Einleitung
Seit 1985 werden in der Berliner Ambulanz Kinder mit Meningomyelocele (MMC) nach dem Ferrari Konzept [4] behandelt. Hieraus entstand ein vom Ministerium für Arbeit und Soziales gefördertes Modellprojekt zur Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Kinder, das von 1988 bis 1992 durchgeführt wurde. Aus diesem Modellprojekt gründete sich 1991 das SPZ. Die Arbeitsweise wurde 1992 als Berliner Konzept veröffentlicht [5].
Die Betreuung von Patienten im SPZ wird nach der Vorstellung von Parsch und Schulitz von einem interdisziplinären Team durchgeführt [10]. Der Neuropädiater übernimmt als Arzt die Koordination zu den weiteren Fachrichtungen. Innerhalb des SPZ sind diese Fachrichtungen z. B. die Physiotherapie, die Psychologie oder die Orthopädie (Abb. 1). Innerhalb der Charité kann konsiliarisch auf weitere Fachgebiete zugegriffen werden wie z. B. die Wirbelsäulenchirurgie oder die Orthopädietechnik. Patienten mit Spina bifida wird so ein komplettes Behandlungsangebot in einer einzigen Einrichtung angeboten.
Sprechstunden werden in einer Team-Struktur angeboten. Stehen bestimmte Fragestellungen oder Probleme an, wird auf die jeweiligen Fachgebiete zugegriffen. Das Modul „Orthopädie-Sprechstunde“ ist so strukturiert, dass die Familie im Mittelpunkt steht. Ein Team aus Neuropädiatern, Orthopäden und Physiotherapeuten arbeitet zusammen. Um den optimalen Behandlungsweg für den Patienten zu finden, bringt sich jede Fachrichtung mit ihrem Wissen ein. Der Neuropädiater agiert als Koordinator.
Das Modul „Neurochirurgie / Wirbelsäulenchirurgie“ ist ein Austausch der Disziplinen Neurochirurgie und Neuropädiatrie. Die Wirbelsäulenchirurgie wird per Konsil mit einbezogen. Die „Orthetik-Sprechstunde“ findet in regelmäßigen Intervallen im SPZ statt. Hier werden neue Orthesen angepasst, Gipsabdrücke für neue Orthesen genommen und Anpassungen der Orthesen z. B. an das Wachstum vorgenommen. Der Neuropädiater überprüft die Funktion der Orthesen. Die Physiotherapie hilft dem Patienten und den Eltern im Umgang mit der Orthese. Es werden Alltagsübungen vorgenommen und das An- sowie Ablegen der Orthese gezeigt.
Das Berliner Konzept orientiert sich an den Arbeiten von Dr. Adriano Ferrari. Am Beginn steht hier die Analyse der Störung des Kindes (Abb. 2). Aus dieser Diagnose kann früh eine genaue Prognose für das Kind erarbeitet werden. Da die Folgen der peripheren Läsion für die motorische und körperliche Entwicklung des Kindes logisch und einfach abzuleiten sind, können bereits in den ersten sechs Lebensmonaten aus dem Bild der neurologischen Läsion und den primären Deformitäten die zu erwartenden Probleme genannt werden [5]. Den Eltern sollte Antwort auf folgende Fragen gegeben werden:
- Wie groß ist das Ausmaß der peripheren und zentralen Störung?
- Was sind die primären Deformitäten?
- Warum sind welche sekundären Deformitäten in welcher Entwicklungsphase zu erwarten?
- Womit (konservativ oder operativ) und wann kann man diese verhindern oder behandeln?
- Welches Ziel kann das Kind wann mit welchem Hilfsmittel erreichen?
- Wann ist die Therapie zu Ende?
Aus dieser Analyse und Prognose entsteht ein Behandlungsplan. Dieser beinhaltet läsionsspezifische Physiotherapie und orthopädisch-chirurgische Maßnahmen [9]. Das Konzept gibt auch läsionsspezifische Hilfsmittel vor, welche in statische (Nachtschienen) und dynamische (Laufschienen) eingeteilt werden (Abb. 3).
Wahl des Orthesensystems
Zunächst werden anhand der folgenden Fragen die funktionellen Voraussetzungen und Ausschlusskriterien festgestellt:
- Welche Läsionshöhe liegt vor?
