Gang­mus­ter von Ampu­tier­ten in Abhän­gig­keit vom Amputationsniveau

D.W.W. Heitzmann, J. Block, F. Braatz, S.I. Wolf, M. Alimusaj
In dieser Studie wurden retrospektiv die Gangdaten von 85 Prothesennutzern mit unterschiedlichen Amputationshöhen analysiert. Die individuellen Unterschiede zwischen den Anwendern, z. B. in deren physischen Fähigkeiten und der technischen Ausführung der Versorgung, wurden vernachlässigt, um grundlegende funktionelle Unterschiede beim Gehen aufzuzeigen. Zusammenfassend bestätigt sich der allgemeine klinische Eindruck, dass die Gruppe der Anwender mit sehr hohen Amputationen, wie z. B. einer Hüftexartikulation oder einer Hemipelvektomie, die stärksten Abweichungen zum physiologischen Gang aufweisen.

Ein­lei­tung

Das Labor für Bewe­gungs­ana­ly­se der Ortho­pä­di­schen Uni­ver­si­täts­kli­nik in Hei­del­berg wur­de pri­mär mit dem Ziel der The­ra­pie­pla­nung und Erfolgs­kon­trol­le von ope­ra­ti­ven Ein­grif­fen bei Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Gang­stö­run­gen eta­bliert. Jedoch wur­den über vie­le Jah­re hin­weg auch Pro­the­sen­nut­zer unter­schied­li­cher Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus unter­sucht. Hin­ter­grund waren Stu­di­en zu Pro­the­sen­pass­tei­len wie auch beson­de­re kli­ni­sche Ein­zel­fäl­le. Die­ser Daten­pool bie­tet sich an, um Cha­rak­te­ris­ti­ka des Gang­bil­des in Abhän­gig­keit vom Ampu­ta­ti­ons­ni­veau abzuleiten.

Anzei­ge

Eine Ampu­ta­ti­on der unte­ren Extre­mi­tät geht offen­sicht­lich mit einer Ände­rung der Bio­me­cha­nik des gesam­ten Bewe­gungs­ap­pa­ra­tes ein­her 1. Pro­the­sen kön­nen die­se Ein­schrän­kun­gen, wie z. B. einen Ver­lust an Leis­tungs­fä­hig­keit oder eine geän­der­te bzw. feh­len­de Sen­so­rik und Pro­prio­zep­ti­on, bis dato nur unvoll­stän­dig aus­glei­chen 2. Als Kon­se­quenz wei­sen Pro­the­sen­nut­zer Sei­ten­asym­me­trien und Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men beim Gehen auf. Hier­bei ist es nahe lie­gend, dass Pati­en­ten mit unter­schied­li­chen Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus typi­sche und jewei­lig cha­rak­te­ris­ti­sche Gang­bil­der auf­grund von spe­zi­fi­schen Ein­schrän­kun­gen zeigen.

Ver­schie­de­ne Arbei­ten cha­rak­te­ri­sie­ren das Gang­bild einer Ampu­ta­ti­ons­hö­he z. B. bei Unter­schen­kel- 3 oder Ober­schen­kel­am­pu­tier­ten 4. Uns ist jedoch nur die Arbeit von Lud­wigs und Kol­le­gen 5 zu bio­me­cha­ni­schen Cha­rak­te­ris­ti­ka von unter­schied­li­chen Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus bekannt. Gene­rell zeigt sich, dass bei höhe­ren Ampu­ta­tio­nen die Abwei­chun­gen im Ver­gleich zum phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild grö­ßer wer­den. Je höher das Ampu­ta­ti­ons­ni­veau, des­to mehr Gelen­ke sind von der Ampu­ta­ti­on betrof­fen. Wei­ter­hin sind Anwen­der mit einem hohem Ampu­ta­ti­ons­ni­veau mit kur­zen funk­tio­nel­len Hebeln, einer voll­kom­men geän­der­ten Pro­prio­zep­ti­on und einem gro­ßen Ver­lust an Mus­ku­la­tur 6 und Kraft 7 konfrontiert.

