Demnach stieg der Anteil der Absolventinnen einer Ausbildung zur Orthopädietechnik-Mechanikerin bzw. Bandagistin zwischen 2005 und 2019 von 31 auf 47 Prozent. Bei den Orthopädieschuhmachern stieg der Anteil der Gesellenabsolventinnen im gleichen Zeitraum von 24,4 auf 41,2 Prozent. Spätestens beim Meisterbrief allerdings werden alte Rollenstrukturen sichtbar: In beiden Berufsgruppen machen die Meisterinnen selbst im Jahr 2019 maximal ein Viertel der Absolventen aus. Für die weiteren Berufe in den Sanitätshäusern gibt es keine spezifischen Statistiken. Wie sind die Rollen 2021 in den Sanitätshausbetrieben, den Werkstätten und in den Ladengeschäften verteilt? Darüber gaben zwei Orthopädietechnik-Meisterinnen und zwei Geschäftsführerinnen Auskunft.
Orthopädietechnik-Meisterin Patrizia Kraft leitete bis zur Geburt ihres ersten Kindes vor vier Jahren eine der zwölf Filialen des Sanitätshauses Kraft in Dortmund. Bereits ihr Vater war Orthopädietechnik-Meister. „Ich habe mir nach der Schule gar keine großen Gedanken gemacht. Es war klar, dass ich diesen Beruf erlernen will“, erklärt die 38-Jährige.
Als Kraft Ende der 1990er-Jahre in Bayern ihre Ausbildung zur Orthopädietechnikerin begann, war sie zwar keine Ausnahmeerscheinung mehr, aber die männlichen Lehrlinge waren deutlich in der Überzahl. Zu diesen zählte auch ihr späterer Mann Peter Kraft, dessen Vater, Großvater und Urgroßvater bereits einen Meistertitel auf diesem Fachgebiet innehatten.
Die Mischung macht‘s
In ihrem ersten Job nach der Lehre, Anfang der 2000er-Jahre, war Patrizia Kraft die einzige Gesellin in der Orthopädietechnik-Werkstatt. Noch heute erinnert sie sich an den damaligen Werkstattleiter und seine Einstellung: „Eine Frau in der Werkstatt macht sich gut für das Arbeitsklima.“ Für Patrizia Kraft bereichert das jeweils andere Geschlecht das Team. „Gleichgeschlechtliche Teams entwickeln schnell eine eigene Dynamik. Die richtige Mischung ist wichtig“, erklärt sie. Das gelte ebenso für das Sanitätshauspersonal. Es sei wünschenswert, wenn der Männeranteil bei den Sanitätshausfachangestellten stiege. „Das ist gut für die Teamatmosphäre, aber genauso für die Patienten. Gerade in hochsensiblen Bereichen ist es positiv, wenn Patienten eine Wahlmöglichkeit haben, ob sie sich von einem Mann oder einer Frau versorgen lassen wollen.“ Im Sanitätshaus Kraft sind derzeit 145 Mitarbeiter beschäftigt, in der Werkstatt und den Filialen arbeiten 73 Mitarbeiter, davon 33 Techniker, 25 Technikerinnen und 15 Verkäuferinnen. In der Leitungsebene ist der Anteil ausgeglichen.
Anders als Patrizia Kraft, die nach der Gesellenausbildung den Meister draufsetzen wollte, entschied sich ihr Mann nach der Ausbildung zum Orthopädietechniker für ein Studium der Betriebswirtschaft. Gemeinsam gingen sie im Jahr 2015 nach Dortmund. Peter Kraft übernahm einen Posten in der Firmenleitung. „Ich hatte nie die Ambition, in der Firmenleitung tätig zu sein“, so Patrizia Kraft, die mit dem zweiten Kind in Elternzeit ist. „In welchem Bereich ich nach Ende der Elternzeit tätig sein werde, weiß ich noch nicht, aber die fundierte Ausbildung als Meisterin öffnet mir viele Türen.“ Sie engagiert sich seit Jahren im Meisterprüfungsausschuss der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik e.V. (BUFA) und als Delegierte der Innung für den Regierungsbezirk Arnsberg beim Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT). Kraft hat viel Verständnis dafür, dass nur ein Viertel der Neumeister:innen Frauen sind. „Es ist schon schwierig genug, einen Beruf und die Familienplanung unter einen Hut zu bringen. Aber die Meisterausbildung ist eine sehr solide Basis für die Zukunft.“
Mehr Flexibilität
Orthopädietechnik-Meisterin Christiane Keusch-Hilgers, die den väterlichen Betrieb in Übach-Palenberg 2017 übernahm, vermisst oftmals die Akzeptanz weiblicher Arbeitskräfte durch ihre männlichen Kollegen. „Im Handwerk herrscht doch noch eine konservative Haltung vor“, meint die Inhaberin des Orthopädie Technik Sanitätshauses Keusch.
