Einleitung
Die folgenden typischen angeborenen Fehlbildungen an der unteren Extremität lassen sich klassifizieren: proximaler fokaler Femurdefekt, fibulärer Längsdefekt und tibialer Längsdefekt. Auf diese verschiedenen Formen wird im Folgenden genauer eingegangen.
Proximaler fokaler Femurdefekt (PFFD)
Der proximale fokale Femurdefekt (PFFD) tritt mit einer Häufigkeit von 1,5 pro 100.000 Geburten auf 1. Die häufig genutzten Klassifikationen nach Aitken (1959) 2, Pappas (1983) 3 4 und Paley (1998) 5 orientieren sich in erster Linie am radiologischen Befund. Bei bis zu 70 Prozent der betroffenen Patienten treten assoziierte Fehlstellungen wie beispielsweise Valgusabweichungen am Knie, Fehlbildungen im Bereich der Patella, Hypo- und Aplasien der Fibula oder Fußfehlstellungen und Strahlendefizite 6 auf. Klinisch zeigen sich eine Verkürzung des Femurs, Kontrakturen im Bereich des Hüftgelenkes (Beugekontrakturen, Außenrotations- und Abduktionskontrakturen) sowie bei zusätzlichem Fibuladefekt Instabilitäten im Bereich des Kniegelenkes 7 8. Bei höhergradigen Defekten treten zudem pelvifemorale Instabilitäten auf. Das Behandlungsziel sollte in jedem Fall die achsgerechte Belastbarkeit der betroffenen Extremität sein. Im Bereich des Unterschenkels überwiegen die longitudinalen Defekte von Tibia und Fibula.
Fibulärer Längsdefekt
Der fibuläre Längsdefekt tritt mit einer Häufigkeit von 0,31 pro 10.000 Geburten auf 9 und ist die am häufigsten auftretende Dysmelie-Form im Bereich der unteren Extremitäten. Geläufige Klassifikationen wurden von Achtermann & Kalamchi (1997) sowie von Birch et al. (2011) veröffentlicht 10 11. Fibuläre Längsdefekte gehen mit einer Hypoplasie des gesamten Unterschenkels, Femurdefekten (bei zwei Dritteln der Patienten), Kreuzbandaplasie (bei 18 Prozent) sowie Fußfehlstellungen (bei fast allen Patienten) einher. Klinisch zeigen sich eine sichtbare Verkürzung des Unterschenkels, eine antekurvierte und valgische Tibia, Valgusabweichungen im Kniegelenk, Kniegelenksinstabilitäten sowie ein fehlender lateraler Malleolus bei Fibulaaplasie (Hochstand bei Hypoplasie). Der Fuß steht meist in Equinovalgusstellung. Zudem besteht eine Verkürzung des M. triceps surae und der Mm. peronei. Im Rückfuß ist der Fuß aufgrund von Synostosen der Fußwurzel oft rigide 12.
Tibialer Längsdefekt
Mit einer Häufigkeit von 0,21 pro 100.000 Geburten ist der tibiale Längsdefekt sehr selten. In der Praxis finden die Klassifikationen von Kalamchi & Dawe (1985), Jones (1978) und Weber (2002) Anwendung 13 14. Fast 80 Prozent der Patienten mit tibialen Defekten weisen weitere assoziierte Anomalien auf 15.Hierzu zählen verschiedene Fehlbildungen im Bereich des Fußes (subtalare Koalitionen, Strahlendefekte, Syndaktylien, Polydaktylien, Spaltfuß sowie Varusfehlstellung der Großzehe), Femurhypoplasien, Anomalien an Hüftgelenken und der Wirbelsäule sowie Herzfehler. Klinisch zeigen sich eine Verkürzung und Deformierung des Unterschenkels, ein hypoplastisches distales Femur, eine Flexionskontraktur im Knie (Typ I > 45°, Typ II 25–45°) 16, Einschränkungen in der Quadrizepsfunktion (Typ I: keine, Typ II: reduziert) und auch Klumpfußstellungen 17 18 19. Das primäre Behandlungsziel ist in einer bestmöglichen Kniegelenksbeweglichkeit und der plantigraden Fußstellung bei bestmöglichem Ausgleich der Beinlängendifferenz zu sehen 20.