Neben die­sen nut­zer­spe­zi­fi­schen Ein­fluss­fak­to­ren haben natür­lich auch die tech­ni­schen Eigen­schaf­ten der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung einen Ein­fluss auf das Gang­bild. Die Wahl der Pass­tei­le 8, deren Auf­bau 9 10 und das Schaft­de­sign sind wich­ti­ge Ein­fluss­fak­to­ren, um die indi­vi­du­ell best­mög­li­che Ver­sor­gung zu errei­chen. Auch phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men, wie z. B. eine Pro­the­sen­ge­brauchs­schu­lung bzw. Geh­schu­le, sind als Ein­fluss­fak­to­ren zu nen­nen. Die­se spe­zi­fi­schen Ein­flüs­se sol­len hier jedoch ver­nach­läs­sigt wer­den. Unab­hän­gig von der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung der Nut­zer und deren indi­vi­du­el­len phy­si­schen Leis­tungs­fä­hig­keit soll eine Aus­sa­ge über das jewei­li­ge cha­rak­te­ris­ti­sche Gang­mus­ter eines Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus getrof­fen wer­den, um grund­le­gen­de Pro­ble­me der jewei­li­gen Ampu­ta­ti­ons­hö­he beim Gehen aufzuzeigen.

Hier­zu konn­ten retro­spek­tiv die Daten von 85 Pro­the­sen­nut­zern unter­schied­li­cher Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus in die­se Stu­die ein­ge­schlos­sen wer­den. Es wur­den die Mit­tel­wer­te der Kine­ma­tik (Gelenk­win­kel) und der Raum-Zeit-Para­me­ter (z. B. Geh­ge­schwin­dig­keit, Schritt­län­ge) betrach­tet, um einen Ein­druck über die prin­zi­pi­el­len Gang­cha­rak­te­ris­ti­ka zu erhalten.

