Vor dieser Kulisse gründete 1971 der Orthopädietechnik-Mechaniker Össur Kristinsson mit Unterstützung einheimischer Organisationen für Menschen mit Behinderung das Unternehmen, das bis heute seinen Namen trägt. Unter der Leitung von CEO Jon Sigurdsson expandierte Össur in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum zweitgrößten Passteile-Anbieter sowohl im Prothesen- als auch im Orthesenbereich. Doch wohin führt der Weg der Isländer, die verstärkt den asiatischen Markt als Abnehmer ihrer Produkte in den Fokus nehmen, die mittlerweile eigene klinische Versorgungszentren betreiben und die gleichzeitig
die Interessen von Patienten und Aktionären zu berücksichtigen haben?
OT: Herr Sigurdsson, Sie sind seit 1996 der Vorsitzende (CEO) von Össur und haben die Weiterentwicklung des Unternehmens nicht nur begleitet, sondern maßgeblich vorangetrieben. Was waren und sind die Hauptgründe Ihres Wachstums?
Jon Sigurdsson: Zu Beginn meiner Tätigkeit bei Össur waren wir knapp 40 Personen. Seitdem ist viel passiert. Für unser Wachstum gibt es zahlreiche Gründe, in erster Linie, dass wir in all den Jahren an der gleichen Strategie festgehalten haben und nie von ihr abgewichen sind. Össur hat sich immer auf eine funktionelle Weiterentwicklung, auf höherwertigere Lösungen fokussiert. Unser maßgebliches strategisches Standbein ist eine technologische Weiterentwicklung mit dem Ziel einer umfassenderen Versorgung von Amputierten und Patienten. Unserer Meinung nach sollte die beste Technologie in allen regionalen Märkten verfügbar sein. Wir glauben daran, dass unsere Partner weltweit Zugang zur gleichen Versorgungsqualität zum Wohle der Patienten besitzen sollten. Dabei ist uns bewusst, dass die Anzahl von Patienten begrenzt ist, doch wir halten an unserer Strategie fest. Ein weiterer Hauptgrund für unser Wachstum ist die Tatsache, dass wir uns dem Vertrieb über orthopädietechnische Betriebe als unsere Partner stets eng verbunden gefühlt haben. Wir glauben daran, dass dieses Umfeld das Beste für unsere Produkte ist. Nicht zuletzt haben wir sehr früh eine bestimmte Unternehmenskultur definiert, von der wir bis heute nie abgewichen sind und die ein Grund für unseren Erfolg ist.
OT: Wie wichtig ist das Jahr 1999 für das Unternehmen gewesen?
Sigurdsson: Wenn Sie auf den Börsengang anspielen, dann war dieser absolut entscheidend für Össur. Ohne ihn wären wir niemals das Unternehmen geworden, das wir heute sind. Denn zuvor sind wir ein 1‑Produkt-Medizintechnik-Unternehmen gewesen, das sich nicht bis heute am Markt gehalten hätte. Im Anschluss an den Börsengang haben wir Century XXII und Flex-Foot Inc. gekauft. Dadurch verfügten wir über eine viel robustere Produktlinie. Mit Flex-Foot hatten wir fortan als Schlüsselfaktor für die Zukunft einen Vertriebskanal in den USA. Ohne die Unterstützung unserer Anleger hätten wir diese Investitionen niemals stemmen können.
OT: Heute ist Össur sowohl im Prothetik- als auch im Orthetik-Segment weltweit die Nummer 2. Mit welchen Strategien festigen Sie diese Position und verringern den Abstand zur Spitze?
Sigurdsson: Wir haben nicht vor, die Lücke zu schließen. Selbstverständlich wäre es eine positive Auswirkung, wenn wir in der Beibehaltung unserer Unternehmensstrategie an die Spitze kommen sollten. Doch unsere Strategie war nie darauf ausgelegt, den Status der Nummer 1, 2 oder 3 einzunehmen.
Wir möchten vor allem in einer guten Position sein, aus der wir unsere Klienten und Kunden bedienen können. Es ist für uns notwendig, eine bestimmte Größe zu haben, um unsere Technologie weiterzuentwickeln. Denn der Bereich Forschung & Entwicklung wird immer kostenintensiver. Wenn wir früher mit zehn Ingenieuren für die Entwicklung eines Produkts ausgekommen sind, benötigen wir heutzutage dafür 50 oder 60 von ihnen.
OT: Stimmt es, dass Sie fünf Prozent Ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung ausgeben?
Sigurdsson: Das stimmt. In der Zukunft werden wir wahrscheinlich noch mehr dafür reinvestieren müssen, da unsere Produkte in ihrer Entwicklung immer komplexer und somit kostenaufwändiger bis zur Marktreife werden.