- Welche pathologischen Gelenkdeformitäten liegen vor?
- Welche Gelenkfunktionen sind durch die verbleibenden Muskeln noch aktiv, wie hoch sind deren Kraft und deren Bewegungseinschränkungen?
- Welche weiteren begleitenden Schädigungen beeinflussen den Aktivitätsgrad?
- Wo liegt ein Sensibilitätsverlust vor?
- In welchem Bereich und über welchen Zeitraum soll die Orthese getragen werden?
Aufgrund der Ergebnisse aus dem Kriterienkatalog wird die entsprechende Orthesenversorgung ausgewählt und nach folgenden Gesichtspunkten konzipiert: Die Orthese sollte an das Längenwachstum anpassbar, leicht an- und auszuziehen, einfach und hygienisch sauber zu halten, stabil sein und ein geringes Gewicht aufweisen. Sie sollte kindgerecht farbig gestaltet, einfach zu bedienen und den Anforderungen des Kindes entsprechend ausgerichtet werden. Über die gesamte Tragezeit ist die Formstabilität und Verwindungssteifigkeit sicherzustellen. Dennoch muss es den tragenden Komponenten durch eine seitlich flexible Verformung möglich sein, Kräfte aufzunehmen, die durch unterschiedliche Belastungssituationen während des Gehens auftreten und zur Verformung oder Bruch führen können. Dabei müssen die unteren Extremitäten rotationstabil in orthograder Stellung gehalten werden.
Die in Deutschland gebräuchlichsten Fertigungsmethoden sind das Auflegen von thermoplastischen Plattenmaterialien wie PP (Polypropylen) oder PE (Polyethylen), die allerdings nur geringer Belastbarkeit standhalten. Das Gießen mit Acrylharzen ist auch weit verbreitet und weist durch die Verwendung von Stabilitätsträgern wie z. B. Carbon, Glas oder Aramid bessere Belastbarkeitswerte auf. Eine weitere Herstellungsart ist die Produktion eines Prepregrahmens, der anschließend in Acrylharz eingegossen wird. Als Prepreg werden Carbonfasern bezeichnet, die bereits mit Epoxydharz vorimprägniert sind. Diese werden auf das Gipsmodell aufgelegt und härten unter Vakuum und Hitze vollständig aus. Aufgrund der aufeinander abgestimmten Faser- und Harzanteile des Prepregs sowie der besseren Eigenschaften des Epoxydharzes im Vergleich zum Acrylharz ergibt sich ein großer Vorteil für die Herstellung von Orthesen mit Prepregrahmen. Bei geringerem Gewicht weisen diese Orthesen eine hohe Steifigkeit und Stabilität auf. Auf offen liegende Metallteile sowie Leder- oder Filzfütterung sollte aus hygienischen Gründen weitgehend verzichtet werden. Bei der Auswahl mechanischer Gelenke mit Sperren muss darauf geachtet werden, dass diese vom Patienten selbstständig zu öffnen und zu schließen sind.
Unterschenkel-Orthesen AFO
Unterschenkel-Orthesen werden bei einer Lähmungshöhe von S2 bis L5 eingesetzt. Hier besteht ein Defizit in der Aufrichtschleife durch die Schwäche des M. gastrocnemius (Abb. 4). Es kommen Orthesen mit einem unilateralen Knöchelgelenk oder einer Carbonfeder in Frage. Die Orthesenkonstruktion muss das Defizit ausgleichen. Hierzu sind Konstruktionsmerkmale zu beachten. Unterschenkel-Orthesen mit einem unilateralen Knöchelgelenk Sprinter (Abb. 5) sollten eine Vorlage der Dorsalextension in einem Winkel von 5 bis 8° haben (mit Schuh). Das obere Sprunggelenk sollte unter 90° begrenzt sein, optimal ist eine Einstellung bei 82 bis 84°, um den großen Kniestrecker in guter Arbeitsposition für die Aufrichtschleife des Körpers gegen die Schwerkraft im Knie zu bringen. Das OSG sollte einen Bewegungsspielraum von 15 bis 20° aufweisen [8]. Das Sprinter Gelenk ist so konstruiert, dass je ein Keil die Dorsalextension und die Plantarflexion begrenzt. Diese Keile können bei der Anprobe schnell zur Anpassung des Winkels entnommen werden, ohne dabei die Gelenkachse zu zerlegen (Abb. 6).
