Inno­va­ti­ve Not­ruf­sys­te­me im Real­test — Vom Labor in die Häuslichkeit

V. Pfister, B. Steiner, N. Röll, S. Chiriac
Inhalt des Vorhabens war die praktische Erprobung von AAL-Forschungsergebnissen zur automatischen Erkennung von Notfällen in einer realen Einsatzumgebung mit dem Ziel, die Ergebnisse in den Markt zu überführen. Hierbei wurden drei marktfähige Sicherheitssysteme im Prototypenstadium („Safe@home“, „Hausnotruf 2.0“ und intelligente Textilien) zur automatischen Notfallerkennung unter realen Bedingungen getestet und evaluiert. Des Weiteren wurde eine einheitliche Alarmierungsschnittstelle entwickelt, damit die drei Sicherheitssysteme kombiniert eingesetzt werden können. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie vollautomatisch Notsituationen erkennen und eine entsprechende Alarmierung durchführen. Dies ist besonders im Einsatz bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Demenz wichtig, da diese Patienten unter Umständen nicht in der Lage sind, selbst aktiv Hilfe zu holen.

Ein­lei­tung

Deutsch­land befin­det sich in einem demo­gra­fi­schen Wan­del mit einer zuneh­men­den Alte­rung der Bevöl­ke­rung. So liegt bei­spiels­wei­se der Alten­quo­ti­ent (das Ver­hält­nis der Bevöl­ke­rung im Alter von 65 Jah­ren und älter bezo­gen auf die erwerbs­tä­ti­ge Bevöl­ke­rung von 20 bis unter 65 Jah­ren) in Baden-Würt­tem­berg momen­tan bei 32 (also 32 Älte­re pro 100 Erwerbs­tä­ti­ge) und wird laut Pro­gno­se des Sta­tis­ti­schen Lan­des­amts bis 2030 auf 47 stei­gen. Die Ver­schie­bung der Alters­struk­tur stellt eine gro­ße Her­aus­for­de­rung im Bereich der Unter­stüt­zung pfle­ge­be­dürf­ti­ger Men­schen dar, da der Bedarf an Pfle­ge­fach­kräf­ten steigt, aber nicht im erfor­der­li­chen Maße befrie­digt wer­den kann. In Flä­chen­ge­bie­ten ver­schär­fen sich die­se Pro­ble­me infra­struk­tur­be­dingt noch mehr 1. Gleich­zei­tig wol­len älte­re Men­schen so lan­ge wie mög­lich in ihrer ver­trau­ten Umge­bung selbst­stän­dig woh­nen blei­ben, da die emo­tio­na­le Bin­dung an das wohn­li­che Umfeld im Alter steigt 2. Dies ist selbst dann der Fall, wenn gesund­heit­li­che Risi­ken oder Beein­träch­ti­gun­gen vor­lie­gen. Älte­re Men­schen ver­brin­gen fast 90 % ihrer Zeit in der Wohn­um­ge­bung, wodurch die­se zum zen­tra­len Lebens­mit­tel­punkt wird. Sicher­heit und sich sicher füh­len ist älte­ren Men­schen dabei beson­ders wichtig.

Um die­sem Bedürf­nis gerecht zu wer­den, wur­den seit den 90er Jah­ren Haus­not­ruf­sys­te­me spe­zi­ell in den Woh­nun­gen älte­rer oder kör­per­lich beein­träch­tig­ter Men­schen ein­ge­setzt, um ihnen mehr Sicher­heit in den eige­nen vier Wän­den zu bie­ten und somit ihre Selbst­stän­dig­keit zu för­dern 3. Die Sys­te­me sind dafür aus­ge­legt, sich vor allem bei Stür­zen oder Not­fäl­len per Knopf­druck bemerk­bar zu machen. Die­ser Knopf befin­det sich z. B. am Tele­fon oder an einem Band um den Hals des Nutzers.