Mate­ri­al und Methoden

Pati­en­ten- und Probandenkollektiv

Die Daten von ins­ge­samt 85 Pro­the­sen­nut­zern (16 weib­lich; Grö­ße 167 cm ± 7 cm; Gewicht 62 kg ± 17 kg; Alter 39 Jah­re ± 12 Jah­re / 69 männ­lich; Grö­ße 177 cm ± 23 cm; Gewicht 80 kg ± 20 kg; Alter 42 Jah­re ± 14 Jah­re) mit unter­schied­li­chem uni­la­te­ra­len Ampu­ta­ti­ons­ni­veau wur­den retro­spek­tiv in die­se Stu­die ein­ge­schlos­sen. Die Anwen­der konn­ten fol­gen­den Grup­pen zuge­ord­net wer­den: Hemi­pel­vek­to­mie (HP, 4 Pro­ban­den), Hüf­tex­ar­ti­ku­la­ti­on (HE, 10 Pro­ban­den), trans­fe­mo­ra­le Ampu­ta­ti­on (TFA, 38 Pro­ban­den) und trans­ti­bia­le Ampu­ta­ti­on (TTA, 33 Pro­ban­den). Die ver­wen­de­ten Pro­the­sen­pass­tei­le der Anwen­der sind, soweit doku­men­tiert, in Tabel­le 1 auf­ge­lis­tet. Im Wesent­li­chen wur­den Ener­gie-rück­ge­ben­de Füße ein­ge­setzt. Es kamen unter ande­rem die Model­le C‑Walk© und Tri­as© der Fir­ma Otto Bock und die Model­le Vari-Flex©, Vari-Flex© Modu­lar und Talux© der Fir­ma Össur zum Ein­satz. Neben den Ener­gie-rück­ge­ben­den Füßen wur­den auch Füße mit Ener­gie-absor­bie­ren­den Ele­men­ten ein­ge­setzt, wie z. B. der Mul­tiflex© (Endo­li­te) oder der True Step© (Col­lege Park). Bei den Mikro­pro­zes­sor-gesteu­er­ten Knie­ge­len­ken kamen aus­schließ­lich das C‑Leg© (Otto Bock) und das Rheo Knee© (Össur) zum Ein­satz. In der Grup­pe der poly­zen­tri­schen Gelen­ke wur­den die Pro­duk­te 3A2000© (Strei­fen­e­der) und 3R60© (Otto Bock) ein­ge­setzt. Bei den mono­zen­tri­schen, nicht Mikro­pro­zes­sor-gesteu­er­ten Gelen­ken wur­de aus­schließ­lich das Gelenk XG-Mauch© (Össur) ein­ge­setzt. Drei von 14 HP bzw. HE wur­den mit einer Kom­bi­na­ti­on aus einem C‑Leg© und einer Helix3D© Hüf­te (bei­des Otto Bock) ver­sorgt. Alle TTA ver­wen­de­ten Kurz­pro­the­sen und alle TFA Voll­kon­takt­schäf­te. Die­se waren jedoch mit unter­schied­li­chen Schaft­de­signs und Sus­pen­si­ons­tech­ni­ken aus­ge­stat­tet. Die 3 HE-Ver­sor­gun­gen mit dem Helix3D©-Hüft­ge­lenk wur­den mit einem Car­bon­rah­men­schaft mit Sili­ko­nin­let ver­sorgt. Zu Ver­gleichs­zwe­cken wur­den die Daten von 17 gesun­den Pro­ban­den ver­wen­det (NORM; 7 weib­lich und 10 männ­lich; Grö­ße 178 cm ± 7.9 cm; Gewicht 72 kg ± 13.8 kg; 28 Jah­re ± 5,6 Jahre).

Gang­ana­ly­se

Alle Pro­ban­den durch­lie­fen im Zeit­raum von 1993 bis 2010 eine instru­men­tel­le 3D-Gang­ana­ly­se für das Gehen in der Ebe­ne. Hier­für wur­de ein opto­elek­tro­ni­sches Bewe­gungs­ana­ly­se­sys­tem der Fir­ma Vicon (Oxford, Groß­bri­tan­ni­en) ein­ge­setzt. Über auf der Haut bzw. der Pro­the­se ange­brach­te Mar­ker­ku­geln defi­nie­ren dabei Seg­men­te, die als Berech­nungs­grund­la­ge für die Gelenk­win­kel die­nen. Die Posi­tio­nie­rung der Mar­ker auf ana­to­mi­schen Land­mar­ken des Pro­ban­den und die Berech­nun­gen der Kine­ma­tik (Gelenk­win­kel) erfolg­te gemäß dem Modell „Plug­in-Gait“ (Vicon, Oxford, Groß­bri­tan­ni­en), wel­ches auf dem bio­me­cha­ni­schen Modell von Kad­a­ba basiert 11 12 13.

Für die­se Stu­die wur­de die sagit­ta­le Kine­ma­tik des Beckens, des Hüft­ge­lenks, des Knie­ge­lenks und des obe­ren Sprung­ge­lenks jeweils für die betrof­fe­ne und nicht betrof­fe­ne Sei­te betrach­tet. Als Daten­ba­sis die­nen über meh­re­re Schrit­te jeweils gemit­tel­te Geh­durch­gän­ge jedes Pro­the­sen­nut­zers, die ent­spre­chend der Ampu­ta­ti­ons­hö­he einer der vier Grup­pen HP, HE, TFA und TTA zuge­ord­net wur­den. Die­se Mit­tel­wer­te für jeden ein­zel­nen Pro­ban­den wur­den über die Grup­pen wie­der­um gemit­telt, um das Gang­bild für jede Unter­grup­pe abzuleiten.