Bei der Carbonfeder Orthese (Abb. 7) wird diese Vorlage durch den Aufbau der Orthese berücksichtigt. Zu beachten ist hier die Vorspannung der Carbonfeder bei Belastung. Carbonfeder-Orthesen werden bei Spina bifida seit 1998 eingesetzt [6]. Die Vorteile dieser Orthese sind vielfältig. Die Carbonfeder wirkt aufgrund des eingebauten Dorsalanschlages und der Carbonfasereigenschaften kniegelenkssichernd. Es kommt zu keinem harten und ungedämpften Anschlag in der Dorsalextension bei Mid-Stance. In Pre-Swing wird die fehlende Abstoßphase unterstützt. Diese Beobachtungen wurden durch Studien unterstützt [2, 1, 7].
Die erste Studie wurde von Äsa Bartonek, Marie Eriksson, Elena M. Gutierrez-Farewik im Ganglabor des Karolinska Institute in Stockholm mit dem Thema „Effects of carbon fibre spring orthosis on gait in ambulatory childrens with motor disorders and plantarflexor weakness“ [2] durchgeführt. Untersucht wurden insgesamt 17 Kinder, mit einem Durchschnittsalter von 11 Jahren. Alle Patienten wiesen eine Schwäche der Plantarflexoren auf. Die Diagnose MMC hatten 12 Kinder, es nahmen vier Kinder mit Arthrogrypose und ein Kind mit einer Neuropathie an der Studie teil. Vor Durchführung der Ganganalyse wurden bei allen Kindern der Muskelstatus, vorhandene Beugekontrakturen und auftretende Spastiken bewertet.
Die Muskelfunktion wurde mit manueller Muskelprüfung durchgeführt. Alle Probanden hatten einen normalen Status bei den Knieextensoren, Hüftadduktoren und Hüftflexoren. Geschwächt waren die Plantarflexoren, Dorsalextensoren, Knieflexoren, Hüftextensoren und die Hüftabduktoren. Zusätzlich wurden die Kinder mit der Diagnose MMC von einem Physiotherapeuten klinisch auf Spastiken untersucht. Dabei wurden bei drei Kindern Spastiken der Peronealmuskulatur und bei einem Kind der Plantarflexoren diagnostiziert. Die Studienteilnehmer erhielten eine konventionell gefertigte Orthese mit Knöchelgelenk und eine Versorgung mit einer Spring®-Carbonfeder. Beide Versorgungen wurden nach Gipsabdruck gefertigt und ca. 2 bis 3 Wochen vor Durchführung der Messungen zur Eingewöhnung abgegeben. Insgesamt wurden 11 Kinder mit einer unterschenkelhohen und 6 Kinder mit einer oberschenkelhohen Orthese versorgt.
Die Bewegungsanalyse wurde mit einer 3‑D-Ganganalyse mit 6 Kameras durchgeführt. Zur Messung stand eine Laufstrecke von 10 Metern mit zwei Kistler-Kraftmessplatten zur Verfügung und es wurden 34 Marker nach dem Newington-Modell an den Teilnehmern positioniert. Im Vergleich zur herkömmlichen Gelenkorthese wurde bei der Spring®-Carbonfederversorgung in der Ganganalyse bei Kindern der MMC-Gruppe festgestellt, dass die Kniegelenke während Initial-contact mehr gestreckt und im Übergang Initial-swing zur Mid-swing mehr gebeugt sind. Weiter ergab sich, dass in der Hüfte und im Knie mit den Spring®-Carbonfederorthesen weniger Krafteinfluss notwendig ist und im Sprunggelenk ein höheres unterstützendes Moment auftritt. Zusätzlich wurde mit der Carbonfederversorgung eine Schrittverlängerung und eine Erhöhung der Schrittgeschwindigkeit erreicht.