Ein Groß­teil der Ziel­grup­pe in Deutsch­land ver­bin­det das Sys­tem jedoch mit einem nega­ti­ven Gefühl: Es wird mit Hilf­lo­sig­keit und fort­ge­schrit­te­nem Alter asso­zi­iert. Aus die­sem Grund ent­schei­den sich vie­le älte­re Men­schen trotz Bedarf gegen ein sol­ches Sys­tem, da sie sich selbst nicht in die­ser Situa­ti­on sehen oder sich vor Nach­barn schä­men. Das führt dazu, dass z. B. Stür­ze nicht oder zu spät erkannt wer­den. Selbst wenn Haus­not­ruf­sys­te­me genutzt wer­den, gelan­gen sie schnell an ihre Gren­zen. Denn ist ein Mensch nach dem Sturz bewusst­los, bleibt ihm kei­ne Mög­lich­keit, den Not­ruf aus­zu­lö­sen. Lei­det die Per­son zudem noch an ein­schrän­ken­den Krank­hei­ten wie Demenz, so ist ein akti­ver Hil­fe­ruf in einer Not­si­tua­ti­on in vie­len Fäl­len unmög­lich. Exper­ten plä­die­ren des­halb für bedarfs­ge­rech­te Tech­nik, die dem Nut­zer ein hohes Maß an Mobi­li­tät, Selbst­stän­dig­keit und Selbst­be­stimmt­heit ermög­licht, indem sie Stür­ze und Not­si­tua­tio­nen auto­ma­tisch mit Hil­fe von Sen­so­ren erkennt und nicht per Knopf­druck aus­ge­löst wer­den muss.

Angst und Unsi­cher­heit im Hin­blick auf Not­fäl­le zwingt vie­le älte­re allein­le­ben­de Men­schen zu einem Umzug in eine sta­tio­nä­re Ein­rich­tung, da sie sich die­sem Risi­ko nicht aus­set­zen möch­ten. Auch die Sor­ge der Ange­hö­ri­gen spielt hier­bei eine wich­ti­ge Rol­le. AAL-Tech­nik bie­tet hier eine gro­ße Chan­ce, für mehr Sicher­heit in der Wohn­um­ge­bung zu sor­gen und dadurch Ängs­te vor Stür­zen und Unfäl­len zu ver­rin­gern, sodass die Selbst­stän­dig­keit älte­rer Men­schen in der ver­trau­ten Umge­bung geför­dert und erhal­ten wer­den kann.

In Deutsch­land gibt es neben weni­gen markt­taug­li­chen Ein­zel­lö­sun­gen zahl­rei­che For­schungs­ar­bei­ten sowie AAL-Tech­nik im Pro­to­ty­pen­sta­di­um, die im Prin­zip über ein gro­ßes Markt­po­ten­zi­al ver­fü­gen, bis­lang aber nicht zum Ein­satz gekom­men sind. Ins­be­son­de­re im rele­van­ten Bereich „Auto­ma­ti­sche Unfall­erken­nung und Not­ruf“ sind viel­ver­spre­chen­de tech­ni­sche Lösun­gen vorhanden.

Ziel­set­zung

Im Rah­men des vom Minis­te­ri­um für Sozia­les und Inte­gra­ti­on Baden-Würt­tem­berg geför­der­ten Koope­ra­ti­ons­pro­jek­tes „Inte­gra­ti­on von AAL-Tech­nik zur Not­fall­erken­nung in die häus­li­che Umge­bung“ wur­den inno­va­ti­ve tech­ni­sche Sicher­heits­sys­te­me im Pro­to­ty­pen- bis markt­rei­fen Sta­di­um über den Pro­jekt­zeit­raum vom 01.08.2013 bis zum 31.07.2015 getes­tet. Ziel des Pro­jekts war der Ein­satz bereits ent­wi­ckel­ter AAL-Tech­no­lo­gien aus den Berei­chen Sicher­heit und Not­fall­erken­nung in rea­len Ein­satz­um­ge­bun­gen, um die­se im authen­ti­schen Umfeld erpro­ben zu kön­nen. Unter AAL-Sicher­heits­tech­nik sind in die­sem Zusam­men­hang sen­sor­ba­sier­te Sys­te­me zu ver­ste­hen, die Not­si­tua­tio­nen und Unfäl­le in der häus­li­chen Umge­bung aut­ark und auto­ma­tisch erken­nen und ent­spre­chen­de Hilfs­maß­nah­men ein­lei­ten. Dies kann sowohl durch die Aus­wer­tung direk­ter kör­per­li­cher Merk­ma­le (z. B. durch die Erken­nung eines Stur­zes oder die direk­te Über­wa­chung von Vital­da­ten) als auch indi­rek­ter Merk­ma­le wie einer Abwei­chung vom gewohn­ten Ver­hal­ten gesche­hen (z. B. indem erkannt wird, dass eine Per­son über einen unge­wöhn­lich lan­gen Zeit­raum kom­plett bewe­gungs­los bleibt). Die Ereig­nis­er­ken­nung ist zudem spe­zi­ell für Per­so­nen mit demen­zi­el­len Erkran­kun­gen geeig­net, da Not­ru­fe dabei ohne Zutun des Nut­zers auto­ma­tisch abge­setzt werden.

