Berlin: VDI/VDE Innovation + Technik GmbH, 2013