Einleitung
Die Namensgebung für Versorgungen der Wirbelsäule (WS) reicht von Bezeichnungen aus der Materialwahl (Drellmieder) über Funktionsbeschreibungen (Hyperextensionsorthese) und Krankheitsbildern (Kyphosenorthese) bis zur Namensgebung nach dem ursprünglichen Konstrukteur (Chêneaukorsett). Um die Vielzahl der auf dem Markt befindlichen Orthesen und ihre Namen für die Wirbelsäule zu unterteilen, gab es in der Literatur immer wieder neue Klassifikationssysteme, auch für die Rumpforthesen. Die Beschreibung der ISO-Norm spiegelt eine Versorgungskette wider und definiert dabei auch die funktionelle Einteilung aller Orthesen nach ihren Aufgaben gemäß ISO 85511. Für Rumpforthesen sind folgende Aufgaben nach ISO 8551:2003 möglich:
a) Fehlstellungen vorbeugen, halten, reduzieren
b) Gelenkbeweglichkeit verbessern, begrenzen
c) schlaffe Lähmungen kompensieren
d) spastische Lähmungen kontrollieren
e) Gewebebelastung reduzieren, umverteilen
Im Rahmen der ISO 8549–3 wurden 1989 internationale Benennungen für alle Orthesen festgelegt. Anhand dieser Benennung nach Applikationsbereich/Wirkbereich lässt sich erkennen, wo die Orthese am Körper ihren Aufgabenbereich hat, jedoch fehlt dabei die Aussage über die Funktion: Eine Thorakolumbalorthese (TLSO) als Orthese mit Auflagefläche auf dem Körper vom Becken bis zum Thorax kann sowohl ein Rumpfstützmieder mit geringer Bewegungseinschränkung sein als auch eine korrigierende Skolioseorthese aus Kunststoff.
Grundsätzlich können Orthesen sowohl konfektioniert als auch individuell hergestellt werden. Ausschlaggebend für die Versorgung mit einer Individuallösung ist entweder eine lange Tragezeit oder eine Konstitution des Patienten/der Patientin, die vom allgemeinen Konfektionsschema der Herstellerfirmen abweicht und zu Passformproblemen führt.
Zur Abrechnung mit den Kostenträgern werden Kennziffern zur Einteilung der Versorgungen benutzt, die sogenannten Hilfsmittelnummern im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) der GKV2. Sie teilen vor allem konfektionierte Hilfsmittel ein, aber auch Nummern für Individualanfertigungen lassen sich hier finden. In der zehnstelligen Hilfsmittelnummer (z. B. 23.14.03.0001) wird die Versorgungsart mit den ersten zwei Zahlen gekennzeichnet. Demzufolge muss für Rumpforthesen als Erstes die Orthesen-/Schienengruppe mit der Zahl 23 notiert sein. Danach folgt im nächsten Bereich mit den Zahlen 11 bis 15 der Wirkbereich, sprich der entsprechend versorgte Wirbelsäulenabschnitt. Der nächste Zahlenabschnitt wird als sogenannte Untergruppe bezeichnet und beschreibt die möglichen Wirkprinzipien. Hier wird die Einteilung der Versorgung in Immobilisierung, Stabilisation, Mobilisation oder Entlastung/Korrektur mittels Zahlen von 01 bis 04 vorgenommen. Für individuelle Anfertigungen stehen in der Untergruppe noch weitere Ziffern zur Verfügung, die sich aber ebenfalls an den vorgenannten Funktionseinteilungen orientieren. Die erste Ziffer des letzten Blocks ist eine weitere Kennziffer für die Konstruktion der Orthese, die letzten drei Ziffern geben eine spezifische Orthese eines Herstellers an. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, durch ein Austauschen der letzten drei Ziffern gleichwertige Versorgungen unterschiedlicher Hersteller gegenüberzustellen, ohne die ärztlich verordnete Wirkung der Versorgung zu verändern. Individualanfertigungen werden in der Untergruppe mit einer 30 bzw. 31 beziffert.