Behandlungskonzepte
Im Folgenden werden die physiotherapeutischen Besonderheiten in Abhängigkeit vom Alter bei Patienten mit Fehlbildungen am Oberschenkel (PFFD) und Unterschenkel (Fibula- und Tibiahypo-/-aplasie) beschrieben. Aufgrund der individuell sehr unterschiedlichen Befunde werden entsprechend den Begleitsymptomatiken und dem Alter des Patienten die physiotherapeutischen Behandlungsziele und ‑maßnahmen speziell für jeden Patienten festgelegt. Die Auswahl der Behandlungstechniken begründet sich größtenteils auf langjährigen Erfahrungswerten der Verfasserin. Bisher wurden für die Therapie von Dysmelien keine physiotherapeutischen Versorgungsleitlinien veröffentlicht.
Das interdisziplinäre Behandlungskonzept richtet sich nach den kurz‑, mittel- und langfristig geplanten Behandlungsstrategien. Sowohl bei der Physiotherapie als auch bei der orthopädietechnischen Versorgung sollten anstehende Operationen – beispielsweise geplante Fußunterstellungen, Achskorrekturen, Amputationen oder Verlängerungsosteotomien – bekannt sein und berücksichtigt werden.
Säuglinge und Kleinkinder
Da die kognitiven Fähigkeiten der Kinder in der Regel nicht eingeschränkt sind, verfügen sie über eine funktionierende Handlungsplanung. Im Gegensatz zu erworbenen Amputationen weisen Patienten mit Dysmelien keine Operationsnarben, Knochen- und Nervenstümpfe, knöcherne Zuspitzungen am Stumpf und Phantomschmerzen auf. Körperschema und ‑gefühl sind normal entwickelt. Der Unterschied besteht in der formveränderten und/oder mehr oder weniger verkürzten Extremität 21; die kortikale Repräsentation ist dagegen in der Regel unbeschadet 22. Säuglinge mit unilateralen Dysmelien fallen häufig durch eine asymmetrische Stellung des Rumpfes und eine Vorzugshaltung des Kopfes in Rücken- und Bauchlage auf. Zur positiven Beeinflussung dieser Asymmetrie und der Wirbelsäulenentwicklung bieten sich Behandlungen auf neurophysiologischer Basis nach Bobath 23 und Vojta 24 an. Diese bieten zudem eine gute Grundlage zur Förderung der allgemeinen motorischen Entwicklung.
Neben der allgemeinen Entwicklungsförderung durch die neurophysiologischen Behandlungsansätze nach Bobath und Vojta steht bei allen Dysmelieformen die Verbesserung der passiven und aktiven Beweglichkeit an der betroffenen Extremität physiotherapeutisch im Vordergrund. Gerade bei Kindern mit PFFD sind eine Verbesserung der Hüftstreckfähigkeit sowie eine Mobilisation aus der bestehenden Abduktions- und Außenrotationsstellung wichtig. Hierfür bieten sich Techniken aus der Manuellen Therapie, in erster Linie unter Traktion, an (Abb. 1).
Beim tibialen Defekt besteht bereits nach der Geburt eine Einschränkung in der Kniegelenksbeweglichkeit. Mit dem Wissen um die Ausprägungsform des Defektes und die Stellung des Gelenkes kann mit Manueller Therapie (unter Traktion) das Bewegungsausmaß vergrößert und gegebenenfalls – entsprechend Vojta – die aktive Bewegung im Kniegelenk unterstützt werden. Bei nahezu allen Dysmelien am Unterschenkel ist der Fuß mitbetroffen. Entsprechend der Fehlstellung kommen ausgewählte manuelle Techniken (z. B. Dehnung, Mobilisation, Faszientechniken, Traktion) zum Einsatz. Erfahrungsgemäß bringt auch die dreidimensionale manuelle Fußtherapie nach Zukunft-Huber 25 Behandlungserfolge mit sich, jedoch wurde bisher kein wissenschaftlicher Nachweis dafür erbracht. Eine frühzeitige Anleitung in den unterschiedlichen Therapieformen sowie ein unterstützendes Coaching der Eltern durch den Therapeuten sind in jedem Fall unabdingbar.