Der Nachteil der Carbonfederorthese war die fehlende Plantarflexion bei Initial-contact. Aus diesem Grund wurde die Spring®-Carbonfederorthese weiterentwickelt. Die Split Spring®-Carbonfeder erlaubt durch die Zweiteilung der Feder im Fersenbereich eine Plantarflexion. Dies ist eine Verbesserung, da sich die Orthese dem Untergrund anpasst und so das Gehen auf schiefen Ebenen erleichtert. Das Tragen von Unterschenkelorthesen erfordert einen Pendelgang. Dabei kommt es zur Verlagerung des Gewichtes auf das Standbein mit seitlicher Neigung des Rumpfes zur Standbeinseite und Anheben des Beckens auf der Spielbeinseite. Das Bein erhebt sich und kann, begünstigt durch die Rotation des Beckens, nach vorne gebracht werden. Bei der dynamischen Anprobe müssen die Orthesensohlen und die zugehörigen Orthesenschuhe, entsprechend der im Gangbild vorhandenen Innen- oder Außenrotation und der Vor- oder Rücklage zur Lenkung der Bodenreaktionskräfte angepasst werden. Ziel der Zurichtung ist es, ein gleichmäßiges und energiesparendes Gangbild zu erreichen. Erste Testversorgungen mit Unterschenkel Carbonfeder-Orthesen in der Fertigungsmöglichkeit des Rapid Manufacturing sind erfolgt. Bei diesem Verfahren wird die Orthese komplett in der CAD geplant und hergestellt. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend.
Oberschenkelorthesen KAFO
Im Lähmungsniveau S1-L4 ist der Einsatz von Oberschenkelorthesen indiziert. Bei diesen Lähmungshöhen sind meist die Hüftadduktoren und Hüftstrecker betroffen. Bei L4 sind zudem die Kniestrecker geschwächt. Bei S1 wird zunächst mit Beginn der Gehfähigkeit oberschenkelhoch versorgt. Ist in einem Alter von 4 bis 7 Jahren eine ausreichende Bandstabilität des Kniegelenks erreicht, kann auf kondylenhohe Unterschenkelorthesen umgestellt werden. Oberschenkelorthesen müssen über die Fußbettung haltungskontrollierend wie auch durch die Kondylenbettung auf das Bein stützend einwirken, um ein sicheres Stehen und Gehen zu erreichen. Dem Knöchelgelenk wird deformitäts- und aktivitätsabhängig eine Bewegungsfreiheit von 0 bis 15 Grad Plantar- und Dorsalflexion gegeben.
Als Knöchelgelenke können je nach Aktivität, vorhandener Kontrakturen und Muskelrestfunktionen konventionelle Knöchelgelenke oder die Spring®-Carbonfedern eingesetzt werden. Bei freigegebenem Bewegungsausschlag muss das Knöchelgelenk eine fußhebende Funktion im Übergang von Initial-swing zur Mid-swing besitzen. Bei ausreichender kniestreckender Muskulatur und einer Beugekontraktur unter 15° wird als Kniegelenk das freibewegliche Orthesengelenk Mono verwendet (Abb. 8). Dieses besitzt eine Rückverlagerung des Drehpunktes und unterstützt die fehlende kniestreckende Muskulatur, wodurch die Restkraft des M. quadriceps besser genutzt werden kann.
Besteht eine starke Schwäche der kniestreckenden Muskulatur, kann das Mono Kniegelenk über den „Mono Support“ Bausatz erweitert werden (Abb. 9). Es handelt sich dabei um einen Zusatz zum Mono Kniegelenk, welcher eine Aufrüstung mit einer Gasdruckfeder ermöglicht. Die Gasdruckfedern sind je nach Aktivität und Körpergewicht auszuwählen. Der Bausatz ist so konstruiert, dass sich die Gasfeder im Sitzen ausschaltet (Abb. 10). Bei Kontrakturen im Kniegelenk über 15° oder zur postoperativen Versorgung sind Gelenke mit einem Sperrmechanismus zu verwenden. Zum Einsatz kommt hier das einachsige Kniegelenk „Block“ mit Fallschloss. Bei geöffneter Sperre lässt es eine passive Flexions- und Extensionsbewegung zu. Die gewünschte Stellung kann bei vorhandenen Kontrakturen fixiert werden. Das Fallschloss fällt bei gestrecktem Kniegelenk von selbst über das Gelenk und sperrt dieses sicher zum Gehen und Stehen. Zum Hinsetzen muss die Sperre nach oben gezogen werden.