Die Versorgung mit „Bandage“ im Rumpfbereich ist im HMV nur für Versorgungen des Thorax oder des Abdomens möglich (z. B. Rippenbruchbandage, Stomabandage). Alle Versorgungen mit Wirkbereich Wirbelsäule werden als Orthese bezeichnet.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass in der Wirbelsäule aufgrund der Vielzahl an kleinen Gelenken in direkter Nachbarschaft eine Beeinflussung von nur einem Gelenk wie z. B. bei Knieorthesen nicht möglich ist. Vielmehr werden die jeweiligen Abschnitte der Wirbelsäule in ihrer von der physiologischen Form abweichenden Situation beurteilt. Daraufhin können betroffene Bereiche stärker entlastet werden – aber nur mit der Konsequenz, dass im Gegenzug dazu andere Bereiche mehr Last aufnehmen müssen. Man spricht hier von einer Belastungsumverteilung. Eine komplette „Entlastung“ des Systems Wirbelsäule ist mit „klassischen“ Orthesen nicht möglich: Dafür müsste die Wirbelsäule mechanisch extendiert werden. Weiterhin ist es nicht möglich, Kräfte oder Bewegungseinschränkungen in einen Wirbelsäulenabschnitt zu bringen, ohne die Nachbarabschnitte cranial und caudal davon mit einzubeziehen. Sie werden als Gegenhalt bzw. als Fixierung benötigt. So findet sich keine Versorgung, die die Lenden- oder Brustwirbelsäule separat umfasst und auch nur in diesem Bereich biomechanisch beeinflusst.
Orthesen für die Lendenwirbelsäule (LWS), stabilisierend
Die Lendenwirbelsäule zeigt im Sagittalprofil eine Lordose. Ein großer Teil der orthopädietechnischen Verordnungen befasst sich mit degenerativen Veränderungen im Lendenbereich wie dorsalen Engpässen im Spinalkanal, komprimierten Spinalnerven, die aus den Foramina austreten, oder mit Schmerzsymptomatiken durch degenerative Veränderungen an den kleinen Wirbelgelenken. Hier ist die Entlordosierung der Lendenwirbelsäule in der Regel das Versorgungsziel.
Die Versorgung der LWS ist durch eine Vielzahl an konfektionierten Lumbalorthesen möglich. Dabei handelt es sich i. d. R. um elastische Grundmaterialien mit einem ventral gelegenen Verschluss. Die konfektionierten, auch durch ihre flexible und elastische Konstruktion oft als Lumbalbandagen bezeichneten Versorgungen umfassen nicht das Becken, sondern explizit den Bereich der Lendenwirbelsäule. Sie werden sowohl mit massierender Pelotte als auch mit leichten Stabelementen angeboten, die ein Zusammenschieben des Materials im Laufe der Tragezeit verhindern sollen. Durch die unelastischen und recht stabilen ventralen Verschlüsse wird jedoch eine Erhöhung des intraabdominellen Druckes, eine verstärke Brustatmung und eine Verlagerung des Körperschwerpunktes erreicht, die als Konsequenz zu einer Aufrichtung im LWS- und BWS-Bereich und der Entlastung der rückenstreckenden Muskulatur führt3. Die Ruhigstellung der umfassten WS-Abschnitte kann bedingt durch die Bauhöhe und die Stabilität der Materialien nur marginär stattfinden.
Die als Lumbosakralorthesen bezeichneten Konstruktionen reichen vom Gesäß bis zum thorakolumbalen Übergang. Auch hier kommen konfektioniert vorwiegend elastische Grundmaterialien zum Einsatz, die jedoch aufgrund der Bauhöhe mit längeren starren Elementen im dorsalen Bereich aufwarten können. So arbeiten sie biomechanisch mit deutlich effektiveren Hebellängen und beeinflussen die Beweglichkeit in der LWS stärker. Die stabilisierenden Elemente der Orthese können aus Metall oder Kunststoff bestehen und zusammen mit einer Zuggurtung vom Abdomen aus nach dorso-caudal und dorso-cranial über ein Dreipunkt-System die Unterstützung zur Entlordosierung der LWS geben (Abb. 1). Voraussetzung dafür ist, dass die dorsale Verstärkung der Orthese noch ausreichend Platz zur Entlordosierung lässt und nicht bereits in stehender Position der Patient:innen auf dem Körper anliegt. Nur so können Facettengelenke und Spinalkanal entlastet werden.