Sobald die Kinder beginnen, sich zu vertikalisieren – meist um den 9. bis 12. Lebensmonat 26 – ist bei deutlicher Beinlängendifferenz oder Instabilität auf der betroffenen Seite eine erste Orthesen- oder Orthoprothesenversorgung durch einen erfahrenen Techniker indiziert. Bei Kindern mit Fehlbildungen im Bereich der Fibula und geringer Beinlängendifferenz genügen, sofern das Kniegelenk stabil ist, eine Schuherhöhung und ggf. eine stabilisierende Sprunggelenksorthese. Optimal ist es, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt Absprachen zwischen den behandelnden Therapeuten und dem Orthopädie-Techniker erfolgen. Die Versorgung sollte bei bestmöglicher Korrektur der Fehlstellung bequem, einfach anziehbar und leicht sein 27.
Auf ein mechanisches Kniegelenk wird bei Patienten mit einer PFFD bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres aufgrund der Proportionen und der Tatsache, dass die Kinder sich meist am Boden bewegen und das Knie häufig gebeugt werden würde, bewusst verzichtet 28. Bei Kindern mit einem Fibuladefekt und starker Beinlängendifferenz bei gleichzeitig stabilem Kniegelenk ist eine unterschenkellange Versorgung ausreichend; kniegelenksübergreifende Orthesen kommen bei instabilen Kniegelenken zum Einsatz. Die Versorgung des Tibiadefektes erfolgt entsprechend der Ausprägung der Fehlbildungen unterschenkellang oder kniegelenksübergreifend. Sobald die Versorgung passgerecht ist, beginnen die Kinder meist von allein mit den ersten Hochzieh- und Stehversuchen. Unterstützt wird dies therapeutisch entsprechend der normalen Entwicklung: vom Stehen – hierbei wird eine symmetrische Beinbelastung angestrebt (Abb. 2a u. b) – über das Seitwärtsgehen an Gegenständen (Abb. 2c) bis hin zum freien Gehen. Altersentsprechend sollte im Rahmen der Therapie u. a. auch das Aufstehen vom Boden, das Klettern (Abb. 2d) und das Abstützen beim Fallen geübt werden. Durch die von Neugier geprägte starke intrinsische Motivation wollen sich die Kinder in erster Linie ausprobieren und mit anderen Kindern mithalten. In diesem Alter ist es oft herausfordernd für die Eltern und Therapeuten anzuschauen, in welcher Weise die Kinder rennen.
Schulkinder
Wachstums- und entwicklungsbedingt verändern sich nicht nur die Orthesen- und Prothesenversorgung, sondern auch die therapeutischen Ziele und Maßnahmen: Während im Kleinkindalter die passiven Maßnahmen zur Verbesserung der Beweglichkeit überwiegen, kommen nun mehr und mehr aktive Übungen zum Einsatz.Kräftigungsübungen, die auch als Heimübungsprogramm angeleitet werden, führen zur Verbesserung der Wirbelsäulenstabilität und zur Kräftigung der beinstreckenden Muskulatur. Das Kraft- und Ausdauertraining kann entsprechend den NSCA-Guidelines (NSCA = National Strength and Conditioning Association) 29 erfolgen.
Bei Femurdefekten sollte besonderes Augenmerk auf die Aktivierung der hüftumgebenden Muskeln gelegt werden, während beim fibulären und tibialen Defekt in erster Linie die kniestreckende Muskulatur trainiert wird. Ziel ist eine ausreichende Standphasenstabilität während des Ganges. Die Möglichkeiten der Gangschule erweitern sich mit zunehmendem Alter und wachsender Compliance der Kinder. Hinzu kommt die eigene Motivation, möglichst unauffällig zu gehen, die bei jüngeren Kindern noch geringer ausgeprägt ist.