Eine weitere Möglichkeit bietet das Mono Lock. Das Mono Lock ist ein Kniegelenk mit Seilzug. Es wurde auf der Grundlage des Mono Kniegelenkes konstruiert und ist ein rückverlagertes, sperrbares Einachskniegelenk (Abb. 11). Bei Extension des Kniegelenkes wird das Gelenk gesperrt, indem eine Feder den Sperrbolzen in die Nut des Wechselkeils im Gelenkunterteil drückt. Durch Ziehen am Seilzug wird diese Sperre wiederum gelöst und eine Flexion ist möglich. Aufgrund der vorhandenen Rückverlagerung kann bei Muskelfunktionsverbesserung und Aktivitätssteigerung die Sperre komplett ausgebaut werden. Das Mono Lock weist dann alle Eigenschaften eines freien, rückverlagerten Kniegelenkes auf. Für Therapiezwecke oder zum Radfahren und Krabbeln kann das Kniegelenk temporär freigegeben werden. Dazu wird der Seilzug nach oben gezogen und befestigt, damit die Sperre beim Stehen nicht von selbst einrasten kann.
Ein weiterer Vorteil des Mono Locks sind die eingesetzten Wechselkeile. Diese können entsprechend vorliegender Flexionskontrakturen eingesetzt und bei einer Verbesserung der Kontraktur ausgetauscht werden. Deshalb eignet sich das Mono Lock besonders gut für präoperative Versorgungen und für den Einsatz bei nicht fixierten Kontrakturen von 5 bis 20°. Für ein sicheres Stehen, Gehen und Sitzen in der Orthese sind ein korrekter Aufbau und eine individuelle Einstellung erforderlich. Auf einen korrekten Orthesenaufbau, die Ermittlung der individuellen Belastungslinie und der exakten Platzierung der Kniegelenke auf den ermittelten Kniekompromissdrehpunkt ist zu achten. Auch hier erfordert es zum Laufen einen Pendelgang. Bei der Anprobe ist auf die Zurichtung der Orthesensohlen und der zugehörigen Orthesenschuhe entsprechend der im Gangbild vorhandenen Innen- oder Außenrotation und der Vor- oder Rücklage zu achten. Bei Drehfehlstellungen im Hüftgelenk kann ein gegossenes Beckenteil mit einfachem Hüftgelenk oder elastische Gurte zur Führung des Beckens eine Unterstützung zur Einschränkung dieser Beckenrotation bieten (Abb. 12).
Beckenübergreifende Orthesen HKAFO
Beckenübergreifende Orthesen müssen ausreichend Stabilität zur energiearmen Fortbewegung aufweisen. Ist die Orthese nicht seitenstabil, sinkt der Körperschwerpunkt ab. Versucht man die Orthese nun durch eine höhere Standbreite zu stabilisieren, führt dies dazu, dass der Körperschwerpunkt angehoben werden muss. Nur bei ausreichend Stabilität und einer optimalen Standbreite ist eine energiearme Fortbewegung möglich.
Läsionshöhe L3/L2
Betroffen sind bei der Läsionshöhe L3 teilweise die Kniestrecker, die gesamte Fußmuskulatur, die Hüftbeuger sowie alle Hüftstrecker. Primär bestehen meist ein- oder beidseitige Hüftluxationen sowie Klumpfüße. Bei Läsionshöhe L2 sind, bis auf Teile des M. quadratus lumborum, alle Hüftbeuger und die gesamte Knie- und Fußmuskulatur betroffen. Primär wird es zur Entwicklung von ein- oder beidseitiger Hüftluxation, einem Klumpfuß und Wirbelsäulendeformitäten wie Skoliose kommen. Bei der Läsionshöhe L3/L2 wird ohne den Rückgriff auf orthetische Hilfsmittel kein freies Stehen und Gehen erreicht. Auch für die Hüftstreckung ist eine zusätzliche Abstützung durch die oberen Extremitäten erforderlich.