Da die Ein­satz­sze­na­ri­en viel­fäl­tig sind, wur­den unter­schied­li­che Sys­te­me zur Stu­di­en­durch­füh­rung aus­ge­wählt. Bei der Aus­wahl der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Tech­ni­ken wur­den vor­aus­ge­gan­ge­ne For­schungs­pro­jek­te und deren Pro­jekt­er­geb­nis­se berück­sich­tigt. So konn­te gewähr­leis­tet wer­den, dass den Sys­te­men fun­dier­te Ent­wick­lungs­zy­klen zugrun­de lagen und sie gleich­zei­tig Poten­zi­al zur wei­te­ren Markt­rei­fe boten.

Stu­di­en­durch­füh­rung

In ins­ge­samt zehn Woh­nun­gen des betreu­ten Senio­ren­woh­nens und in der pri­va­ten Häus­lich­keit wur­den über einen Zeit­raum von sechs Mona­ten ver­schie­de­ne Not­fall­sys­te­me getes­tet. Davon nah­men sie­ben Bewoh­ner des betreu­ten Woh­nens aus dem länd­li­chen und städ­ti­schen Umfeld sowie drei Per­so­nen an der Tes­tung teil, die in pri­va­ten Haus­hal­ten leben. Ein­ge­setzt wur­den ins­ge­samt drei sen­sor­ba­sier­te Not­fall­sys­te­me, die als fer­tig ent­wi­ckel­te und unter Labor­be­din­gun­gen erprob­te Pro­to­ty­pen zur Ver­fü­gung standen:

Sys­tem „Safe@home”

Mit Hil­fe opti­scher Sen­so­ren erkennt das Safe@home-System auto­ma­tisch Not­si­tua­tio­nen, indem es wahr­nimmt, wenn sich der Kör­per­schwer­punkt einer Per­son unge­wöhn­lich schnell ver­la­gert, wie es z. B. bei einem Sturz der Fall ist. Das Sys­tem wird, ähn­lich wie ein Rauch­mel­der, an der Decke in allen Räum­lich­kei­ten der Woh­nung instal­liert, das heißt, der Nut­zer muss kei­ne Sen­so­ren am Kör­per tra­gen. In einer klei­nen Com­pu­ter­box, die eben­falls in der Woh­nung instal­liert wird, wird die Sturz­er­ken­nung ver­ar­bei­tet. Sobald eine auf­fäl­li­ge Situa­ti­on erkannt wird, wer­den Not­ru­fe auto­ma­tisch ohne Inter­ven­ti­on des Nut­zers und somit unab­hän­gig von sei­nem Bewusst­seins­zu­stand an einen Ange­hö­ri­gen oder an eine ent­spre­chen­de Not­ruf­leit­stel­le wei­ter­ge­lei­tet (Abb. 1).

Sys­tem „Haus­not­ruf 2.0“

Das Hausnotruf‑2.0‑System erkennt durch soge­nann­te ambi­en­te Sen­so­rik (bestehend aus einer Basis­sta­ti­on, Tür­kon­takt­sen­so­ren und einem Bewe­gungs­mel­der) Inak­ti­vi­tät über einen län­ge­ren Zeit­raum. Durch Ein­be­zie­hung der Ange­hö­ri­gen z. B. über eine App oder eine Not­ruf­leit­stel­le kann auto­ma­tisch Hil­fe geholt wer­den (Abb. 2 u. 3). Das Sys­tem kon­zen­triert sich auf pas­si­ve Not­fall­erken­nung in Form einer auto­ma­ti­sier­ten Tages­tas­ten­funk­ti­on. Das bedeu­tet, die Bewoh­ner müs­sen nicht mehr ein­mal täg­lich eine Tas­te auf dem Not­ruf­ge­rät drü­cken, um damit zu signa­li­sie­ren, dass es ihnen gut geht, son­dern Akti­vi­tä­ten in der Woh­nung wer­den auto­ma­tisch vom Sys­tem erkannt. Fehl­alar­me durch ver­ges­se­nes Drü­cken der Tages­tas­te wer­den hier­durch redu­ziert. Mit Hil­fe unauf­fäl­li­ger, nicht am Kör­per getra­ge­ner Smart-Home-Sen­so­ren (Bewe­gungs­mel­der und Tür­kon­takt­sen­sor) über­mit­telt das Sys­tem sowohl posi­ti­ve Wohl­auf­mel­dun­gen, z. B. zur Infor­ma­ti­on und Beru­hi­gung von Betreu­ern, als auch Alar­me über kri­ti­sche Ereig­nis­se. Das heißt, es kommt erst dann zur Not­fall-Alar­mie­rung, wenn über einen län­ge­ren Zeit­raum kei­ne Akti­vi­tät statt­fin­det, obwohl die Per­son sich in der Woh­nung aufhält.