Der Alltag der Kinder sollte bei der Therapie unbedingt Berücksichtigung finden. Das Erfragen der Wohn- und Schulsituation (Treppen, Wegstrecken, unebenes Gelände, Hobbys) erlaubt dabei einen tieferen Einblick in die benötigten Fähigkeiten wie Gleichgewicht oder Koordination und ermöglicht durch Üben eine verbesserte Partizipation. Um auch lange Strecken wie beispielsweise zur Schule oder in der Freizeit bewältigen zu können, empfiehlt sich die Anpassung von Hilfsmitteln wie Gehstützen oder auch eines Rollstuhls.
Mit dem Eintritt in die Schule ist es zudem sinnvoll, verschiedene Sportarten auszuprobieren, die mit Orthese oder Prothese bzw. auch ohne diese ausgeübt werden können. Das Spektrum hierbei ist weitreichend – vom Kinderturnen über Ballsportarten wie Fußball oder Tennis, Klettern (Abb. 3), Schwimmen, Skifahren oder Reiten bis hin zum Kampfsport oder zum Bogenschießen. Neben den positiven Aspekten, die die körperliche Betätigung als solche mit sich bringt, profitieren davon auch das Selbstwertgefühl und die allgemeine Lebenszufriedenheit der Heranwachsenden 30.
Jugendliche und Erwachsene
Spätestens ab dem Jugendalter gewinnt die Kosmetik mit der damit verbundenen Unauffälligkeit an Bedeutung. Die Versorgung muss dem Patienten die maximal mögliche Partizipation in den Kontexten Schule, Ausbildung, Beruf und Freizeit gewährleisten. Viele Patienten trainieren die Rumpf- und Beinmuskulatur sowie ihre Ausdauer (Abb. 4) vermehrt im Fitnessstudio oder durch Freizeitsport. Physiotherapie ist dann häufig nur noch bei Schmerzproblematiken, postoperativ oder bei orthoprothetischen Neuversorgungen indiziert.
Es werden Schmerzen im Bereich der Rückenmuskulatur angegeben, die oftmals durch das asymmetrische Gangbild und muskuläre Dysbalancen verursacht werden. Wegen der veränderten Knieflexions- und Sprunggelenksbeweglichkeit nutzen die Patienten eine vermehrte Lateralflexion im Bereich der Lendenwirbelsäule in der Schwungphase, was die Asymmetrie verstärkt. Neben der Erarbeitung einer ausreichenden Standphasenstabilität liegt ein wichtiges Augenmerk auf der Differenzierung von Stand- und Schwungbein (Abb. 5a u. b).
Gerade bei der Umstellung von einem mechanischen auf ein mikroprozessorgesteuertes (MP-)Kniegelenk, wie es bei manchen Patienten mit Fehlbildungen am Oberschenkel sinnvoll ist, besteht Bedarf an einer intensiven Gangschule (Abb. 6). Diese sollte in enger Rückkopplung zur Orthopädie-Technik erfolgen, um gegebenenfalls Optimierungen in den Einstellungen und Gelenkfreigaben vornehmen zu können. Bei der Gangschule bedarf es der Erfahrung und eines speziellen Wissens um die Möglichkeiten und Grenzen der Versorgung – nur so sind prothesentypische Gangbesonderheiten von Gangfehlern zu differenzieren. Bewegungseinschränkungen oder Kontrakturen, Muskelschwächen, Schmerzen oder Koordinationsprobleme beeinflussen seitens des Patienten das Gangbild. Durch physiotherapeutisches Training können jedoch das Kompensationsvermögen und die Leistungsfähigkeit geschult werden 31.
Diskussion
Während in der Vergangenheit das Hauptaugenmerk therapeutischer Interventionen auf der Ebene der Körperfunktionen und ‑strukturen lag, wurde durch die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2001 veröffentlichte ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) 32 eine ganzheitliche und strukturierte Betrachtungsweise der Patienten in den Fokus gerückt 33. Deshalb werden die Aktivitäten und vor allem auch die Partizipation zunehmend berücksichtigt. Gerade auf diesen Ebenen wird der Behandlungsfortschritt für die Patienten und auch die Kostenträger häufig erst messbar. Unter Einbeziehung der persönlichen Kontext- und der Umweltfaktoren können eine individuelle Therapie sowie entsprechende Hilfsmittelversorgungen erfolgen. Das biopsychosoziale Modell (Abb. 7) der WHO zeigt die möglichen Beziehungen zwischen den einzelnen Ebenen im Zusammenhang mit Gesundheit, Krankheit, Funktionsfähigkeit und Behinderung auf.
