Wie gewohnt waren die Vorträge eine Mischung aus klinischen Fällen, aktuellen Studien und Therapieansätzen. Im Mittelpunkt stand das Lipödem hinsichtlich der Schnittstelle zur Adipositas sowie zur Adipositaschirurgie.
Mit einem Vortrag über die Auswirkungen der Pandemie bei Lymphödempatient:innen eröffnete Dr. Anett Reißhauer das Symposium. Zwar sei die Impfempfehlung der beiden lymphologischen Gesellschaften hilfreich gewesen, aber es sei auch zu Lymphknotenschwellungen nach Impfungen gekommen. Zudem hätte die Lebenszufriedenheit der Patient:innen gelitten. Im Anschluss präsentierte Prof. Dr. med. Dieter Blottner, Berlin, Neues aus der anatomischen Forschung bei der Lymphversorgung des Kopfes/Gehirns. Eine Studie über die zirkadianische Kontrolle des Gehirn-Lymphflusses zeigt, dass der lymphatische Fluss auch einem Tag-Nacht-Rhythmus unterliegt.
„Lipödem weder eine lymphologische noch eine Ödemerkrankung“
Was tun, „wenn die Schilddrüse aus dem Takt ist“?: Mit dieser Frage beschäftigte sich PD Dr. med. Ulf Elbelt, Berlin, und fokussierte dabei die Schnittstelle zur Lymphologie. Lipödem und (sekundäres) Lymphödem seien Adipositas-assoziiert. Dass das Lipödem weder eine lymphologische noch eine Ödemerkrankung sei, postulierte Dr. med. Tobias Bertsch, Hinterzarten, und verwies in diesem Zusammenhang auf den Paradigmenwechsel und Internationalen Consensus beim Lipödem-Syndrom. Der/die Physiotherapeut:in habe eine Schlüsselrolle in diesem Behandlungskonzept, das aus Physio-/Bewegungstherapie, Kompressionstherapie, Psychosoziale Therapie, Gewichtsmanagement, Selbstmanagement und Liposuktion bestehen könne.
Gibt es Studien, die Aussagen treffen, wie die „Ernährungstherapie beim Lipödem“ aussehen könnte? Dazu referierte Dr. med. Stefan Kabisch, Berlin. Er kam zu dem Schluss, dass die Datenlage zum Lipödem vollkommen unzureichend sei. Es gebe weder für Low Fat, mediterrane Diät noch für Low Carb aussagekräftige Studien. Im Anschluss folgten von Dr. med. Christine Schwedtke und Ebba Al Khames, Berlin, Praxisbeispiele, bevor Dr. med. Max Liebl, Berlin, ein Update zur Kompressionstherapie unter besonderer Berücksichtigung des Erysipels gab.
Der zweite Teil begann mit neuesten Entwicklungen zur Adipositaschirurgie von Dr. med. Christian Denecke, Berlin. Er führte Gründe für die Metabolische Chirurgie auf, wie Diabetes-Remission oder Reduzierung des kardiovaskulären Risikos sowie von Tumorerkrankungen. Zum Thema Bariatrische Chirurgie und Lipödem/Lymphödem sei die Evidenzlage gering. Welche Herausforderungen haben Physiotherapeut:innen bei der Behandlung Adipositas-assoziierten Lip- und Lymphödem-Patient:innen zu stemmen? Darüber informierte Thomas Zähringer, Hinterzarten. Relevante Probleme seien z. B. Form der Beine, schlechter Trainingszustand oder negatives Verhältnis zu Sport sowie die Grenzen der Belastbarkeit therapeutischer Einrichtungen, wie z. B. Therapieliegen oder ‑geräte. Anschließend sprach Dr. med. Barbara Netopil, Königstein, über die „Entstauungstherapie und Multimorbidität – ein Spannungsfeld?“. Hier seien Modifikationen der Therapie wie beispielsweise besonders gute Polsterung, mehrteilige Bestrumpfung oder MLD vor einer Dialyse notwendig. Zwei Praxisbeispiele der klinischen Visite rundeten diesen zweiten Teil ab. Das Thema Selbstmanagement stand im Mittelpunt des Vortrags „Gesund und aktiv leben mit Lip-/Lymphödem – Faktoren gelingender Lebensstiländerung“ von Susanne Helmbrecht, Herzogenaurach. Sie stellte den Lymphselbsthilfe e. V., seine Ziele und die Selbstmanagement-Programme Gallily/Gally vor.
