Einführung
Die Abgabe von Gehhilfen gehört zu den häufigsten Maßnahmen im Sanitätshaus. Gehhilfen kommen insbesondere bei Erkrankungen aus den Bereichen Traumatologie, Orthopädie, Neurologie, Neuroorthopädie und Geriatrie zur Anwendung.
Der Breite des Indikationsspektrums steht eine entsprechende Vielfalt an Produkten gegenüber. Für die Gesamtheit der Gehhilfen gibt das GKV-Hilfsmittelverzeichnis folgende Definition: „Gehhilfen dienen gehbehinderten Menschen zum Ausgleich der verminderten Belastbarkeit oder Leistungsfähigkeit der unteren Extremität. Ihr Ziel ist die Erweiterung des vorher eingeschränkten Aktionsradius” 1.
Nutzen in der Anwendung von Gehhilfen
Die Wirkung von Gehhilfen basiert insbesondere auf zwei Aspekten, die miteinander korrespondieren und je nach Art des eingesetzten Produktes unterschiedlich dominieren: Zum einen bewirken Gehhilfen eine Entlastung der unteren Extremität ihres Anwenders bei gleichzeitiger Mehrbelastung der oberen Extremität oder des Rumpfes 1. Zum anderen vermitteln sie eine vergrößerte Unterstützungsfläche und bewirken somit eine Stabilisierung von Stand und Gang 2.
Einzelne Gehhilfen folgen als „verlängertes Sinnesorgan” einem gänzlich anderen Wirkprinzip, wie es am Blindenlangstock deutlich wird. Produkte dieser Art werden im vorliegenden Artikel nicht weiter besprochen.
Einteilung und Spezifika
Nachfolgende Klassifizierung 1 3 4 berücksichtigt die wichtigsten und am häufigsten verwendeten Gehhilfen.
(Hand-)Gehstock
Handgehstöcke (Abb. 1) setzen beide bereits erwähnten Wirkprinzipien um, nämlich Entlastung der unteren Extremität sowie Vergrößerung der Unterstützungsfläche. Da Handgehstöcke in aller Regel einseitig angewandt werden, resultiert aus der Lastumverteilung auf den Stock Kritik am Einsatz von Gehstöcken. Diese Kritik verweist auf einen Symmetrieverlust beim Nutzer als Folge der dauerhaften Abstützung auf einer einseitigen Gehhilfe. Chancen und Risiken müssen somit abgewogen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass einseitig verwendete Gehstöcke auch erhebliche Vorteile bieten, indem der Anwender eine Hand zur freien Verfügung behält. Einseitig genutzte Handgehstöcke werden vorteilhafterweise auf der nicht betroffenen Körperseite gehalten.
Für Handgehstöcke und andere Gehhilfen stehen unterschiedliche Griffarten zur Wahl. Empfehlenswert sind anatomische Griffe, insbesondere auch in Kombination mit einem Schwanenhals. Anatomische Griffe vergrößern die Kontaktfläche in der Hand, schaffen somit eine günstige Lastverteilung und bremsen die Dorsalextension. Schwanenhalsgriffe (Abb. 2) mindern Deviationen im Handgelenk.
Gehstütze
Gehstützen folgen ebenfalls den erwähnten Wirkprinzipien, können die untere Extremität aber erfolgreicher entlasten, indem sie mehr Körperareale als kompensatorische Abstützungsflächen heranziehen als nur die Hand. So beziehen Unterarmgehstützen (Abb. 3) zusätzlich zur Hand den Unterarm in die Belastung mit ein. Arthritis-Gehstützen (Synonym: „Unterarmgehstützen mit Armauflage”, Abb. 4) belasten explizit den Unterarm bei weitgehender Entlastung und Ruhigstellung von Hand und Handgelenk. Achselgehstützen (Abb. 5) stemmen sich mit einem konkaven Polster in Achselnähe am Thorax ab, wobei die Hände des Anwenders vor allem zur Führung der Stützen dienen. Da Gehstützen üblicherweise beidseitig eingesetzt werden, provozieren sie im Gegensatz zu Gehstöcken weniger Symmetrieverluste beim Nutzer. Dass dem Anwender dabei keine Hand für anderweitige Nutzung frei bleibt, muss wiederum Gegenstand einer Güterabwägung sein.
Paarweise eingesetzte Gehstützen ermöglichen unterschiedliche Gangformen (Abb. 6) für unterschiedliche Indikationen 5:
- Durchschwunggang bei Lähmung beider Beine,
- 3‑Punkte-Gang zur temporären, vollständigen Entlastung eines Beins z. B. nach Trauma oder Operation,
- 4‑Punkte-Gang zur Teilentlastung beider Beine.