Intel­li­gen­te Textilien

Tex­ti­li­en ermög­li­chen es, durch die Mes­sung von Vital­pa­ra­me­tern Not­si­tua­tio­nen zu erken­nen. So wird bei­spiels­wei­se bei unge­wöhn­li­chem Herz­rhyth­mus auto­ma­tisch ein Not­ruf abge­setzt (Abb. 4 u. 5). Die intel­li­gen­ten Tex­ti­li­en sol­len auch dafür sor­gen, dass sich der Nut­zer auch außer­halb der Wohn­ein­heit sicher füh­len kann. Ins­be­son­de­re älte­re Per­so­nen, bei denen kei­ne Mobi­li­täts­ein­schrän­kun­gen bestehen, kön­nen außer­halb der Woh­nung von die­sem Sys­tem pro­fi­tie­ren. Die sen­so­ri­schen Funk­tio­nen erfas­sen die Vital­pa­ra­me­ter Herz­schlag (EKG) und Atmung sowie die Akti­vi­tät und Gefähr­dun­gen durch poten­zi­el­le Sturz­er­eig­nis­se mit Beschleu­ni­gungs­sen­so­ren. Eine am Kör­per in der Unter­be­klei­dung getra­ge­ne Elek­tro­nik erfasst, spei­chert und wer­tet die­se Signa­le aus, bevor sie an die Alar­mie­rungs­schnitt­stel­le wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Stür­ze, Unre­gel­mä­ßig­kei­ten in der Atmung oder Herz­rhyth­mus­stö­run­gen kön­nen dadurch erkannt und unmit­tel­ba­re Hilfs­maß­nah­men ein­ge­lei­tet werden.

Die Funk­ti­ons­wei­se der drei Not­ruf­sys­te­me unter­schei­det sich maß­geb­lich in ihrer Art der Not­fall­erken­nung und des Alar­mie­rungs­zeit­punk­tes: Das Safe@home-System und die intel­li­gen­ten Tex­ti­li­en kön­nen zur unmit­tel­ba­ren Not­fall­erken­nung ein­ge­setzt wer­den; das Hausnotruf‑2.0‑System kon­zen­triert sich dage­gen auf pas­si­ve Not­fall­erken­nung. Dar­aus erge­ben sich unter­schied­li­che Ein­satz­ge­bie­te für die ein­zel­nen Sys­te­me, die vom indi­vi­du­el­len Unter­stüt­zungs­be­darf der Anwen­der abhän­gig sind. Ein adäqua­ter anwen­dungs­be­zo­ge­ner Ein­satz der Sys­te­me trägt wesent­lich zu deren Akzep­tanz bei. Daher wur­de für den Test­zeit­raum gezielt aus­ge­wählt, wel­ches Sys­tem in wel­cher Unter­stüt­zungs­si­tua­ti­on ange­bracht ist und ob eine Kom­bi­na­ti­on ein­zel­ner Sys­te­me sinn­voll erscheint. Wäh­rend des sechs­mo­na­ti­gen Test­zeit­raums wur­den Teil­neh­mer und Betreu­en­de mit Hil­fe von Fra­ge­bö­gen zur Funk­tio­na­li­tät der Sys­te­me befragt. Die Infor­ma­tio­nen aus die­sen Befra­gun­gen wur­den als Grund­la­ge für wei­te­re Anwen­dungs­ent­wick­lun­gen genutzt, um spe­zi­fi­sche Wün­sche und Rah­men­be­din­gun­gen der Anwen­der zu erfül­len und um eine opti­ma­le Funk­ti­ons­wei­se auch bei vor­lie­gen­der Demenz zu gewährleisten.

