Im Gespräch macht der gelernte Orthopädieschuhmacher deutlich, wo sich das Zusammenspiel für Betriebe bezahlt macht und warum der Austausch letztendlich auch den Patient:innen zugutekommt.
OT: Inwiefern können OT und OST voneinander in der Werkstatt profitieren?
Gunnar Kandel: Je enger die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Professionen ist, desto leichter fällt es, Synergieeffekte zu nutzen. Gibt es gemeinsame Werkstätten, können Erfahrungen nicht nur bei Besprechungen ausgetauscht werden, sondern man sieht vor Ort: Wie arbeiten die Kolleg:innen? Haben sie handwerkliche Fertigkeiten oder Umgehensweisen mit Materialien, die auch mir weiterhelfen können? Dass man sich etwas von Kolleg:innen innerhalb der eigenen Berufsgruppe abschaut, entspricht dem Ausbildungsalltag. Bereichsübergreifende Einblicke aus anderen Berufszweigen bereichern nach meiner Erfahrung die Arbeitsfertigkeiten zusätzlich. Einige Materialien zum Beispiel sind in der OST durchgängig bekannt, gehören aber in der OT nicht zum Portfolio und umgekehrt. Ebenso verschiedene Fertigungstechniken. Wir arbeiten sowohl mit thermoplastischen Materialien als auch mit verschiedenen Faserverbundtechniken. Die setzen wir je nach Produktanforderung ein und kombinieren die unterschiedlichen Herstellungstechniken miteinander. In der Schuhzurichtung stellt sich häufig die Frage: Welcher Kleber ist für welche Materialkombination am besten geeignet? Hier gibt es Kolleg:innen, die eigene Mischungen herstellen, wenn die industriell hergestellten Kleber nicht hundertprozentig funktionieren. Auch solche Erfahrungswerte lohnt es sich bereichsübergreifend auszutauschen.
OT: Viele Betriebe vereinen bereits OT und OST miteinander. Hat das auch betriebswirtschaftliche Vorteile?
Kandel: Auf jeden Fall. Durch Verknüpfen verschiedener Abläufe können die Produktionsprozesse verschlankt und betriebswirtschaftlich effizienter gestaltet werden. Wir bei Rahm nutzen die Kombination der verschiedenen Spezialisierungen bereits in der Kundenberatung, um so die bestmögliche Versorgung zu konzipieren. Insofern ergibt es Sinn, dass Betriebe OST und OT miteinander verknüpfen, um so ein größeres Produktportfolio abbilden zu können. Die enge Zusammenarbeit der beiden Berufszweige in der Produktion führt zu weiteren Synergieeffekten, die sich unter anderem auch in der Produktqualität widerspiegeln.
OT: Was haben die Patient:innen davon?
Kandel: Wenn die Abläufe ineinandergreifen, bringt das eine enorme Zeitersparnis für die Patient:innen mit sich. Wir merken das vor allem, wenn es um die Versorgung von betroffenen Personen geht, bei denen verschiedene Hilfsmittel kombiniert werden müssen. Hierbei kann durch das Hinzuziehen der jeweils anderen Fachdisziplin ein schnelles und optimales Ergebnis erzielt werden. Die zu Versorgenden erhalten die Produkte aus ein und demselben Betrieb, in dem Hand in Hand zusammengearbeitet wird. Das vereinfacht die Terminkoordination und erspart unnötige Wege. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Patient:innen dafür sehr dankbar sind.
Den Menschen ganzheitlich betrachten
OT: Können Sie konkrete Versorgungsbeispiele nennen, an denen deutlich wird, wie wichtig die Verknüpfung von OT und OST ist?
Kandel: Das betrifft beispielsweise Patient:innen, die mit einer Verordnung für eine standardisierte Fußheberorthese zu uns kommen und auf Grund der vorliegenden oder fortgeschrittenen Diagnose weitere unterstützende Maßnahmen benötigen. Da stellt sich die Frage: Genügt eine zusätzliche Einlage? Arbeiten wir mit DAFOs in Kombination? Sind spezielle Anforderungen an das Schuhwerk zu stellen und muss dieses nachträglich justiert werden? Oder erreichen wir mit der ursprünglich geplanten Orthese nicht die Effizienz, die ärztlich und/oder therapeutisch als Versorgungsziel gewünscht ist. Ist es vielleicht sogar erforderlich, eine neue, individuell auf die Patient:innen abgestimmte Orthese zu konzipieren, bei der z. B. passiv stabilisierende Korrekturelemente mit funktioneller Elektrostimulation kombiniert werden? Auch im Bereich Rumpforthetik erweist sich die Zusammenarbeit als zielführend. Wenn wir den Rumpf stabilisieren können, wirkt sich das auf den gesamten Körper aus. Umgekehrt schaffen wir durch eine Fußkorrektur und ‑stabilisierung eine gute Grundlage für die Rumpfstabilität. Selbst Handorthetik hat Auswirkungen auf die Spannungsverhältnisse des Körpers. Genau deswegen ist es uns so wichtig, bereits in der Ausbildung die ganzheitliche Betrachtung des Körpers sowie die Auswirkung der Beeinträchtigung in den Fokus zu stellen und deutlich zu machen: Schaut euch den ganzen Patienten bzw. die ganze Patientin an! Denn alles baut aufeinander auf, die Übergänge sind fließend. Die Probleme, die wir zu beheben versuchen, liegen nicht zwingend dort begründet, wo sie augenscheinlich werden.