Mehrpunktgehstock/ Mehrpunktgehstütze
Stöcke und Stützen (selten) mit Mehrpunktauflage (Abb. 7) betonen die Standsicherheit gegenüber der Gangdynamik und sind somit vorzugsweise für Personen geeignet, die ohnehin nur minimale Gehgeschwindigkeit erreichen können, aber einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis unterliegen.
Gehgestell/Gehbock
Gehgestelle (Abb. 8) bzw. Gehböcke (Abb. 9) sind in starrer, reziproker sowie fahrbarer (vorne Räder, hinten Stützen) Ausführung erhältlich. Entgegen ihrer Bezeichnung sind Gehböcke und ‑gestelle nur sehr bedingt als „Geh”-Hilfe zu betrachten, was ihre Bedeutung im Versorgungsgeschehen aber nicht schmälert. Gehböcke und ‑gestelle sichern den Stand einer Person erheblich, hemmen ihren Gang aber durch eine diskontinuierliche Funktion, bei der zwischen zwei Abstützungen auf dem Hilfsmittel jeweils ein Anheben des Hilfsmittels – während des Gangs – erforderlich ist. Gehböcke und ‑gestelle eignen sich in besonderer Weise für Pflegesituationen und andere Verrichtungen, die einen sicheren Stand erfordern. Gehstrecken sollten aber auf geringe Distanzen in Innenbereichen begrenzt bleiben.
Rollator
Der Einsatz eines Rollators (Abb. 10) erfolgt innerhalb des gesamten oben genannten Indikationsspektrums. Rollatoren sind fahrbare Gehhilfen, die ihrem Anwender eine vergrößerte Unterstützungsfläche bieten. Der therapeutische Gewinn konzentriert sich auf eine günstige Beeinflussung von Gangunsicherheiten – eine relevante Gewichtsentlastung der unteren Extremität ist dagegen nicht zu erwarten 6. Rollatoren werden sowohl inner- als auch außerhäuslich genutzt, ihre Konstruktion ist üblicherweise vierrädrig und faltbar. Für einen sicheren Betrieb sind Bremsen zur Geschwindigkeitskontrolle sowie als Feststellfunktion unverzichtbar, ggf. können auch Rücklaufsperren vorgesehen werden. Der Kontakt zwischen Nutzer und Rollator erfolgt über höhenjustierbare Handgriffe oder Unterarmauflagen. Weiteres Zubehör ist optional und dient zur Verbesserung der Alltagstauglichkeit (Sitz, Gepäckablage etc.).
Varianten
- Rollator ventral geführt: Er stellt die übliche Form des Rollators dar und wird dementsprechend auch so bezeichnet. Ventral geführte Rollatoren ermöglichen einen leichten, unmittelbaren Einstieg und sind in der Erwachsenen- bzw. Geriatrieversorgung praktisch exklusiv vertreten.
- Rollator dorsal geführt: Er wird meist als „Posterior-Walker” bezeichnet und vom Nutzer hinter sich hergezogen. Dorsal geführte Rollatoren vermitteln dem Anwender in der Regel eine bessere Rumpfaufrichtung. Ihr Einsatz ist bisher in der Kinder- und Jugendversorgung etabliert, wobei eine zwingende Begründung für diese Einschränkung nicht zu erkennen ist.
- Sondermaße: Räder mit größeren Durchmessern verbessern die Straßentauglichkeit von Rollatoren. XL-Maße in der Rahmenkonstruktion berücksichtigen schwergewichtige Personen. Beides kommt zunehmend zur Anwendung.
- Dreirädriger Rollator (Synonym: „Deltagehrad”, Abb. 11): Gehhilfe mit geringer Unterstützungsfläche, die einer Kipptendenz nach schräg vorne unterliegt. Die Nutzung von Deltagehrädern ist mit erheblichen Risiken verbunden.
Gehtrainer
Die oben beschriebenen Rollatoren setzen immer voraus, dass der Anwender die Motorik des Gehens prinzipiell beherrscht. Gerade in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit neuromotorischen Erkrankungen ist dies aber nicht immer gewährleistet. In solchen Fällen können Gehtrainer dem Betroffenen mittels einer Rahmenkonstruktion eine Aufrichtung und Stabilisierung des Rumpfes gewähren. Hierzu dienen ventrale und/oder dorsale Pelotten sowie Handgriffe und/oder Unterarmauflagen, ggf. auch Achselstützen etc.. Die Rahmenkonstruktion selber ist als vier- oder auch fünfrädriges Fahrgestell ausgeführt, das dem Nutzer eine mitlaufende Unterstützungsfläche bietet. Zum Betrieb stößt er sich mit den Füßen vom Boden ab, erzeugt Bewegung und trainiert dabei motorische Gangmuster. Die Arbeit mit einem Gehtrainer ist als Therapie zu verstehen und entsprechend an fachkundige Hilfestellung und Aufsicht gebunden.