Neben dem Pra­xis­ein­satz der beschrie­be­nen Sys­te­me dient die Feld­stu­die zudem dazu, bei der Aus­stat­tung der Wohn­ein­hei­ten vor­han­de­ne Infra­struk­tur opti­mal zu nut­zen. Zusätz­lich wur­den im Rah­men des Pro­jek­tes tech­ni­sche Koope­ra­tio­nen zwi­schen den Sys­te­men durch gemein­sa­me Schnitt­stel­len zwi­schen den Alar­mie­rungs­sys­te­men her­ge­stellt. Hier­durch ist es mög­lich, die ein­zel­nen Sicher­heits­sys­te­me für eine kom­bi­nier­te Alar­mie­rung ein­zu­set­zen und damit den Nut­zen für die End­an­wen­der zu ver­viel­fa­chen (Abb. 6).

Stu­di­en­be­glei­ten­de ethi­sche Eva­lua­ti­on der Systeme

Tech­ni­sche Unter­stüt­zungs­op­tio­nen hal­ten vor allem im Bereich der Sicher­heit zuneh­mend Ein­zug in den All­tag älte­rer Men­schen. Dabei erfas­sen und ver­ar­bei­ten tech­ni­sche Assis­tenz­sys­te­me Nut­zer­da­ten, die vor allem im Bereich der Not­fall­erken­nung nur dann sinn­voll genutzt wer­den kön­nen, wenn dar­aus Infor­ma­tio­nen abge­lei­tet wer­den und ein auto­ma­ti­scher Not­ruf gene­riert wird. Kurz gesagt: Infor­ma­tio­nen ver­las­sen die Häus­lich­keit und somit den „geschütz­ten Raum“. Damit geht auto­ma­tisch die Fra­ge nach der ethi­schen Ver­tret­bar­keit sol­cher Not­ruf­sys­te­me ein­her. Vor allem dann, wenn es zur Kol­li­si­on diver­gie­ren­der Wert­vor­stel­lun­gen kommt, ergibt sich die kon­kre­te Fra­ge nach dem ethisch rich­ti­gen Ein­satz 4. Umso wich­ti­ger ist es, indi­vi­du­el­le Anfor­de­run­gen und die Selbst­be­stim­mung der Nut­zer in den Fokus zu neh­men und sie bei der Ent­wick­lung sol­cher Sys­te­me zu berück­sich­ti­gen. Anwen­der müs­sen bereits zu Beginn der Ent­wick­lung invol­viert sein und gleich­sam als Takt­ge­ber fun­gie­ren: Sie geben vor, in wel­chen Anwen­dungs­be­rei­chen Tech­nik sinn­voll unter­stüt­zen kann und wie sich der Ein­satz gestal­tet 5. Dem­nach muss auch der Nut­zen inte­grier­ter Not­fall­sys­te­me indi­vi­du­ell ermit­telt werden.

Im Rah­men eines Eva­lua­tions-Work­shops wur­den die ein­ge­setz­ten Not­fall­sys­te­me mit Hil­fe des MEE­STAR-Modells nach ethi­schen Gesichts­punk­ten reflek­tiert 6. In inter­dis­zi­pli­nä­ren Grup­pen aus den Berei­chen Ethik, Pfle­ge, Tech­nik und Lei­tung wur­den ins­ge­samt vier Arbeits­mo­du­le bear­bei­tet. Ziel des Work­shops war es, in Grup­pen ein kon­kre­tes Sze­na­rio, das sich auf die ein­ge­setz­te Tech­no­lo­gie bezieht, zu dis­ku­tie­ren und ethisch zu bewer­ten, um anschlie­ßend mög­li­che Kon­flik­te und Her­aus­for­de­run­gen sowie Nut­zen und Mehr­wert des tech­ni­schen Assis­tenz­sys­tems zu eruieren.