OT: In welchen regionalen Märkten sehen Sie das größte Wachstumspotenzial?
Sigurdsson: Unsere Strategie der technologischen Weiterentwicklung bedeutet, dass unser relativer Marktanteil in Märkten außerhalb der USA und Westeuropa ungefähr halb so viel beträgt wie in den asiatischen Märkten. Es besteht kein Zweifel daran, dass das wirtschaftliche Wachstum in den nächsten Jahrzehnten in Asien und den entsprechenden Märkten liegt. Wir sind der Ansicht, dass in relativ kurzer Zeit die Bedürfnisse dieser Märkte sich denen in Westeuropa und den USA angleichen werden. Während wir in Bezug auf Europa und den USA von der „alten Welt“ sprechen, wird sich das Wirtschaftswachstum in den „neuen“ Märkten fortsetzen, denn dort liegt das Wachstumspotenzial.
OT: Wie bewerten Sie rückblickend die Käufe von Medi Prosthetics und Touch Bionics?
Sigurdsson: Dies sind zwei sehr unterschiedliche Zukäufe gewesen. Medi ist eine typische Marktanteil-Akquisition mit großen Synergieeffekten, die es uns erlaubt hat, unsere Größe zu steigern. Wir haben damit unser Vertriebssystem ausgebaut, unser Vertriebspersonal und unser Produktmarketing. Für uns ist dies als ein großer Erfolg zu betrachten. Wir leiten den Bereich nun viel effizienter als zuvor, denn wir sind in der Lage gewesen, rund ein Drittel der Kosten einzusparen. Natürlich sind die Verkaufszahlen etwas zurückgegangen, da sich unsere Produkte in ihren Eigenschaften überschnitten haben. Trotzdem haben wir eine Menge an Ausgaben reduziert. Touch Bionics ist eine komplett neue Produktlinie, bei der wir gar keine Kosten eingespart haben. Vielmehr haben wir einen Produktbereich ergänzt, nämlich den der oberen Extremitäten, den wir so zuvor nicht besessen haben. Deshalb haben wir ihn unserem Portfolio hinzugefügt.
Internationaler Wettbewerb
OT: Teilen Sie die Ansicht, dass der Zukauf von relevanten Marktakteuren in Zukunft von den Wettbewerbsbehörden weitestgehend untersagt werden wird? Ein aktuelles Beispiel ist die ausstehende Genehmigung für Ihr Bemühen um College Park Industries in den USA.
Sigurdsson: Insbesondere die US-amerikanische Wettbewerbsbehörde (FTC) ist sehr gut informiert in Bezug auf die Prothetik-Industrie. Zum Beispiel hat es uns bis hierhin eine Menge Aufwand gekostet, die FTC davon zu überzeugen, dass wir in der Lage sind, College Park zu übernehmen. Nichtsdestotrotz bin ich zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein werden. Darüber hinaus wird es zukünftig unwahrscheinlich, oder besser schwierig werden, Prothesenhersteller
zu kaufen. Zumindest werden wir weiterhin kleine Akteure oder Technologie-Unternehmen, die uns ein höherwertiges Leistungsangebot bieten, übernehmen
können. (Anmerkung der Redaktion: Nach dem Interview hat die FTC einer möglichen Übernahme von College Park durch Össur unter Auflagen zugestimmt.)
OT: Versteht sich Össur in Zukunft in erster Linie als Händler von Passteilen oder vielmehr als Betreiber orthopädietechnischer Betriebe?
Sigurdsson: In verschiedenen Märkten gab es einen sehr aggressiven Wettbewerb darum, orthopädietechnische Betriebe zu kaufen, um nicht aus dem Markt gedrängt zu werden. Also mussten wir hier aktiv werden. Aber ich forciere keine Beteiligung an der Branche in Deutschland, solange wir nicht aus Wettbewerbsgründen dazu gezwungen werden. Die Betriebe, die wir in anderen Märkten erworben haben, sind Ergebnisse der lokalen Marktdynamik. Nehmen
wir das Beispiel Schweden: Wenn wir TeamOlmed nicht gekauft hätten, wären wir auf dem dortigen Markt gar nicht. Grundsätzlich gibt es in Schweden nur drei relevante Akteure und einer unserer Konkurrenten ist einer der sehr großen. Unsere beste Position wäre es grundsätzlich, uns als Hersteller und Entwickler von orthopädietechnischen Hilfsmitteln treu zu bleiben. Dies hat uns groß gemacht und das wollen wir bleiben.