Die Produktpalette der Gehtrainer ist groß und variantenreich, wobei viele mit Sätteln ausgestattet sind, deren Einsatz kritisch zu betrachten ist. Bei einer Kompensation des Körpergewichts auf einem Sattel erlangen einige Anwender zwar eine hohe Mobilität, stoßen sich dabei aber mit beiden Füßen gleichzeitig vom Boden ab, was für den Erwerb eines alternierenden Gangs kontraproduktiv ist. Wenn das Erlernen des alternierenden Gangs Priorität hat, kann der Einsatz eines Gehtrainers mit reziproker Beinführung erwogen werden, siehe unten. Zur Erhöhung der Betriebssicherheit stehen Bremsen in verschiedenen Varianten und Rückfahrsperren zur Verfügung.
Über die soeben besprochenen Gehtrainer hinaus gibt es stationäre Geräte für das Anbahnen von Gangmustern wie etwa Lokomat® oder Innowalk®. Hilfsmittel dieser Art werden im vorliegenden Artikel nicht berücksichtigt.
Gehtrainer mit reziproker Beinführung
Diese sind speziell zur Provokation des alternierenden Gangs konzipiert und stellen eine Kombination aus doppelseitiger, hüftübergreifender Beinorthese mit einem Fahrzeug dar. Sie koppeln beide Beine ihres Nutzers über einen oberen Zug mit hinterer Umlenkung sowie einen unteren Zug mit vorderer Umlenkung. Hierdurch ergibt sich eine wechselseitige Bewegungsübertragung von einem Bein auf das andere. Gehhilfen aus diesem Segment sind über die Namen der am Markt befindlichen Produkte, zum Beispiel NF-Walker® und ProWalker®, bekannt.
Besondere Gehhilfen
Ergänzend werden an dieser Stelle Produkte vorgestellt, die sich der Einordnung in die oben angeführten Kategorien entziehen.
Enzensberger Hemistock®
(Synonym: „Hirtenstab”)
Dabei handelt es sich um einen relativ langen Stock ohne den üblichen Handgriff, der am Schaft gefasst wird. Im Gegensatz zum klassischen Handstock soll der Hemistock primär nicht Lastanteile übernehmen, sondern seinem Nutzer zur Aufrichtung und Stabilisierung dienen. In dieser Konstellation ist die Gefahr, die Körpersymmetrie zu verlieren, geringer.
Anti-Freezingstock®
Hierbei handelt es sich um einen Handgehstock zur Beeinflussung des sogenannten Freezing-Problems bei Parkinsonpatienten, einer unvermittelten Bewegungsblockade. Ein Freezing löst sich vielfach bei der Konfrontation des Patienten mit einem tatsächlichen oder auch virtuellen Hindernis. Der Anti-Freezingstock besitzt in Bodennähe eine ausklappbare Querleiste, die vom Nutzer über einen Zug am Handgriff aktiviert wird und zur Überwindung des Freezings stimuliert.
Fazit
Die Gesamtheit der Gehhilfen stellt sich heterogen dar. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten hinsichtlich Indikationsspektrum, Nutzen, Wirkprinzipien und Anwendung. Diesen steht aber eine Vielzahl unterschiedlicher Produkte für spezifische Einsatzzwecke gegenüber. Innerhalb des Spektrums der Gehhilfen finden sich etablierte Produkte, die sich seit Langem behaupten, gleichwohl gibt es eine Fluktuation von hinzukommenden und ausscheidenden Produkten. Vor diesem Hintergrund gibt der vorliegende Artikel Struktur und Übersicht.
Der Autor:
Norbert Stockmann
Bundesfachschule für
Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
n.stockmann@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Stockmann N. Die Versorgung mit Gehhilfen – Nutzen, Einteilung und Spezifika. Orthopädie Technik, 2015; 66 (4): 46–49
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- GKV-Spitzenverband. Hilfsmittelkatalog mit Hilfsmittelverzeichnis. Remagen: AOK-Verlag, 4/2012
- Goldberg B, Hsu JD. Atlas of Orthoses and Assistive Devices. 3rd edition. St Louis: Mosby, 1997
- Baumgartner R, Greitemann B. Grundkurs Technische Orthopädie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme, 2007
- Braun M, Marquart T. Gehhilfen. In: BUFA (Hrsg.). Referate – Leitlinien in der Orthopädie-Technik. Dortmund: BUFA, 2003
- Niethard FU, Pfeil J. Orthopädie. 2. Auflage. Stuttgart: Hippokrates, 1992
- Jöllenbeck T, Schönle C, Pietschmann J, Wawer C. Gehen am Rollator entspricht einer Vollbelastung. Orthopädie und Rheuma, 2013; 16 (1): 21–25