In ihrem Ausbildungsbetrieb war sie von 1996 bis 1999 die erste und einzige Auszubildende sowie zugleich die einzige Frau in der Werkstatt. Inzwischen hat sich das geändert: In der Werkstatt ihres eigenen Unternehmens mit insgesamt 24 Mitarbeitern sind heute zu 60 Prozent Frauen und zu 40 Prozent Männer tätig. Im Sanitätshausbereich sind die Frauen noch deutlicher in der Überzahl. Hier ist nur ein Mann in der Verwaltung beschäftigt. „Bei Versorgungsgesprächen mit männlichen Patienten muss daher oft ein Werkstattmitarbeiter einspringen. Für die Abläufe, vor allem aber für die Patienten, wäre es gut, auch männliches Sanitätshauspersonal zu haben. Doch für diesen Bereich hat sich bei uns noch kein Mann beworben.“
Frauen schrecken dafür trotz aller Fortschritte vor der Meisterausbildung zurück, so Keusch-Hilgers: „Ich habe bisher nur drei meiner Gesellinnen zur Meisterausbildung ermutigen können. Trotz späterer Familienplanung kann man Wege einschlagen, um den Meisterbrief mit dem Familienleben zu vereinen.“ Dafür ist die Orthopädietechnik-Meisterin selbst das beste Beispiel: Sie ist Mutter von drei Schulkindern. „Ich hoffe, dass die Flexibilität Schule macht, die wir im Moment im Zusammenhang mit Covid-19 erleben und als Mütter schon seit Jahren vorgelebt haben. Man kann vormittags in der Werkstatt stehen, sich am Nachmittag um die Kinder kümmern – und am Abend von zuhause aus Verwaltungsaufgaben wie Kostenvoranschläge erledigen oder Hausbesuche machen. Es ist alles eine Frage der Organisation“, erklärt die 44-Jährige, die sich auch ehrenamtlich engagiert – als 2. Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Orthopädie-Technik Nordrhein-Westfalen sowie als stellvertretende Obermeisterin und Delegierte der Innung Köln beim BIV-OT.
Frauen, traut euch!
Sechs Filialen und den Firmensitz Bad Düben mit insgesamt 65 Mitarbeitern, jeweils gut zur Hälfte Männer und Frauen, leiten Sandra Neubert und Babett Müller als Geschäftsführerinnen der Neubert Orthopädietechnik. 1991 wurde der Betrieb als privates Unternehmen von Orthopädietechnik-Meister Gotthard Neubert gegründet.
„Noch sind wir von einer aktiven Förderung der Frauen in einem Handwerksberuf zu weit entfernt“, meint die geschäftsführende Gesellschafterin Sandra Neubert. „Das gilt nicht nur für unsere Branche.“ Zwei Geschäftsführerinnen an der Spitze eines Unternehmens – das motiviere aber junge Frauen, wenn sie sich in Bad Düben bewerben. „Wir haben da durchaus eine Vorbildfunktion, auch für die handwerklich interessierten Bewerberinnen. Zumal auf der zweiten Leitungsebene ebenfalls Frauen in der Überzahl sind. Die Leitungen der Werkstätten, ob Orthopädie-Technik oder Orthopädieschuh-Technik, sind aber fest in Männerhand. Dort gebe es ausschließlich Meister, obwohl der Frauenanteil bei den Gesellen längst bei 50 Prozent liege.