Neben der Kine­ma­tik wur­den die Raum-Zeit-Para­me­ter ermit­telt. Die­se schlie­ßen die Schritt­län­ge, Schritt­dau­er, Ein­zel­un­ter­stüt­zungs­dau­er und die Stand­pha­sen­dau­er der betrof­fe­nen und nicht betrof­fe­nen Sei­te ein. Eben­falls wur­den nicht sei­ten­be­zo­ge­ne Raum-Zeit-Para­me­ter wie Kadenz (Schrit­te pro Minu­te) und die Geh­ge­schwin­dig­keit erho­ben. Wei­ter wur­de ein Sym­me­trie­in­dex (SI) der sei­ten­be­zo­ge­nen Gang­pa­ra­me­ter über das Ver­hält­nis zwi­schen der betrof­fe­nen Sei­te und der nicht betrof­fe­nen Sei­te berech­net 14. Wer­te für den SI um 1 zei­gen eine gro­ße Sym­me­trie an. Je wei­ter der SI von 1 ent­fernt ist, posi­tiv wie auch nega­tiv, des­to grö­ßer ist die Asym­me­trie für den ent­spre­chen­den Para­me­ter zwi­schen der betrof­fe­nen und nicht betrof­fe­nen Seite.

Ergeb­nis­se

Raum-Zeit-Para­me­ter

Für die höhe­ren Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus sind die sei­ten­be­zo­ge­nen Raum-Zeit-Para­me­ter Kadenz und Geh­ge­schwin­dig­keit nied­ri­ger im Ver­gleich zu den nied­ri­ge­ren Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus. Eine Aus­nah­me die­ses Trends ist die Kadenz bei der Grup­pe HP, die im Ver­gleich zu HE eine höhe­re Kadenz, also mehr Schrit­te pro Minu­te, aufweist.

Der Ver­gleich der sei­ten­be­zo­ge­nen Raum-Zeit-Para­me­ter inner­halb der Grup­pen zeigt bei allen Grup­pen Asym­me­trien in der Schritt­dau­er, der Ein­zel­un­ter­stüt­zungs­pha­se und auch in der Stand­pha­sen­dau­er zwi­schen der nicht betrof­fe­nen und betrof­fe­nen Sei­te (Tab. 2). Es zeigt sich, dass bei höhe­ren Ampu­ta­tio­nen die­se Asym­me­trien grö­ßer aus­fal­len. Mit einer Schritt­län­ge von 0,54 m für bei­de Sei­ten weist die Grup­pe HP den gerings­ten Wert aller Grup­pen auf. Hier zeigt sich jedoch eine sym­me­tri­sche Schrittlänge.

Wei­ter wur­de ein Bezug zu phy­sio­lo­gi­schen Raum-Zeit-Para­me­tern her­ge­stellt, indem die Ergeb­nis­se auf die ent­spre­chen­den Para­me­ter der Refe­renz nor­miert wur­den. 100 % ent­spre­chen also dem Ergeb­nis der Refe­renz (Abb. 1).