Um ein sicheres Gehen und Stehen zu ermöglichen, kommt eine beckenübergreifende Orthese mit einem Salera 3‑D-Hüftgelenk zum Einsatz (Abb. 13). Meist werden ein rückverlagertes freibewegliches Kniegelenk und ein Sprinter Knöchelgelenk verwendet. Das 3‑D Titanhüftgelenk Salera arbeitet mit einem Drehpunkt. Die anatomischen und mechanischen Hüftgelenkdrehpunkte befinden sich auf der horizontalen Ebene des Hüftkopfes und lassen so einen Zirkelgang zum Teil ungesteuert, aber eingegrenzt aktiv zu. Die Titanhüftgelenke sind mit einem Bewegungsausmaß von 150° für die Beugung, 6° für die Streckung, 15° für die Abduktion und 12,5° für die Innen- und Außenrotation versehen. Die Adduktion wird eingeschränkt, um eine Zirkumduktion im Halbkreis und das Absinken des Beckens auf der Spielbeinseite zu verhindern. Durch den vorhandenen Beugeanschlag bei einem Schrittwinkel von 30° wird ermöglicht, die fehlende hüftstreckende Muskulatur zu kompensieren. Zur Vermeidung von Kontrakturen durch die Benutzung des gesamten Bewegungsausschlages werden die Flexion und Extension im Hüftgelenk nur zum Teil freigegeben.
Zur energiearmen Fortbewegung muss die Orthese verwindungssteif sein. Die 25°-Hüftrotation wird durch die Hüftgelenke limitiert. Das Beckenteil ist verstärkt. Zur Fortbewegung sind Vier-Punkt-Stützen oder ein Rollator nötig. Eine Freigabe der Flexion des Hüftgelenkes, die Extension des Kniegelenkes und die Dorsalflexionsbeschränkung des Knöchelgelenkes erfolgt unter Berücksichtigung von Kontrakturen nur für die Schrittlänge des Patienten. Die Orthesensohlen und die zugehörigen Orthesenschuhe müssen bei einer dynamischen Anprobe angepasst werden, um ein gleichmäßiges, energiesparendes Gangbild zu erreichen.
Läsionshöhe L1/Th12 bis Th5
Betroffen bei der Läsionshöhe L1 sind alle Hüftbeuger und Hüftstrecker bis auf Teile des M. quadratus lumborum (Beckenelevation) sowie die Knie- und Fußmuskulatur. Primäre und sekundäre Deformitäten wie Skoliose entwickeln sich. Ebenso kann es sehr frühzeitig zu Lagerungskontrakturen in den unteren Extremitäten kommen. Bei Läsionshöhe Th 12 bis Th5 sind alle Hüftbeuger, Hüftstrecker sowie die Knie- und Fußmuskulatur betroffen. Primäre und sekundäre Deformitäten wie Skoliose oder Gibbus entwickeln sich. Ebenso kann es schon sehr frühzeitig zu Lagerungskontrakturen in den unteren Extremitäten kommen.
Bei Läsionshöhe L1 sowie bei Th12 — Th5 wird ohne orthetische Hilfsmittel kein freies Stehen und Gehen erreicht. Für die Hüftstreckung und den Seitenhalt ist eine zusätzliche Abstützung durch die oberen Extremitäten erforderlich. Für die seitliche und hüftstreckende Sitzhaltung ist die Zuhilfenahme der Arme nötig. Um ein sicheres Gehen und Stehen zu ermöglichen, muss über die Fußbettung haltungskontrollierend wie auch auf die Kondylen stützend eingewirkt und die Hüftgelenkbewegung in Flexion/Extension und Adduktion/Abduktion eingegrenzt werden.