In der Orthopädischen Kinderklinik Aschau profitieren Patienten mit Dysmelien von der intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit. Basierend auf der kinderorthopädischen Diagnostik erarbeiten erfahrene Ergo- und Physiotherapeuten gemeinsam mit Kollegen aus Orthopädie- und Reha-Technik ein nachhaltiges Behandlungskonzept. In der Klinik ermöglichen direkte Absprachen und unmittelbare Feedbackschleifen eine optimale Therapie für Patienten mit Dysmelien. Um die Weiterführung und somit die Nachhaltigkeit der Therapie auch im häuslichen Umfeld sicherzustellen, ist Patienten- und Angehörigenedukation 34 bzw. ‑coaching ein weiterer wichtiger Behandlungsaspekt.
Patientenbeispiel I
Ein Patient mit der Diagnose PFFD Typ C sowie Fibulaaplasie links ist mit einer oberschenkellangen Orthoprothese in Containertechnik mit einem mechanischen Kniegelenk versorgt. Vor drei Jahren erfolgte die Resektion des Kniegelenkes mit einer Plattenarthrodese.
Personenbezogene Faktoren
Der Junge ist fast zwölf Jahre alt. Er hat eine Schwester. Seine Motivation ist pubertätsbedingt schwankend. Er besucht die 5. Klasse einer Realschule. Seine Mutter begleitet ihn während des stationären Aufenthaltes. Auf der Ebene der Körperfunktionen und ‑strukturen zeigen sich eine deutliche Verkürzung der linken unteren Extremität, eine Schwäche der Hüftabduktoren (MFT 3) sowie eine eingeschränkte Hüftbeuge- (50°) und ‑abduktionsfähigkeit (10°). Beim zügigen Gehen zeigen sich eine verstärkte Lateralflexion im Bereich der LWS und ein Duchenne-Hinken auf der linken Seite. Unter Belastung gibt der Junge Rückenschmerzen (VAS 7/10) an.
Umweltfaktoren
Durch den Wechsel auf die weiterführende Schule muss der Junge zu Fuß ca. 1000 m mit dem schweren Schulrucksack zur Bushaltestelle gehen; es folgen weitere 1500 m von der Haltestelle zur Schule. Bisher war die Schule am Heimatort, und er konnte sie mit dem Therapierad erreichen. Über den Schultag verteilt sitzt der Junge ungefähr 6 Stunden, was ihm auf einem Standardstuhl aufgrund der eingeschränkten Hüftbeugefähigkeit links schwerfällt.
Ebene der Partizipation und Aktivität
Aufgrund der Schmerzproblematik beim zügigen Gehen längerer Strecken unter zusätzlicher Belastung durch den Schulrucksack ist der Junge auf dem Weg zur Schule und zurück deutlich langsamer als seine Klassenkameraden. Es kommt immer wieder vor, dass er zu spät in der Schule oder an der Haltestelle ankommt. In seiner Freizeit schwimmt er regelmäßig.
Im Rahmen des stationären Aufenthaltes wurde seitens der Ergotherapeuten ein Sattelsitz ausgetestet und verordnet, der eine aufrechte Sitzposition über mehrere Stunden in der Schule trotz eingeschränkter Hüftbeugefähigkeit auf der linken Seite ermöglicht. Die Orthoprothese wurde wachstumsbedingt nachgepasst. Ebenso wurde ein dynamisches Fußteil adaptiert, das den Gangrhythmus verbessert und somit auch den Energieaufwand beim Gehen reduziert. Neben der Gangschule erfolgte die Anleitung der Mutter im Dehnen der verkürzten Adduktoren und Hüftstrecker unter Traktion durch die Physiotherapeuten. Zudem wurde gemeinsam mit dem Jungen ein Übungsprogramm zur Kräftigung des Rumpfes und der Hüftabduktoren erarbeitet, das er selbstständig zwei- bis dreimal pro Woche durchführen soll. Über den Sozialen Dienst der Klinik wurde beantragt, dass der Junge mit einem Transportunternehmen zur Schule gebracht wird, um ihm einen pünktlichen Unterrichtsbeginn zu ermöglichen.