Ergeb­nis­se

Nach der sechs­mo­na­ti­gen Test­pha­se konn­ten ers­te Erkennt­nis­se zum Ein­satz der Sys­te­me im Real­be­trieb erho­ben werden:

Ergeb­nis­se aus Sicht der Nutzer

Ein wich­ti­ger Mehr­wert im Rah­men der Inte­gra­ti­on der Not­ruf­sys­te­me war die Ver­bes­se­rung des sub­jek­ti­ven Sicher­heits­ge­fühls bei den ein­zel­nen Test­per­so­nen. Selbst die Pro­ban­den, bei denen nach eige­ner Ein­schät­zung kei­ne kör­per­li­chen oder kogni­ti­ven Ein­schrän­kun­gen und ver­meint­lich kei­ne Not­fall­ge­fahr vor­lag, schätz­ten das Mehr an Sicher­heit durch den Ein­satz der Sys­te­me. Vor allem die auto­no­me Erken­nung von Not­fäl­len und die damit ver­bun­de­ne auto­ma­ti­sche Alar­mie­rung wur­den als ange­nehm emp­fun­den. Gera­de die Tes­ter im betreu­ten Woh­nen, die dazu neig­ten, den Hand­sen­der des klas­si­schen Haus­not­ruf­sys­tems nicht zu tra­gen, waren von der auto­ma­ti­schen Alar­mie­rungs­mög­lich­keit durch die in die Woh­nung ein­ge­bau­te Sen­so­rik über­zeugt. Ein Gefühl der Stig­ma­ti­sie­rung durch offen­sicht­lich getra­ge­ne oder erkenn­ba­re Tech­nik blieb aus, was wesent­lich zur Akzep­tanz der Sys­te­me beitrug.

Das Pro­jekt trug zudem auch zu einer signi­fi­kan­ten Ver­bes­se­rung der Feh­ler­de­tek­ti­ons­ra­te des Sys­tems Safe@home bei. Der Test unter rea­len Bedin­gun­gen erbrach­te meh­re­re Opti­mie­run­gen und Erwei­te­run­gen für das Kon­zept und erhöh­te des­sen Zuver­läs­sig­keit enorm. Das Sys­tem wur­de dabei sowohl von Nut­zern als auch von Betreu­ern gut ange­nom­men. Posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen gab es ins­be­son­de­re über das Sys­tem­kon­zept, das sich sinn­voll in die Woh­nung inte­griert und nur dann aktiv inter­agiert, wenn ein Not­fall auf­tritt. Hier­durch fühl­ten sich auch tech­nik­fer­ne Per­so­nen ange­spro­chen. Das Sys­tem kann sturz­ge­fähr­de­te Per­so­nen, ent­we­der durch Alter oder Krank­heit, unter­stüt­zen. Es erhöht hier­durch die gefühl­te sowie die tat­säch­li­che Sicher­heit und kann somit die Selbst­stän­dig­keit in den eige­nen vier Wän­den ver­län­gern und verbessern.

Für Ange­hö­ri­ge und Ehe­part­ner kann ins­be­son­de­re das Sys­tem Haus­not­ruf 2.0 durch die Erken­nung von Ver­än­de­run­gen des Tages­ab­lau­fes (erhöh­te Aktiv­tä­ten bei Nacht, Ver­las­sen der Woh­nung zu unge­wöhn­li­chen Uhr­zei­ten, Ver­än­de­run­gen des Bewe­gungs­pro­fils) über län­ge­re Zeit wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen lie­fern. Dar­aus las­sen sich z. B. kogni­ti­ve Ein­schrän­kun­gen ermit­teln, die schluss­end­lich auf eine begin­nen­de Demenz schlie­ßen lassen.

Die Stär­ken des intel­li­gen­ten Tex­til-Sys­tems, bestehend aus sen­so­ri­scher Wes­te und Vital­mo­dul, bestehen in der Erken­nung gefähr­li­cher gesund­heit­li­cher Ver­än­de­run­gen und von Akti­vi­täts­än­de­run­gen und Ereig­nis­sen qua­si in Echt­zeit. Das Sys­tem ist außer­dem nicht auf den Wohn­be­reich mit fest instal­lier­ter Infra­struk­tur begrenzt, son­dern kann durch die Erwei­te­rung der Kon­nek­ti­vi­tät mit bestehen­den Mobil­funk- und WLAN-Net­zen belie­big erwei­tert wer­den. Dadurch ist das Sys­tem ins­be­son­de­re für weit­ge­hend auto­nom und aut­ark leben­de Per­so­nen mit gesund­heit­li­chen Risi­ken geeig­net. Durch Erken­nen des Ver­las­sens defi­nier­ter Berei­che kann ins­be­son­de­re des­ori­en­tier­ten Per­so­nen recht­zei­tig gehol­fen wer­den, ohne ihre freie Bewe­gungs­mög­lich­keit ein­schrän­ken zu müs­sen. Die Akzep­tanz der sen­so­ri­schen Wes­te muss ange­sichts der gewon­ne­nen Erkennt­nis­se aller­dings noch durch geeig­ne­te­re tex­ti­le Gestal­tung ver­bes­sert wer­den – ins­be­son­de­re der Wär­me­kom­fort bei war­mer Wit­te­rung im Som­mer sowie die Fixie­rung des Vital­mo­duls kön­nen noch opti­miert werden.