Als Ersatz für die fehlende Hüftmuskulatur in Flexion/Extension muss ein reziproker Mechanismus die Hüftgelenksbewegung steuern. Die Übertragung des reziproken Mechanismus erfolgt beim Twister und RGO mittels einer Beckenwippe (Abb. 14). Diese wird mittig an dem hinteren Beckenbügel gelagert, so dass sich die Enden frei auf und ab bewegen. Die Drehachse der Wippe liegt parallel zur Sagittalebene. Mithilfe von Konnektoren (Gelenkköpfe mit Kugelgelenk) erfolgt die Koppelung an die Orthesengelenke. Fehlende Kniemuskulatur lässt keine andere Wahl, als ein sperrendes Kniegelenk einzusetzen. Dem Knöchelgelenk kann deformitäts- und perzeptionsabhängig Bewegung von 0 bis 10° gegeben werden. Das Rumpfteil muss eine Sitzkante besitzen, damit ein freies Sitzen ohne Armabstützung möglich ist. Bei thorakalen Läsionen können zusätzlich zum Sitzen eine Flexionsbegrenzung sowie ein Korsettteil zur Aufrichtung der Skoliose oder Stützung des Gibbus nötig sein. Als Hüftgelenk kommt ein Twister bzw. RGO zum Einsatz.
Der Twister ist ein reziprok geführtes 3‑D-Hüftgelenkssystem mit einer Sperre mit preselected-Funktion (Abb. 16). Die horizontal stehende Sitzachse kann zum Hinsetzen ausgekoppelt werden. Im geschlossenen Zustand schwenkt sie mit der um 30° geneigten Gehachse mit. Das biege- und verwindungssteife Beckenteil erlaubt den Beinschienen durch die schräggestellte Gehachse eine Beinrotation von insgesamt 25°. Dabei erfolgt die reziproke Führung der Flexion zur Rotation in einem Verhältnis von 1,8 zu 1. Die möglichen 12,5° Innen- und 12,5° Außenrotation beziehen sich auf die maximale Bewegung des Rumpfes zur unteren Extremität. Die Füße bleiben in der zuvor gewählten Laufrichtung ausgerichtet. Unter maximaler Ausnutzung der Beweglichkeit des Rumpfes (horizontale Beckenrotation von 30°) wird so dem Patienten ein energiesparendes Gehen bzw. ein schnelles Vorankommen ermöglicht. Er muss weder sein Körpergewicht gegen die Schwerkraft anheben noch die Schuhsohle gegen den Boden rotieren (Abb. 17).
Zur Benutzung des Twistergelenkes sollte der Patient über ein gutes Raum- und Gleichgewichtsgefühl verfügen und keine Aufmerksamkeitsstörungen oder motorischen Perzeptionsstörungen aufweisen. Geherfahrungen mit RGO-Orthesen oder Swivelwalker müssen vorhanden sein, ebenso eine gute Rumpfbeweglichkeit in der Frontal- und Sagittalebene. Skelett- oder Gelenkdeformitäten wie starke Skoliosen, Beugekontrakturen der Hüfte und Torsionsdeformitäten der Beine können zu schweren Beeinträchtigungen des Ganges und zur Undurchführbarkeit der Versorgung mit einer Twister-Orthese führen.
Bei Läsionen von L2 bis TH5 kann auch ein 2‑D-RGO (Abb. 15) Hüftgelenk nötig sein. Das biege- und verwindungssteife Beckenteil erlaubt den Beinschienen eine reziprok geführte isozentrische Bewegung (Flexion/Extension). Das Gelenk bleibt während jeder Phase des Gangzyklus parallel zur Laufrichtung und den Beinen ausgerichtet. Das RGO Gelenk ist mit einer preselected-Funktion ausgestattet und kann wie das Twister Gelenk zum Hinsetzen ausgekoppelt werden. Für eine Versorgung mit einem RGO Gelenk kommen Patienten mit schlechtem Raum- und Gleichgewichtsgefühl sowie Aufmerksamkeitsstörungen, motorischen Perzeptionsstörungen oder mit fehlender Geherfahrung in Betracht.
Ein 2‑D- oder 3‑D-Gelenk erlaubt im Schrittzyklus einen Zirkelgang, wobei zusammenfassend gesagt werden kann, dass durch die ermöglichte Beckenrotation eine Reduzierung der Rotation zwischen Boden und Orthesenschuhsohle erreicht sowie durch die Nutzung der Restmuskulatur zur Einleitung eines Schrittes der Energieaufwand beim Gehen vermindert werden kann (Abb. 17), was sich akzeptanzfördernd auf das Tragen der Orthese auswirkt. Zusätzliche Gehhilfen wie Rollator oder Gehstützen sind notwendig, um den Körperschwerpunkt zu verlagern.