OT-Betriebe beim Vertrieb erste Wahl
OT: Auf welche Vertriebswege setzen Sie, insbesondere für integrierte Systemlösungen, auf dem deutschen Markt mit seiner individuellen Versorgungs- und Behandlungsstruktur?
Sigurdsson: Der Vertrieb unserer Produkte wird bei unseren Partnern, den orthopädietechnischen Betrieben, verbleiben. Unsere innovativen Lösungen benötigen Fachkräfte, die in der Lage sind, die bestmögliche Versorgung mit den passenden Produkten auszuwählen und durchzuführen.
OT: Die OTWorld ist aufgrund der globalen Corona-Krise auf Ende Oktober 2020 verschoben worden. In welchem Maße beeinflusst die aktuelle Situation Ihre Produktplanungen?
Sigurdsson: Unsere Produktentwicklung läuft natürlich weiter, da unsere Mitarbeiter dezentral von allen Standorten aus weltweit arbeiten können und wir sehr innovative Wege der Zusammenarbeit gehen. Leider wird niemand von dieser Krise und der damit verbundenen Unsicherheit unberührt bleiben. Unser Fokus liegt auf der Gesundheit und dem Wohlergehen unserer Mitarbeiter, Kunden, Anwender und Gemeinschaften.
OT: Neben einem Fokus auf die Arthrose-Behandlung widmen Sie sich derzeit verstärkt postoperativen Behandlungslösungen? Welche Innovationen können diesbezüglich auf der OTWorld im Herbst und im Allgemeinen erwartet werden?
Sigurdsson: Wir entwickeln Orthesen für eine konservative Behandlung, und wir glauben daran, dass eine konservative Behandlung im Vergleich mit invasiven Methoden wie etwa einer Operation weltweit eine relevante Bedeutung bei den Gesundheitsbehörden einnimmt. Außerdem sind wir der Meinung, dass sie das orthopädietechnische Vertriebsnetz sehr gut ergänzen. Dadurch können wir in der Orthopädie-Technik unseren Beitrag für eine bessere Versorgung leisten. Unser Fokus lag und liegt darauf, dass wir gemeinsam mit den Ärzten und Orthopädie-Technikern konservative Versorgungsmöglichkeiten in die allgemeinen Behandlungsstandards einfließen lassen. Wir haben nicht vor, alle Vorgehensweisen auf den Kopf zu stellen, sondern möchten mit den Experten auf dem entsprechen Gebiet zusammenarbeiten, um möglicherweise die Notwendigkeit einer Operation hinauszuzögern. Zum Beispiel mit unserer Kniegelenksorthese „Unloader One X“ für die Arthrose-Behandlung des Kniegelenkes. Neu auf dem Markt ist die „Rebound ACL“-Orthese zur Entlastung des vorderen Kreuzbandes, die die „Rebound PCL“-Orthese für das hintere Kreuzband in unserem Portfolio ergänzt. All diese Hilfsmittel sind biomechanische Behandlungslösungen für diejenigen, die sich von Kreuzband-Verletzungen erholen, bzw. an Knie-Arthrose leiden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich in Absprache mit dem behandelnden Chirurgen der Rehabilitationsfortschritt nach einer Operation verbessern lässt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die „Rebound Cartilage“-Orthese, die den Genesungsprozess nach einer Knorpel- oder Meniskusoperation unterstützt.
OT: Wie geht Össur mit der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) um, deren verbindliches Inkrafttreten aufgrund der Corona-Krise auf Mai 2021 verschoben wird.
Sigurdsson: Die Implementierung der Dokumentation ist zunächst einmal einfach, sie erfordert allerdings unglaublich viel Aufwand und Zeit. Ich schätze, dass sich während der letzten drei bis vier Jahre mehr als zehn unserer Ingenieure ausschließlich damit beschäftigt haben, die gesamte Dokumentation den Standards der MDR anzupassen. Wir sind damit mittlerweile fertig und MDR-konform. Aber es hat uns viel Geld gekostet, und ich befürchte, dass viele kleine Unternehmen in der Branche, hauptsächlich kleinere Hersteller, nicht in der Lage sind, dies uns gleichzutun. Für ein kleines Start-Up könnte dies das Aus bedeuten. Ich bezweifele, dass weder Össur noch Flex-Foot oder Century XXII, die drei Unternehmen, auf denen unser Erfolg aufbaut, hinsichtlich der Vorschriften heute wie vor zwanzig Jahren hätten gegründet werden können. Für alle wäre es äußerst schwierig gewesen, die MDR-Standards von Anfang
an zu erfüllen.
Die Hilfe für den Patienten steht im Mittelpunkt
OT: Was sind Ihre digitalen Strategien in einem disruptiven Marktumfeld?