Ergeb­nis­se aus Sicht der Mitarbeitenden

Die Mit­ar­bei­ter schätz­ten den Gedan­ken, dass mit den getes­te­ten Sys­te­men Not­si­tua­tio­nen schnell und zuver­läs­sig erkannt wer­den kön­nen. Sie wis­sen, dass sie unver­züg­lich infor­miert wer­den, auch wenn sie z. B. außer Hör­wei­te von Hil­fe­ru­fen sind. Aus Sicht der Mit­ar­bei­ten­den im betreu­ten Woh­nen konn­te ins­be­son­de­re die auto­ma­ti­sier­te Tages­tas­ten­funk­ti­on des Hausnotruf‑2.0‑Systems über­zeu­gen. Die hohe Fehl­alarm­quo­te, die sich durch eine nicht bekannt­ge­ge­be­ne Abwe­sen­heit von Bewoh­nern ergibt, konn­te damit deut­lich redu­ziert wer­den. Die Sys­te­me erkann­ten auto­ma­tisch, ob sich die Per­son zum Zeit­punkt der Wohl­auf-Mel­dung außer­halb der Woh­nung auf­hielt, um in die­sem Fall kei­ne Alarm­mel­dung zu ver­sen­den. Dies führ­te zu einer Arbeits­ent­las­tung des Per­so­nals. Auch konn­te durch die Indi­vi­dua­li­sie­rung des Sys­tems ein indi­vi­du­el­ler „Wohl­auf-Ser­vice“ ange­bo­ten werden.

Ergeb­nis­se der ethi­schen Betrachtung

Der Ethik­work­shop hat dazu bei­getra­gen, dass ethi­sche Her­aus­for­de­run­gen unter den sie­ben Dimen­sio­nen des MEE­STAR-Modells (Für­sor­ge, Selbst­be­stim­mung, Sicher­heit, Gerech­tig­keit, Pri­vat­heit, Teil­ha­be und Selbst­ver­ständ­nis) in ver­schie­de­nen Grup­pen mit unter­schied­li­cher Zusam­men­setung (Älte­re, Ange­hö­ri­ge, Fach­pfle­ge­kräf­te, bür­ger­schaft­lich Enga­gier­te u. a.) genau­er beleuch­tet wur­den. Somit wur­de sicher­ge­stellt, dass die Sen­si­bi­li­tät für ethi­sche Pro­blem­fel­der bzgl. der Not­ruf­sys­te­me in den unter­schied­li­chen Dis­zi­pli­nen ange­spro­chen und Lösun­gen vor­ge­schla­gen wer­den konn­ten. Schon vor Beginn der Grup­pen­ein­tei­lung hat sich gezeigt, dass die Selbst­be­stim­mung der Bewoh­ner und Bewoh­ne­rin­nen gege­ben sein muss. Daher sind eine Bera­tung über die tech­ni­schen Sys­te­me und vor allem eine Auf­klä­rung über den Vor­gang unum­gäng­lich, die für Trans­pa­renz und Ver­trau­en sorgt. Ein wei­te­rer Aspekt, der ange­spro­chen wur­de, besteht dar­in, dass eine grund­sätz­li­che Auf­klä­rung über die Sys­te­me und ihre Funk­tio­nen not­wen­dig ist. Schließ­lich wur­de im Ver­lauf des Work­shops auch deut­lich, dass neben dem Daten­schutz die Aspek­te Bedie­nung, Funk­ti­on und Ver­läss­lich­keit eine wich­ti­ge Rol­le spielen.