OT: Auch neue Produkte können aus dem Miteinander von OT und OST hervorgehen, wie die von Ihnen entwickelte Camafo®-Orthese. Was kann diese leisten?
Kandel: Ausgangspunkt für die Entwicklung war hier die aus der Orthopädie-Schuhtechnik stammende Erfahrung einer konsequenten Fußkorrektur. Diese haben wir dann ergänzt mit den mechanischen Möglichkeiten aus der OT und so ein neues Produkt entwickelt. Diese spezielle Orthese richtet sich an Patient:innen mit schwerer Knickfußfehlstellung, bei denen wir mit der Versorgung mit Einlagen und Fußorthesen in Kombination mit Therapie-Stabilschuhen, orthopädischen Maßschuhen oder auch DAFOs funktionell nicht das erreichen können, was wir wollen. Bislang waren die Lösungen immer ein Kompromiss zwischen Bewegungsfreigabe und korrigierender Einschränkung. Die Camafo®-Orthese korrigiert die Fehlstellung, lässt aber alle anderen Bewegungsachsen frei, die nicht zwingend zur Fußkorrektur notwendig sind. So gewährleistet sie in allen Bewegungsphasen eine korrekte Fersenaufrichtung und deren korrekte Achsenstellung zum Unterschenkel. Wir setzen die Orthese sowohl in der Orthopädie-Schuhtechnik als auch in der Orthopädie-Technik ein. Sie verbindet sozusagen diese beiden Welten, weil sie sich funktionell von den bisher bekannten Orthesen und schuhtechnischen Versorgungen abhebt. Wir arbeiten, unter permanenter Weiterentwicklung, seit inzwischen fast zehn Jahren mit diesem Versorgungskonzept und konnten bei weit mehr als 2.000 Patient:innen beobachten, wie förderlich sich diese Orthesentechnik auf die Entwicklung, gerade von Kindern, auswirkt.
OT: Wie wird die Zusammenarbeit von OT und OST in Ihrem Unternehmen gelebt?
Kandel: Historisch gesehen ist Rahm aus einem orthopädieschuhtechnischen Betrieb erwachsen, der Zug um Zug um die Orthopädie-Technik und Reha-Technik erweitert wurde. Die Geschäftsbereiche hatten ihre Schnittstellen, wurden aber im Prinzip parallel geführt. Vor Jahren haben wir dann die beiden Bereiche Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik innerhalb einer gemeinschaftlichen Pädiatrie-Werkstatt zusammengeführt. Ziel war es, unter Bündelung der Fachlichkeiten die Wege zu verkürzen und die Produktionsabläufe einfacher zu koordinieren. Jeder Mitarbeitende konnte dabei seine fachspezifischen Stärken einbringen und gleichzeitig von den Fähigkeiten der Kolleg:innen profitieren. Und das immer mit dem Ziel vor Augen, die bestmögliche Versorgung für die Patient:innen zu gewährleisten. Das Konzept hat sich bei uns bewährt.
OT: Gehen die Meinungen von Orthopädietechniker:innen und Orthopädieschuhmacher:innen auch mal auseinander?
Kandel: Das erlebe ich weniger. Aber unterschiedlicher Meinung zu sein und zu diskutieren, kann auch sehr bereichernd sein und neue Blickwinkel eröffnen. Daran wachsen wir. Letztendlich setzt sich derjenige durch, der die besseren Argumente hat.
Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt
OT: Was ist aus Ihrer Erfahrung heraus notwendig, damit Teamwork berufsübergreifend erfolgreich funktionieren kann?
Kandel: Gibt es Schwierigkeiten, hängt das vermutlich mehr von den einzelnen Charakteren ab als davon, aus welcher Berufsgruppe die Kolleg:innen stammen. Wichtig für uns – und da achten wir sehr drauf – ist, dass die Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt stattfindet. Für mich gab es nie eine Trennung. Es geht immer darum, Hand in Hand das Beste für die Patient:innen herauszuholen.
OT: Spielt die Kombination der Gewerke bereits in der Ausbildung eine Rolle?
Kandel: Unsere Ausbildung ist so gestaltet, dass sich die OT-Auszubildenden die Orthopädie-Schuhtechnik und umgekehrt die OST-Auszubildenden die Orthopädie-Technik anschauen, um so ein besseres Verständnis für die Arbeit und die Herausforderungen der Kolleg:innen zu erhalten. Auch in die Reha-Technik und in die Sanitätshäuser erhalten sie Einblick. Diese Horizonterweiterung schafft eine gute Voraussetzung für neue Ideen. Uns ist es wichtig, eine breite Ausbildungsbasis zu gestalten, damit die Auszubildenden von Anfang an lernen zu erkennen, was alles möglich ist, aber auch wo die eigenen Grenzen sind und wann es sinnvoll ist, Patient:innen an die jeweils im Hause vorhandene Fachexpertise weiter zu vermitteln. Es ist schön, wenn das alles im eigenen Betrieb stattfinden kann.