Die Unterstützung der Lordose bis zu ihrer Fixierung ist ebenso möglich. In diesem Fall müssen die Zugverstärkungen der Versorgung entgegengesetzt zu der Gurtführung für die Entlordosierung verlaufen bzw. auf einen mittig der Lordose verlaufenden Gurt reduziert werden.
Individuell hergestellte Versorgungen dieser Kategorie sind z. B. klassische Kreuzstützmieder in all ihren Varianten. Nach einem individuellen Schnittmuster werden sie aus zwei Lagen Drell gefertigt; die dorsale Verstärkung und somit die Bewegungseinschränkung kann durch die Stabanzahl variiert werden. Zudem lässt sich durch Differenzierungen im Bereich der elastischen Anteile, der Verschlüsse und etwaiger Zusätze wie Pelotten die Wirkweise gut einstellen. Das Überbrückungsmieder nach Hohmann erreicht weitere Bewegungseinschränkungen: Der dorsale Rahmen aus Becken- und Thorakalspange (aus Metall oder Kunststoff, auch als Schale möglich) bewirkt durch die nach lateral reichenden Anlagen zusätzlich eine Reduzierung der Seitneigung. Gegenüberliegende seitliche Anlageflächen beidseits im Bereich von Thorax und Becken unterbinden das Ausweichen von den Anlageflächen und bewirken so die reduzierte Seitneigung. Die Rotation des Rumpfes kann nur beeinflusst werden, wenn je eine Umfassung des Thorax und des Beckens verwringungsfrei miteinander verbunden sind (Abb. 2). Bei starker Adipositas und Ausweitung der Indikation bis in den unteren Thorakalbereich können Rumpfstützmieder verordnet werden. Durch den BH-Ansatz und den dorsalen Trägerverlauf erlauben sie einen höheren Stabverlauf und somit einen größeren Wirkbereich.
Die Industrie bietet konfektionierte Lumbosakralorthesen an, bei denen im Verlauf der Therapie die Stabilisierung abgerüstet und die Beweglichkeit sukzessive wieder zugelassen werden kann. Mit diesen sogenannten mobilisierenden Orthesensystemen kann vor allem in der postoperativen Therapie die Beweglichkeit der Wirbelsäule dem Behandlungskonzept entsprechend eingestellt werden. Das BOB (Boston Overlap Brace) dagegen steht als Beispiel für vorgefertigte Modul- bzw. Schalenorthesen aus Kunststoff, die in mehreren Größen zur Verfügung stehen, um dann an den Patienten/an die Patientin angepasst zu werden.
Während klassische Rumpforthesen die Entlastung partieller Wirbelsäulenabschnitte durch Belastungsumverteilung erreichen, geht das Prinzip der KUBCO-Entlastungsorthese einen anderen Weg: Hier wird mittels pneumatischer Extensionsstäbe an individuell angefertigten Anlageflächen eine mechanische Entlastung der LWS bewirkt.
Der Indikationsbereich für die LO/LSOs liegt vorwiegend in der Therapie von degenerativen, infektiösen und traumatisch bedingten Veränderungen der WS, bietet aber auch bei Osteoporose, Fehlbildungen und der prä- bzw. postoperativen Versorgung der LWS eine Therapiemöglichkeit.
Die Beeinflussung der oberen Lendenwirbelsäule erfordert eine Konstruktion, die den Thoraxbereich teilweise oder ganz mit einfasst und somit unter den Begriff der Thorakolumbalorthesen fällt.