Versorgung mit beckenhohen statischen Orthesen (BBF Becken Bein Fuß) werden bei Kleinkindern mit hohem Lähmungsniveau, anstelle eines Stehständers, zur ersten Vertikalisierung eingesetzt. Diese werden zur Vorbeugung und Korrektur von Außenrotationsfehlstellungen („Froschhaltung“) oder Beugekontrakturen in der Hüfte auch als beckenübergreifendende Nachtlagerungsschalen verwendet.
Gefertigt werden diese aus PE oder Acrylharz mit einer Polsterung. Die erste Möglichkeit für diese Kinder, sich im senkrechten Zustand in einem begrenzten Raum selbstständig fortzubewegen und ein erstes Gefühl für den Raum zu erhalten, bietet der Go-LiTe (Abb. 18). Der Go-LiTe ist die Weiterentwicklung der vorhandenen Swivelwalkersysteme. Er wird komplett aus Carbonfasern gefertigt; dadurch wird eine deutliche Gewichtsersparnis zu vergleichbaren Systemen erreicht. Zusätzlich wurde der Schwerpunkt tiefer gesetzt, um Stabilitätssicherheit zu erreichen. Als Orthese wird eine beckenhohe, statische Orthese verwendet.
Durch die schräggelagerten Achsen der Fußplatten des Go-LiTe kommt es bei Seitverlagerung des Körperschwerpunkts zur Fortbewegung. Durch den sehr tief gelagerten Masseschwerpunkt ist die Versorgung sehr sicher. Der Go-Lite kommt auch zum Einsatz bei Patienten mit einer Wahrnehmungsstörung, die mit einer anderen Gehorthese überfordert wären.
Fazit
Das Berliner Konzept kann durch die lange Erfahrung der Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit MMC als Leitfaden hinzubezogen werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. Man kann sagen, dass die Versorgung von Spina Bifida Patienten „Team Sport“ ist. Ziel ist es, künftige Probleme zu erkennen, bevor sie auftreten, und nicht hinter entstandenen Problemen (z. B. Deformitäten) herzulaufen. So erreicht das angewandte Ferrari-Konzept, dass weniger Operationen an sekundären Deformitäten durchgeführt werden müssen. Es kommt zu einer höheren Mobilität der Kinder, welche darüber hinaus auch zu einem früheren Zeitpunkt erreicht wird. Die Orthesenversorgung ist ein wichtiger Bestandteil dieses Konzepts. Durch die stetige Weiterentwicklung der vorhandenen Orthesensysteme ist eine qualitative Versorgung gegeben. Die bestehenden Systeme sind ausreichend beschrieben und valide. Verbesserungen können im Bereich des Materialeinsatzes und der Herstellung der Orthesen erreicht werden.
Der Erstautor ist Angestellter der Fa. Gottinger. Die Entwicklung der Orthesensysteme in Anlehnung an das Ferrari-Konzept ist in enger Zusammenarbeit mit dem SPZ entstanden. Zwischen dem SPZ der Charité für chronisch kranke Kinder und der Fa. Gottinger besteht kein vertragliches oder finanzielles Interesse.
Für die Autoren:
Marc Damerau
Gottinger Orthopädietechnik GmbH
Oudenarder Straße 16
13347 Berlin
md@gottinger.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Literatur beim Verfasser
Damerau M, Michael T, Günther N. Erfahrungen zur läsionsspezifischen Orthesenversorgung bei Patienten mit Spina bifida nach dem Berliner Konzept. Orthopädie Technik, 2013; 64 (1): 20–27
Abb. 1 Dr. Theodor Michael, ärztl. Leiter Sozialpädiatrisches Zentrum für chronisch kranke Kinder, Charité Berlin
Abb. 2 Prof. Dr. med. Adriano Ferrari, Leitender Arzt der Rehabilitationsabteilung der Klinik in Scandiano/Reggio Emilia und des Rehabilitationszentrums für Spina bifida in Parma
Abb. 3 – 18 Fa. Gottinger Orthopädietechnik GmbH, Ilchinger Weg 1, 85604 Zorneding
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