Patientenbeispiel II
Ein Mädchen mit einer Fibulaaplasie auf der rechten Seite kommt zur Erstvorstellung in die Klinik.
Personenbezogene Faktoren
Das Mädchen ist 10 Monate alt. Sie ist freundlich, lächelt viel und zeigt Bewegungsfreude. Auf der Ebene der Körperfunktionen und ‑strukturen zeigt sich eine deutliche Verkürzung bei leichter Valgisierung des rechten Unterschenkels. Der Fuß ist 4‑strahlig angelegt und steht in Equinovalgusstellung. Das Kniegelenk ist stabil und weist ein Streckdefizit von ca. 10° auf; es kann aktiv gestreckt und gebeugt werden.
Aktivitäten und Partizipation
Das Mädchen ist in der Lage, sich selbstständig zu drehen, sie kann krabbeln und sich alleine aufsetzen. Seit wenigen Tagen zieht sie sich aktiv in den Stand hoch. Gehen ist aufgrund der Beinverkürzung nicht möglich. Zum Ausgleich der Beinlängendifferenz wurde eine unterschenkellange Orthoprothese angefertigt. Im Rahmen der Physiotherapie erfolgte eine intensive Anleitung der Mutter zur Dehnung des Knie- und Fußgelenkes. Zudem wurden Funktion und Länge der Orthoprothese in Absprache mit den Technikern angepasst. Das Mädchen integrierte die Versorgung sofort beim Krabbeln und Aufziehen zum Stand. Das Erlernen des Seitwärts- und Vorwärtsgehens wird am Heimatort durch die zuständige Therapeutin begleitet. Durch die Kinderorthopäden und Therapeuten wurde die Mutter über die weitere Entwicklung – auch in Bezug auf anstehende Operationen (Wachstumslenkung, Fußkorrektur) – informiert.
Fazit
Die Behandlung von Patienten mit Dysmelien im Bereich der unteren Extremität (proximaler fokaler Femurdefekt, fibulärer Längsdefekt und tibialer Längsdefekt) unterliegt, wie sich gezeigt hat, besonderen therapeutischen und orthopädietechnischen Anforderungen. Angesichts der individuell sehr unterschiedlichen Befunde müssen entsprechend den Begleitsymptomatiken die physiotherapeutischen Behandlungsziele und ‑maßnahmen individuell festgelegt werden.
Wie gezeigt wurde, unterscheiden sich die therapeutischen Maßnahmen und Versorgungen je nach Alter der Patienten deutlich: Während im Kleinkindalter die passiven Maßnahmen zur Verbesserung der Beweglichkeit überwiegen, kommen bei Schulkindern mehr und mehr aktive Übungen zum Einsatz. Spätestens ab dem Jugendalter gewinnt die Kosmetik der Versorgung mit der damit verbundenen Unauffälligkeit an Bedeutung.
Generell profitieren Patienten mit Dysmelien von einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit. Dabei erarbeiten erfahrene Ergo- und Physiotherapeuten gemeinsam mit Kollegen aus Orthopädie- und Reha-Technik ein möglichst nachhaltiges Behandlungskonzept. In der Klinik ermöglichen direkte Absprachen und unmittelbare Feedbackschleifen eine optimale Therapie für Patienten mit Dysmelien. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist eine adäquate Edukation von Patienten und Angehörigen.
Die Autorin:
Wencke Ackermann M. Sc.
Leitende Physiotherapeutin
Orthopädische Kinderklinik Aschau
Bernauer Str. 18
83229 Aschau
w.ackermann@bz-aschau.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Ackermann W. Dysmelien der unteren Extremität: physiotherapeutische Behandlung und Besonderheiten im Kontext der interdisziplinären Zusammenarbeit. Orthopädie Technik, 2018; 69 (2): 38–43
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
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