Kine­ma­tik

In der Dar­stel­lung der Kine­ma­tik zeigt sich grund­sätz­lich, dass bei höhe­ren Ampu­ta­tio­nen grö­ße­re Abwei­chun­gen zum Norm­kol­lek­tiv (grau­es Band = Mit­tel­wert ± Stan­dard­ab­wei­chung), ins­be­son­de­re der betrof­fe­nen Sei­te, auf­tre­ten (Abb. 2). Die sagit­ta­le Becken­be­we­gung ver­läuft bei der Grup­pe TTA inner­halb des Ban­des des Refe­renz­kol­lek­tivs, bei TFA zeigt sich eine Ten­denz zur Becken­vor­kip­pung und die Grup­pen HE und HP wei­sen ein deut­lich ver­grö­ßer­tes Bewe­gungs­aus­maß auf (Abb. 2). Die Hüft­ki­ne­ma­tik der Grup­pe TTA ist für bei­de Sei­ten am bes­ten an die Wer­te der Refe­renz ange­nä­hert. Die Grup­pe TFA zeigt Abwei­chun­gen der betrof­fe­nen Sei­te in der ers­ten Hälf­te der Stand­pha­se in Form einer ver­min­der­ten Hüft­fle­xi­on (sie­he Abb. 2). Die Grup­pen HP und HE wei­sen eine deut­lich ver­än­der­te Hüft­ki­ne­ma­tik für bei­de Sei­ten auf. Hier zeigt sich eine deut­li­che Reduk­ti­on des Bewe­gungs­aus­ma­ßes für die betrof­fe­ne Sei­te und ein ver­grö­ßer­tes Bewe­gungs­aus­maß für die erhal­te­ne Sei­te im Ver­gleich zur Refe­renz. Das Bewe­gungs­aus­maß des pro­the­ti­schen Knie­ge­lenks in der Schwung­pha­se sinkt mit zuneh­men­der Höhe der Ampu­ta­ti­on (sie­he Abb. 2).

Die Grup­pe TTA ist durch eine ver­min­der­te Stand­pha­sen­fle­xi­on des Knie­ge­lenks der betrof­fe­nen Sei­te von ca. 10° wäh­rend der Belas­tungs­ant­wort gekenn­zeich­net. Die pro­the­ti­schen Knie­ge­len­ke der Grup­pen TFA, HE und HP zei­gen kei­ne bzw. eine stark redu­zier­te Stand­pha­sen­fle­xi­on in der Belas­tungs­ant­wort (sie­he Abb. 2/ ers­tes Drit­tel der Stand­pha­se). Für die Knie­ge­lenks­ki­ne­ma­tik der erhal­te­nen Sei­te wei­sen die Grup­pen TTA und TFA im Mit­tel einen phy­sio­lo­gi­schen Kur­ven­ver­lauf auf. Die Grup­pen mit hohen Ampu­ta­tio­nen (HP und HE) haben eine erhöh­te Knie­ge­lenks­fle­xi­on in der mitt­le­ren Stand­pha­se. Die Dor­sal­ex­ten­si­on in der mitt­le­ren Stand­pha­se der erhal­te­nen Sei­te ist für die Grup­pen TFA, HE und HP vermindert.

Dis­kus­si­on

Raum-Zeit-Para­me­ter

Bei Betrach­tung der gemit­tel­ten Wer­te inner­halb der Grup­pen wird deut­lich, dass mit der Höhe der Ampu­ta­ti­on die Asym­me­trie zwi­schen bei­den Sei­ten ansteigt. Dies ist auf­grund der funk­tio­nel­len Aus­wir­kung der jewei­li­gen Ampu­ta­ti­on, bzw. wie vie­le der drei gro­ßen Gelen­ke (obe­res Sprung­ge­lenk, Knie- und Hüft­ge­lenk) invol­viert sind, ein nahe lie­gen­des Ergeb­nis und deu­tet auf eine ver­min­der­te Steue­rungs­fä­hig­keit der Pro­the­se bei höhe­ren Ampu­ta­tio­nen hin. Sym­me­trie wird im kli­ni­schen Kon­text typi­scher­wei­se mit einem nor­ma­len, nicht patho­lo­gi­schen Gang­bild in Ver­bin­dung gebracht. Am Bei­spiel der Schritt­län­ge der HP zeigt sich, dass sym­me­tri­sche sei­ten­be­zo­ge­ne Raum-Zeit-Para­me­ter nicht aus­schließ­lich als Indi­ka­tor für ein phy­sio­lo­gi­sches Gang­bild ein­ge­setzt wer­den kön­nen, da iden­ti­sche patho­lo­gi­sche Abwei­chun­gen bei­der Sei­ten eben­falls sym­me­trisch sind. Als Bei­spiel hier­für ist das Gang­bild nach bila­te­ra­len Ampu­ta­tio­nen zu nen­nen. So zei­gen bei­spiels­wei­se Unter­schen­kel­am­pu­tier­te eine sym­me­tri­sche Schritt­län­ge und Stand­pha­sen­dau­er, gleich­zei­tig aber eine ver­rin­ger­te Schritt­län­ge und Geh­ge­schwin­dig­keit im Ver­gleich zu einem Refe­renz­kol­lek­tiv 15.