Ergeb­nis­se aus Sicht der Technik

Auch im Hin­blick auf die Tech­nik konn­ten wich­ti­ge Erkennt­nis­se gesam­melt wer­den. Ins­be­son­de­re bei den zwei labo­r­er­prob­ten Pro­to­ty­pen zeig­te sich wei­te­res Ent­wick­lungs­po­ten­zi­al. So wur­de bei­spiels­wei­se im Pro­jekt­ver­lauf das Safe@home-System um Infra­rot­lich­ter erwei­tert. Im Feld hat­te sich näm­lich gezeigt, dass so bes­ser auf die unter­schied­li­chen Licht­ver­hält­nis­se in den Woh­nun­gen ein­ge­gan­gen und die Per­so­nener­ken­nung ver­bes­sert wer­den kann. Um den Daten­schutz der Nut­zer zu wah­ren und Zugrif­fe auf Bild­da­ten zu ver­hin­dern, wur­de die Daten­aus­wer­tung zu Sturz­er­ken­nung direkt in der Häus­lich­keit vor­ge­nom­men, sodass ledig­lich die Infor­ma­ti­on einer vor­lie­gen­den Gefah­ren­si­tua­ti­on aus der Woh­nung trans­por­tiert wird. Die als zunächst unan­ge­nehm emp­fun­de­ne Grö­ße des Vital­box-Moduls des intel­li­gen­ten Tex­tils und auf­tre­ten­de Bewe­gungs­ar­te­fak­te aus dem All­tag führ­ten zu einer Anpas­sung des tex­ti­len Not­fall­sys­tems. Durch die gleich­zei­ti­ge Spei­che­rung der Roh­da­ten aus allen ein­ge­setz­ten Sys­te­men kön­nen von den Tex­ti­li­en erkann­te Ereig­nis­se retro­spek­tiv beur­teilt und Alar­mie­rungs­pa­ra­me­ter zukünf­tig wei­ter ver­bes­sert werden.

Aber auch die unter­schied­li­che Netz­werk­in­fra­struk­tur gera­de in Bezug auf die Inter­net­an­bin­dung für die Sys­te­me hat­te wei­te­re Ent­wick­lun­gen und eine geziel­te­re Aus­wahl von Mobil­funk­be­trei­bern zur Fol­ge. Auch die Funk­reich­wei­te von Sen­so­ren konn­te im Ver­lauf des Pro­jek­tes opti­miert wer­den, sodass das Hausnotruf‑2.0‑System in fle­xi­blen Infra­struk­tu­ren und auch ohne auf­wen­di­ge Netz­über­prü­fun­gen ein­ge­baut wer­den konn­te. Die Ver­bin­dung mit dem Safe@home-System eröff­net die Chan­ce, Stür­ze und Ver­hal­tens­än­de­run­gen gleich­zei­tig zu erken­nen und dadurch ein Sys­tem für Not­fäl­le, aber auch für schlei­chen­de Ände­run­gen zu bie­ten. Wäh­rend der Pro­jekt­lauf­zeit konn­te das bewer­te­te Hausnotruf‑2.0‑System außer­dem zu einem markt­rei­fen Pro­dukt – das Sys­tem „Easier­Li­fe“ – wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den. So konn­ten zur Pro­jekt­lauf­zeit auch bereits Aspek­te der Kos­ten-Nut­zen-Bewer­tung in die Bewer­tung der Pro­ban­den einfließen.

Fazit

Sowohl die älte­ren Test­per­so­nen als auch die Mit­ar­bei­ter erken­nen einen Mehr­wert in den getes­te­ten Not­fall­sys­te­men. Die ein­fa­che Hand­hab­bar­keit und das sub­jek­ti­ve Sicher­heits­ge­fühl, das durch die Sys­te­me gene­riert wird, über­zeug­ten die Pro­ban­den. Die intel­li­gen­ten Tex­ti­li­en bedür­fen dem­ge­gen­über ins­be­son­de­re im Hin­blick auf den Tra­ge­kom­fort noch wei­te­rer Ent­wick­lungs­ar­beit. Das Safe@home-System ist im Ver­gleich zu den ande­ren bei­den Sys­te­men teu­rer, über­zeugt jedoch durch die unmit­tel­ba­re Not­fall­erken­nung. Das Easier­Li­fe-Sys­tem ist kos­ten­güns­tig und bringt nur einen sehr gerin­gen Instal­la­ti­ons­auf­wand mit sich. Da sich die Sys­te­me in der Art und Dau­er der Not­fall­erken­nung unter­schei­den, ist der Ein­satz des jewei­li­gen Sys­tems stark vom indi­vi­du­el­len Bedarf des Nut­zers abhängig.

Für die Autoren:
Vere­na Pfister
Rin­gel­bach­str. 211
72762 Reut­lin­gen
verena.pfister@bruderhausdiakonie.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

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