Verdacht: Lipödem – Retrospektive Studie zur Diagnosesicherung
Ein Höhepunkt des Symposiums war der Vortrag von Dr. med. Anett Reißhauer zu der Studie „Diagnosesicherung der Verdachtsdiagnose Lipödem – retrospektive Auswertung von Daten der HSA (Hochschulambulanz) Physikalischen Medizin“. Im Interview mit der OT-Redaktion stellt sie Eckpunkte der Inhalte vor und reißt erste Ergebnisse der Studie an.
OT: Was war Ihre Intention für die Studie?
Anett Reißhauer: Das Thema Lipödem ist stark in den Fokus der Medien gerückt – insbesondere vor Beginn der Corona-Pandemie. Es stellen sich immer mehr Patient:innen vor mit der Vermutung, ein Lipödem zu haben. Tatsächlich bestehen aber sehr häufig andere Probleme.
OT: In Ihrer Studie waren ca. 500 Patient:innen eingeschlossen, die mit dem Verdacht „Lipödem“ zu Ihnen in die Charité kamen. Untersucht wurden viele Aspekte. Was stach bei den Ergebnissen besonders heraus?
Reißhauer: Es sind noch nicht alle Ergebnisse fertig. Es gibt Hinweise darauf, dass die Anzahl der tatsächlichen Lipödeme sehr diskrepant zum Überweisungsgrund ist, das heißt viel weniger Patient:innen an einem Lipödem leiden als angenommen. Es ist wichtig, diese Frage zu klären, damit die Patient:innen nicht über längere Zeit glauben, ein Lipödem zu haben und deswegen andere Probleme nicht erkannt und angegangen werden.
OT: Welche Probleme sind das?
Reißhauer: Zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen oder eine Schilddrüsendysfunktion. Es ist wichtig, dass Erkrankungen ausgeschlossen werden, die häufig ebenfalls Schmerzen verursachen. Auch der Anteil an Patient:innen mit Adipositas muss herausgefiltert werden, weil die Versorgung eine andere Herangehensweise erfordert als die eines Lipödems. Die oft gewünschte manuelle Lymphdrainage beispielsweise ist bei der Problematik in den meisten Fällen nicht zielführend. Die Bestimmung des Body-Mass-Index (BMI), der zur Abklärung eines Lipödems nach wie vor herangezogen wird, kann zwar erhoben werden, spielt aber zur Differenzierung des Lipödems keine Rolle. Viel wichtiger dabei hingegen ist der Taille-Hüft-Index.
OT: Mit Blick auf die ersten Hinweise, die die Studie gibt: Welche Schritte könnten daraus abgeleitet werden?
Reißhauer: Wichtig wird es sein, die Ergebnisse in Fortbildungen einfließen zu lassen, sowohl für lymphologisch interessierte Ärzt:innen als auch insbesondere für Hausärzt:innen. Denn gerade dort werden die Überweisungen generiert.
OT: Die Diagnostik und die Abgrenzung Lymphödem, Lipohypertrophie, Lipödem und Adipositas sind schwierig. Warum?
Reißhauer: Das ist tatsächlich eine diagnostische Herausforderung, weil es Trennschärfen gibt. Klinisch ist das Lymphödem noch verhältnismäßig unproblematisch von den anderen Krankheitsbildern zu trennen, weil hier die klassischen Unterhautgewebsveränderungen und meist keine symmetrischen Veränderungen im Bereich der unteren Extremitäten vorliegen. Zudem kann das Stemmersche Zeichen als diagnostisches Mittel herangezogen werden. Lipödem, Adipositas und Lipohypertrophie sind aufgrund meist symmetrischer Veränderungen schwieriger voneinander zu trennen, auch weil wir noch nicht über sichere bildgebende Verfahren verfügen.