Wei­ter weist die Grup­pe HP eine höhe­re Kadenz im Ver­gleich zum nächst nied­ri­ge­ren Ampu­ta­ti­ons­ni­veau (Grup­pe HE) auf. Dar­an wird deut­lich, dass die kür­ze­re Schritt­län­ge der Grup­pe HP anschei­nend nicht aus­reicht, um sich ange­mes­sen schnell fort­zu­be­we­gen. In der Grup­pe HP wird dies mit einer höhe­ren Kadenz (Schritt­fre­quenz) aus­ge­gli­chen, um nicht zu viel an Geh­ge­schwin­dig­keit zu ver­lie­ren. Die­se bleibt jedoch mit 0,91 m/s um rund ein Drit­tel lang­sa­mer als im Refe­renz­kol­lek­tiv mit 1,42 m/s.

Kine­ma­tik

Die gemit­tel­ten Wer­te der Kine­ma­tik inner­halb der Grup­pen zei­gen ein­drück­lich, dass bei den hohen Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus (HP und HE) nur noch das Becken zur Steue­rung der Pro­the­se ver­bleibt. Das gro­ße unphy­sio­lo­gi­sche Bewe­gungs­aus­maß der Becken­kip­pung in den Grup­pen HP und HE und das redu­zier­te Bewe­gungs­aus­maß der Hüf­te sind ein­deu­ti­ge Anzei­chen hier­für. Bei der Bewer­tung der Becken­kip­pung ist eine Limi­tie­rung des bio­me­cha­ni­schen Modells zu beach­ten. Hier wird nicht die Becken­be­we­gung, son­dern die Bewe­gung des Becken­korbs gegen­über dem Raum betrach­tet, da die Mar­ker zwangs­wei­se auf den Korb geklebt wer­den. In den Grup­pen HP und HE wird die Pro­the­se mit einer gro­ßen Rück­kip­pung des Becken­kor­bes auf­ge­setzt (Abb. 2 / Becken­kip­pung beim FS). Inner­halb der gesam­ten Stand­pha­se wird der Becken­korb all­mäh­lich nach vor­ne gekippt, um in der Schwung­pha­se wie­der zurück zu kippen.

Man erkennt also deut­lich, dass die feh­len­de Beweg­lich­keit der pro­the­ti­schen Hüf­te mit­tels einer ver­stärk­ten Bewe­gung des Beckens aus­ge­gli­chen wer­den muss, um die betrof­fe­ne Sei­te nach vor­ne zu bewe­gen. Moder­ne­re Ver­sor­gungs­kon­zep­te, wie z. B. das Helix3D© Hüft­ge­lenk in Kom­bi­na­ti­on mit dem C‑Leg© (Otto Bock, Duder­stadt, Deutsch­land), gehen auf die­sen Umstand ein und tra­gen dazu bei, das Bewe­gungs­aus­maß der Becken­kip­pung zu redu­zie­ren 16.