Sigurdsson: Zunächst einmal unterliegen wir als ein Unternehmen für Medizinprodukte einer sehr strengen Regulierung. Ebenso werden unsere Produkte über einen sehr regulierten Markt und Vertriebskanal verkauft. Hier sind absehbar keine großen Veränderungen zu erwarten. Vielmehr revolutioniert sich die Art und Weise des Vertriebs. Beispielsweise haben unsere Kunden zukünftig direkten Zugriff auf unseren Warenbestand. Sie können Einkauf und Zahlung direkt erledigen. Alle diese Prozesse werden digitalisiert. Wir legen großen Wert darauf, unsere Kundeninteraktionen noch effizienter zu gestalten. Derzeit gehen noch viele Kundenbestellungen per Fax bei uns ein. Es gibt also noch viel zu tun. Einschränkend sei aber auch gesagt, dass ich nicht damit rechne, dass wir zum Beispiel unser „Power Knee“ in absehbarer Zeit über das Internet vertreiben werden. Natürlich sehen wir die digitalen Fortschritte auch in der Produktentwicklung. Alle Fortschritte in der Softwareentwicklung, der Wearable-Technologie usw. fließen immer mehr in die Prothetik ein. Dies kommt dem Anwender sehr zu gute. Sehr spannend sind auch die Fortschritte bei der digitalisierten Ergebnismessung. Dies wird dabei helfen, die Krankenkassen davon zu überzeugen, dass unsere Versorgungslösungen aus medizinischer Sicht hilfreich, angebracht und nachhaltig sind. Ich denke, hier liegt allgemein die größte Herausforderung in der orthopädietechnischen Branche, da wir alle einem Irrglauben unterliegen. Angefangen bei uns, denn früher dachten wir automatisch, dass Prothesen teuer seien – aber sie sind es nicht! Sie sind günstig, wenn wir sie mit dem Ergebnis vergleichen, das sie liefern. Sie sind teuer, wenn man sie mit den Lösungen vor dreißig Jahren vergleicht. Das ist aber nicht der richtige Maßstab. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie können wir unseren Patienten helfen? Darauf kommt es an.
OT: Össur legt sehr viel Wert auf seine Unternehmenswerte. Wie vereinen Sie nachhaltig die Interessen der Mitarbeiter, Geschäftspartner, Anleger und nicht zuletzt der Patienten?
Sigurdsson: Es ist sicherlich keine leichte Aufgabe, aber wir glauben fest daran: Die Anwender und Patienten sowie unsere Kunden stehen für uns unverrückbar an erster Stelle. Um dies zu gewährleisten, benötigen Sie als Unternehmen eine motivierte Belegschaft. Sie müssen zufriedene Leute um sich haben, denn die Mitarbeiter können ihre Firma nach Belieben verlassen. Wir leisten viel und investieren viel Geld, um die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu messen. Das heißt zusammengefasst, Sie müssen ihr Augenmerk auf Patienten, Kunden, ihre Mitarbeiter und das allgemeine Arbeitsumfeld richten. Erst dann folgt der Gewinn. Denn wenn Sie es andersherum angehen und beim Gewinn anfangen, läuft man Gefahr alles andere zu vermasseln. Wir schätzen uns als Hilfsmittelhersteller sehr glücklich, ein Teil des Markts zu sein. Unsere Motivation ist es, Menschen zu helfen. Das treibt uns alle bei Össur an. Ich glaube fest an den respektvollen Umgang miteinander, besonders in dieser überschaubaren Branche. Andernfalls spricht es sich schnell herum. Ich denke, wir genießen in der Branche einen guten Ruf. Die Beteiligten denken wahrscheinlich, dass unsere Produkte teuer sind, aber sie mögen uns irgendwie. Respekt spielt immer eine große Rolle und ich bin überzeugt, dass Respekt gegenüber dem Anderen gleichmäßig verteilt sein muss. Dem CEO von Össur sollte nicht mehr Respekt gezollt werden als jedem anderen im Unternehmen. Gerade als Führungskraft müssen Sie hart für Ihren Respekt arbeiten und erwerben ihn nicht mit Ihrem Titel, sondern durch Ihre Handlungen. Als CEO muss ich sogar härter für Anerkennung arbeiten als jeder andere. Ich möchte zum Abschluss folgendes festhalten: Die Grundwerte von Össur sind Ehrlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Mut. Wenn es eine Sache im Unternehmen gibt, die fast jeder Mitarbeiter wissen und verstehen wird, dann sind es unsere Werte.
Die Fragen stellte Michael Blatt.