OT: In seinem Vortrag sagte Dr. Tobias Bertsch, das Lipödem sei eindeutig keine Ödemerkrankung. Warum ist diese Diskussion wichtig?
Reißhauer: Es ist verwirrend, besonders für die Patient:innen selbst, dass „Ödem“ in dem Wort steckt. Wir wissen mittlerweile, dass es sich bei einem Lipödem nicht um ein Ödem im Sinne von Flüssigkeitsansammlung im Gewebe handelt. Der Begriff suggeriert andere therapeutische Möglichkeiten, wie zum Beispiel Entstauungstherapie, die hier nicht zielführend sind. Das ist eine Wendung hinsichtlich der therapeutischen Strategie. Es gibt deswegen Überlegungen, den Begriff Lipödem zu verändern. Doch das ist schwierig, weil er sich weltweit etabliert hat.
OT: Welche Rolle spielt die Kompressionstherapie?
Reißhauer: Die Kompressionstherapie ist nach wie vor bedeutsam, weil das Lipödem meist mit einer Bindegewebsschwäche und dabei mit venöser Insuffizienz und auch Adipositas einhergeht. Beide Faktoren, Bindegewebsschwäche und Adipositas, machen im Rahmen der sekundären Prävention eine Kompression nötig, um eine Veneninsuffizienz zu vermeiden. Und davon sind Patient:innen mit Übergewicht und Adipositas besonders bedroht. Insofern wird der Stellenwert der Kompression nicht kleiner werden. Es ist ein therapeutischer Fortschritt, dass seit der Aufnahme ins Hilfsmittelverzeichnis im Dezember 2021 medizinische adaptive Kompressionssysteme verordnet werden können. Diese gibt es schon seit Längerem. Aber welche Patient:innen konnten sich das vorher leisten? Dies stellt nun eine große Bereicherung hinsichtlich der Auswahl an Kompressionsmöglichkeiten dar. Eine weitere Bereicherung sind innovative Polstermaterialien, die nicht wie übliche Wattebinden verworfen werden, sondern gewaschen werden können. Wiederverwendbare Materialien haben für uns einen großen ökonomischen und ökologischen Vorteil.
OT: Welche Tipps geben Sie Patient:innen bei der Diagnose Lipödem bzw. Adipositas-assoziiertes Lymphödem in Ihrer Sprechstunde? Auch hinsichtlich des Stichworts „Selbstmanagement“?
Reißhauer: Das ist ein wichtiger Punkt. Es freut mich immer wieder sehr, dass die Selbsthilfeverbände extrem aktiv sind und dass in der aktuellen Leitlinie Bewegungsübungen und Selbstmanagement eine wichtige Rolle spielen. Wir geben den Patient:innen in der Sprechstunde immer Hinweise zu entstauenden Übungen und Hautpflege. Wenn wir danach fragen, wie häufig sie die Übungen durchführen, zeigt sich aber: Es ist noch viel Luft nach oben. Dabei ist Bewegung ein wesentlicher Teil des Selbstmanagements. In unserer Sprechstunde läuft auch aktuell eine Studie zu dem Thema.
OT: Mit welchem Hintergrund?
Reißhauer: Die Studie überprüft Übungen für die oberen und unteren Extremitäten jeweils getrennt voneinander und soll zeigen, inwiefern sie Faktoren wie Spannungsschmerzreduktion, Lebensqualität und ggf. Volumenreduktion positiv beeinflussen. Die Patient:innen erhalten dafür per QR-Code ein onlinebasiertes Programm. Wer nicht über die technischen Möglichkeiten verfügt, erhält ein Äquivalent auf Papier. Die Studie wird von den Patient:innen auch sehr gut angenommen. Die Ergebnisse werden wir beim nächsten Lymphologischen Symposium, das am 22. April 2023 in Berlin stattfindet, vorstellen können.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
- Vergleich der Wirksamkeit von robotergestützter Rehabilitation und konventioneller Therapie zur Verbesserung der oberen Extremitätenfunktion bei Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese: eine Literaturübersicht — 3. Dezember 2024
- Das Synsys-Prothesensystem – technische und klinische Merkmale — 3. Dezember 2024
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024