Die Knie­ge­lenks­ki­ne­ma­tik der betrof­fe­nen Sei­te ist in der Grup­pe TTA am bes­ten dem Refe­renz­kol­lek­tiv ange­nä­hert. Hier zeigt sich im Wesent­li­chen eine um ca. 10° redu­zier­te Knie­beu­gung in der Belas­tungs­ant­wort der Stand­pha­se. Dies deu­tet dar­auf hin, dass in der Grup­pe TTA eine ver­min­der­te Kon­trol­le des Knie­ge­lenks vor­liegt, was z. B. auf ein Kraft­de­fi­zit des betrof­fe­nen Knie­ge­lenks zurück­ge­führt wer­den kann 17 18. Die Knie­ge­lenks­ki­ne­ma­tik in der Grup­pe TFA zeigt, dass ein „Yiel­ding“ bzw. „Boun­cing“ des pro­the­ti­schen Knies anschei­nend nicht genutzt wird. Dies mag im Ein­zel­fall anders sein, da eine Mit­te­lung über die gesam­te Grup­pe Ein­zel­er­geb­nis­se ver­schlei­ert. Wei­ter kommt hin­zu, dass nicht alle Details der Ver­sor­gun­gen bekannt sind und zu den frü­hes­ten Mess­zeit­punk­ten z. B. Mikro­pro­zes­sor-gesteu­er­te Gelen­ke noch gar nicht ver­füg­bar waren.

Bei den Grup­pen HP und HE ist die Knie­ge­lenks­ki­ne­ma­tik der Pro­the­se deut­lich redu­ziert, was mit einer Reduk­ti­on der Schwung­pha­sen­frei­heit ein­her geht. Die ver­mehr­te Knief­le­xi­on der erhal­te­nen Sei­te in der Ein­zel­un­ter­stüt­zungs­pha­se der Grup­pen HP und HE ist schwer zu inter­pre­tie­ren. Zum einen könn­te die­ses Ver­hal­ten dazu die­nen, den Bewe­gungs­um­fang der Becken­kip­pung zu ver­grö­ßern, da bei einem flek­tier­ten Knie­ge­lenk der erhal­te­nen Sei­te der Becken­korb in der Schwung­pha­se der betrof­fe­nen Sei­te nomi­nell wei­ter zurück gekippt wer­den kann. Dies wie­der­um könn­te dazu die­nen, die Schritt­län­ge der Pro­the­se zu ver­grö­ßern. Wei­ter wäre es denk­bar, dass die Steue­rung des Kör­per­schwer­punkts mit­tels der erhal­te­nen Hüf­te in den Grup­pen HP und HE auf­grund des Becken­kor­bes ein­ge­schränkt ist, und die­se Steue­rung zum Teil vom erhal­te­nen Knie­ge­lenk über­nom­men wird.

Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men, wie z. B. ein frü­hes Ablö­sen der Fer­se des erhal­te­nen Beins zur Sicher­stel­lung der Schwung­pha­sen­frei­heit, tre­ten bei höhe­rer Ampu­ta­ti­on häu­fi­ger auf. Dies kann man in der OSG-Kine­ma­tik der erhal­te­nen Sei­te an der ver­mehr­ten Plant­ar­fle­xi­on in der mitt­le­ren Stand­pha­se in den Grup­pen TFA, HE und HP erken­nen. Die­ser Mecha­nis­mus führt zu einem unphy­sio­lo­gi­schen und vor allem unöko­no­mi­schen Gang­bild, da hier­durch der Kör­per­schwer­punkt im Raum weit­aus mehr ver­ti­ka­le Bewe­gung auf­weist als beim phy­sio­lo­gi­schen Gehen. Die ver­ti­ka­le Bewe­gung des Mas­sen­schwer­punkts beträgt beim phy­sio­lo­gi­schen Gehen ca. 4,5 cm 19.