„Frauen, traut euch! Entwickelt euch weiter!“, fordert die 50-jährige Sandra Neubert, Bankkauffrau und Mutter von zwei Kindern, den weiblichen Fachkräftenachwuchs auf. Nach 26 Jahren im Beruf beobachtet sie mangelndes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten bei vielen Frauen. Selbstvertrauen sei aber ein entscheidender Punkt, um den Schritt von der Gesellin zur Meisterin anzugehen. „Viele befürchten, die Aufgaben einer Meisterin nicht mit denen in einer Familie vereinen zu können“, so Sandra Neubert. „Gerade in frauengeführten Betrieben herrscht hingegen großes Verständnis für die privaten Belange. Teilzeitarbeit, Homeoffice und ein hohes Maß an Flexibilität sind heute Standard im Unternehmen.“
Auf der anderen Seite nutzen viele Meister die Chance, die vielfältigen Verwaltungs- und organisatorischen Aufgaben, die mit ihrem Beruf verbunden sind, an Frauen zu delegieren. Gerade hier sehen Frauen oft ihre Stärken und übernehmen diese Aufgaben, egal, ob sie vom Fach sind oder nicht. Diese Ergänzung funktioniere ausgezeichnet. Optimistisch stimmt Sandra Neubert, dass die Würdigung der Tätigkeit der Frauen im Fach stark zugenommen habe. „Die gegenseitige Wertschätzung ist sehr hoch, sodass die Zusammenarbeit hervorragend klappt.“
Da tut sich was
Christiane Ank-Kunze übernahm als Diplom-Betriebswirtin vor 30 Jahren die Geschäftsführung des 1957 gegründeten väterlichen Betriebes Ank Sanitätshaus + Orthopädietechnik in Kaiserslautern. Als ihr Vater den Betrieb leitete, lag der Fokus der Orthopädie-Technik auf der Versorgung von Kriegsversehrten. Aus seiner Sicht konnte man auf diesem hochsensiblen Feld keine Frauen in der Werkstatt einsetzen. „Da hat sich unglaublich viel geändert – und mit der neuen Bewerbergeneration steht die nächste große Veränderung bevor. Da tut sich was“, meint die 58-Jährige.
Derzeit arbeiten in dem Unternehmen mit 14 Standorten insgesamt 150 Mitarbeiter, davon 45,8 Prozent Frauen. Alle Werkstattleiter – in der Orthopädie-Technik und in der Reha-Technik – sind derzeit Männer. Alle Sanitätshäuser hingegen werden von Frauen geleitet. „In der Orthopädie-Technik und Reha-Technik überwiegt bei den Mitarbeitern noch der Männeranteil. Aber bei den Neubewerbungen zeigen jetzt mehr Frauen Interesse am Berufsbild Orthopädie-Technik. Darunter sind einige, denen ich auch die Meisterausbildung zutraue. Die Reha-Technik wiederum ist auf der Mitarbeiterebene paritätisch aufgestellt, während im Sanitätshaus fast nur Frauen tätig sind bzw. sich für eine Ausbildung bewerben“, schildert Christiane Ank-Kunze die aktuelle Situation.
Für die Geschäftsführerin spielt das Geschlecht keine Rolle. „Bei uns arbeiten alle in gegenseitigem Respekt zusammen. Unsere Werkstattleiter fordern und fördern die Gesellinnen ebenso wie die Gesellen“, so die Geschäftsführerin.
Nach drei Jahrzehnten im Beruf sieht Christiane Ank-Kunze für die Branche eine ganz andere Herausforderung: Der Bereich Reha-Technik werde unterschätzt. „Im Bereich Reha-Technik wird keine eigenständige Ausbildung angeboten, obwohl die Reha-Technik seit Jahren eine wachsende, selbstständige Säule in vielen Unternehmen ist“, erklärt die Betriebswirtin. „Das würde Männer und Frauen weitere Berufsperspektiven bieten.“
Fazit
Der Blick in die vier Betriebe zeigt, dass sich in den letzten 25 Jahren das Rollenbild verändert hat. Denn in der Werkstatt arbeiten längst nicht mehr nur Männer. Dennoch: Im Ladengeschäft haben Männer immer noch Seltenheitswert. Arbeiten Frauen also mutiger an der Überwindung hergebrachter Geschlechterdefinitionen? Nur zum Teil, denn den Sprung zur Meisterin wagt bisher nur ein kleiner Teil. Mehr Mut, Selbstvertrauen und Flexibilität sollten die kommende Sanitätshausgeneration zu einer noch ausgewogeneren Personalstruktur führen.
Ruth Justen
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