OT: Welche Rolle nimmt der Austausch mit weiteren Professionen ein?
Kandel: Besonders Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen werden ganz unterschiedlich therapiert. Und Therapie fasst für mich alles zusammen, was hilft, die Gesamtsituation der Patient:innen zu verbessern. Dazu gehören natürlich die ärztlichen Betrachtungsweisen, wann zum Beispiel operative Eingriffe oder medikamentöse Interventionen notwendig sind. Genauso wie die Physio- und Ergotherapie, wenn es z.B. um die Abstimmung von Behandlungskonzepten geht. Ebenso darf die psychologische Betreuung für die Behinderungsverarbeitung nicht vernachlässigt werden. Zur Vervollständigung des Versorgungskreislaufes gehören aber auch die Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik sowie die Reha-Technik als Teil der Therapie dazu. Zwischen all diesen Berufsgruppen ist es zwingend notwendig, sich auszutauschen, zu diskutieren und alle Aspekte der Patientenversorgung offen auf den Tisch zu bringen – als ein multiprofessionelles Versorgungsteam mit gemeinsamer Zielsetzung.
Das, was wir im frühen Stadium verpassen, können wir später nicht mehr aufholen. Mir ist es sehr zugute gekommen, dass ich bereits früh in meinem beruflichen Werdegang Mitglied solcher Versorgungsteams werden durfte. Nach wie vor bereichert es meine tägliche Arbeit, mit Sozialpädiatrischen Zentren zusammenzuarbeiten und Teil interdisziplinärer Hilfsmittelsprechstunden zu sein, die sich inzwischen bundesweit etabliert haben.
OT: Wo sehen Sie die OST und OT in der Zukunft?
Kandel: Neue Produktionstechniken wie der 3D-Druck haben sowohl in der Orthopädie-Technik als auch in der Orthopädie-Schuhtechnik zu Innovationen geführt und schaffen durch angewandte Konstruktionstechniken Versorgungsmöglichkeiten, die konventionell nicht dargestellt werden können. Wir bei Rahm arbeiten Tag für Tag daran, dass für die Patient:innen der beste Benefit herauskommt. Der Mensch steht bei unseren Versorgungen stets im Mittelpunkt. Dafür ist es wichtig, eng und interdisziplinär mit den Kolleg:innen zusammenzuarbeiten und in den Austausch zu gehen.
OT: Sie erwähnten bereits das Stichwort 3D-Druck. Welche Rolle kommt der Digitalisierung künftig zu?
Kandel: Der Begriff Digitalisierung umfasst ein weites Feld. Scannen als Form des Maßnehmens hat viele Vorteile. Es ist zwar nicht immer das Mittel der Wahl, aber immer öfter. Gerade wenn es um Korrekturen von neurologisch betroffenen Patient:innen geht, muss man aber häufig noch hands-on sein. Konventionell und digital – beide Techniken lassen sich perfekt miteinander kombinieren. Wenn wir auf die vergangenen Jahre zurückblicken, werden die Entwicklungen im Bereich Digitalisierung rasant voranschreiten. Ich habe keine Angst vor der Zukunft, sondern erwarte das, was kommt, die neuen Prozesse und Möglichkeiten, die wir kennenlernen werden, mit großer Freude. Wichtig ist mir aber auch, dass wir die handwerklichen Fähigkeiten nicht verlieren, sondern diese in allen Bereichen als Basis behalten. Auch Dokumentation nimmt immer mehr Raum im Alltag ein. Hier hilft die Digitalisierung, die Prozesse zu vereinheitlichen. Welche Krankenkasse benötigt welche Zusatzdokumentation? Fragen wie diese stellen sich täglich und sind für die Kolleg:innen nicht immer leicht zu überblicken. Um ihnen Hilfen an die Hand zu geben, haben wir bei Rahm einen digitalen Versorgungsmanager entwickelt. Bedingt durch die Corona-Pandemie nutzen wir zudem mehr und mehr technische Möglichkeiten, Patient:innen über größere Distanzen zu betrachten. Per Facetime oder andere Videotelefonie habe ich Kontakt zu Eltern, die so nicht wegen jeder Fragestellung persönlich vorbeikommen müssen. Auch mit Ärzt:innen und Therapeut:innen findet ein Austausch per Videosprechstunde statt. Das ist allerdings nicht der Goldstandard, den wir gerne hätten. Wir arbeiten selbstverständlich am liebsten direkt an den Patient:innen. Aber bevor man sich gar nicht sieht, ist das eine gute alternative Möglichkeit, um sich auszutauschen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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