Zusam­men­fas­sung

Abschlie­ßend wird durch die Stu­die deut­lich, dass in Abhän­gig­keit des Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus die Geh­ge­schwin­dig­keit und die Kadenz deut­lich abneh­men. Die Kadenz wird zwar kom­pen­sa­to­risch in der Grup­pe HP erhöht, ent­spricht jedoch nur ca. 2/3 der Kadenz des Refe­renz­kol­lek­ti­ves. Die Kine­ma­tik weicht ins­ge­samt bei höhe­ren Ampu­ta­tio­nen stär­ker vom phy­sio­lo­gi­schen Ide­al ab. Hier ist der Gang auch weit­aus unöko­no­mi­scher, da zuneh­men­de Abwei­chun­gen der Kine­ma­tik direkt mit einer erhöh­ten Bewe­gung des Kör­per­schwer­punk­tes zusam­men­hän­gen. Wei­ter zeigt sich, dass bei den höhe­ren Ampu­ta­tio­nen ver­stärkt Kom­pen­sa­ti­ons­mus­ter der erhal­te­nen Sei­te auf­tre­ten und die­se somit mehr leis­ten muss.

Im Kon­text der Reha­bi­li­ta­ti­on kön­nen die hier prä­sen­tier­ten Daten zur Ori­en­tie­rung und zur Bewer­tung der zu erwar­ten­den Ver­sor­gungs­er­geb­nis­se die­nen. Sie spie­geln nicht den Ein­zel­fall wider, son­dern zei­gen prin­zi­pi­el­le Pro­ble­ma­ti­ken beim Gehen der unter­schied­li­chen Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus auf.

Neben der instru­men­tel­len Gang­ana­ly­se bestehen noch wei­te­re Mög­lich­kei­ten der sys­te­ma­ti­schen funk­tio­nel­len Doku­men­ta­ti­on von Pro­the­sen­an­wen­dern. Eine geschick­te Aus­wahl an funk­tio­nel­len Tests, wel­che im Kon­text mit Pro­the­sen­nut­zern bereits eta­bliert sind, wie z. B. dem Zwei- Minu­ten-Geh­test 20 oder auch Fra­ge­bö­gen, in denen ver­schie­de­ne All­tags­ak­ti­vi­tä­ten abge­fragt wer­den 21 22, kön­nen hel­fen, den kli­ni­schen Ein­druck zu quan­ti­fi­zie­ren. Inter­na­tio­nal, wie auch in Hei­del­berg, wer­den der­zeit Pro­to­kol­le zu einer stan­dar­di­sier­ten Doku­men­ta­ti­on der Funk­ti­on von Anwen­dern mit ihrer pro­the­ti­schen Ver­sor­gung eta­bliert. Ein lan­des­wei­tes Regis­ter in die­ser Form ist in Schwe­den bereits gegrün­det und wur­de von Bengt Söder­berg auf der Ortho­pä­die + Reha-Tech­nik 2012 in Leip­zig vor­ge­stellt 23 24. Ein Regis­ter in die­ser Form ist von hohem Wert, da es hel­fen kann, Versorgungs‑, The­ra­pie- und Reha­bi­li­ta­ti­ons­kon­zep­te zu über­prü­fen und wei­ter zu optimieren.

Für die Autoren:
Dipl.-Ing. (FH) Dani­el Heitzmann
Wis­sen­schaft­li­cher Mitarbeiter
Berei­che Bewegungsanalytik
Stif­tung Orthopädische
Uni­ver­si­täts­kli­nik Heidelberg
Schlier­ba­cher Land­str. 200a
69118 Hei­del­berg
daniel.heitzmann@med.uni-heidelberg.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Heit­zmann DWW, Block J, Bra­atz F, Wolf SI, Ali­mus­aj M. Gang­mus­ter von Ampu­tier­ten in Abhän­gig­keit vom Ampu­ta­ti­ons­ni­veau. Ortho­pä­die Tech­nik, 2013; 64 (3): 14–19
  1. Lud­wigs E. et al. Bio­me­cha­ni­sche Cha­rak­te­ris­ti­ken des Gang­bil­des ver­schie­de­ner Ampu­ta­ti­ons­ni­veaus., Pos­ter­bei­trag auf der 6. Jah­res­ta­gung der Deut­schen Gesell­schaft für Bio­me­cha­nik, Müns­ter, 2009
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