Orthesen für die Brustwirbelsäule (BWS), korrigierend
Die Brustwirbelsäule zeigt im Sagittalprofil einen langen Bogen, die Kyphose. Die Kyphose ist physiologisch mit ca. 20–40° Cobb festgelegt, individuell finden sich jedoch durchaus Abweichungen davon. Eine deutliche Vergrößerung oder Abflachung des Kyphosewinkels führt kompensatorisch auf Dauer zu Veränderungen der benachbarten sagittalen Krümmungen in HWS und LWS und somit zu einer pathologischen Formveränderung im gesamten Sagittalprofil.
Mit dem Applikationsbereich vom Becken bis zur mittleren BWS lassen sich degenerative und pathologische WS-Veränderungen bis ca. BWK 8 versorgen. Durch die Einbeziehung des Thorax können neben der gezielten Bewegungseinschränkung und ‑umverteilung auch Fehlstellungen beeinflusst werden. Aufgrund der speziellen Doppel-S-Form der Wirbelsäule gelten für die Abschnitte der HWS, der BWS, der LWS und des Iliosakralbereichs jeweils andere Be- und Entlastungskriterien, die indikationsgemäß angewandt werden4.
Um eine effektive Aufrichtung der BWS (Reklination oder Redression) zu erreichen, werden in der Sagittalebene zwei Dreipunkt-Prinzipien so überlagert, dass die LWS in entlordosierter Position steht und die BWS-Kyphose oberhalb dieser Fixierung abgeflacht werden kann. Dieses Prinzip ist sowohl in den klassischen, individuellen Rahmenstützkorsetts zur Stabilisierung zu finden als auch mit entsprechend der Indikation angepassten Auflagen für Versorgungen mit Korrekturorthesen. Die Orthesen umfassen dafür den Rumpf von ventral unter der Brust bis dorsal ca. 2 cm unterhalb der Scapulaspitze. Um mit der Orthese die BWS noch weiter cranial ruhigzustellen, sind Thorakalbügel und eine Scapulaeinfassung notwendig. Korrigierende Orthesen weisen Reklinationspelotten und eine scapulafreie dorsale Anlage auf.
Flexible Gurt- und Schlaufenkonstruktionen zur Aufrichtung der BWS wirken maximal als verlängerte Erinnerung für die Physiotherapie und sollen daher nur stundenweise zur Unterstützung getragen werden. Mechanisch kann man sich problemlos gegen die Gurte in die Kyphose bewegen. Das kurzstreckige alleinige starre Einfassen der BWS zur Formbeeinflussung ist hier ebenso wenig erfolgreich, da die Patientinnen und Patienten die vorhandene kompensatorische Hyperlordose noch verstärken, um den Anlagen im Thorax auszuweichen. Die Beeinflussung der Kyphoseform ist nur mit Einfassung der LWS und des Beckens möglich, daher ist eine effektive Orthese für die Korrektur der Brustwirbelsäule immer eine TLSO und nimmt immer auch auf die caudal gelegene Lendenwirbelsäule Einfluss.
Grundsätzlich sind Fehlstellungen der Wirbelsäule effektiv nur korrigierbar, solange noch Wachstumspotenz vorhanden ist. Als Versorgungsziel gilt es, die Fehlstellung zu reduzieren oder die Progression bis zum Wachstumsabschluss zu verhindern.
In der Adoleszenz kann die Vergrößerung des Kyphosewinkels durch eine muskuläre Fehlhaltung oder auch durch einen Morbus Scheuermann hervorgerufen werden. Während die durch muskuläre Insuffizienz verursachte Fehlform durch gezielte Physiotherapie und viel sportliche Betätigung therapiert werden kann, reicht dies bei M. Scheuermann nicht aus. Die von M. Scheuermann betroffene Brustwirbelsäule weist im ventralen Bereich knöcherne Defekte und Instabilitäten auf und die gilt es – zusätzlich zur Physiotherapie – biomechanisch und aktiv zu entlasten: Die Sagittalform der Wirbelsäule wird mittels überlagernder Dreipunkt-Prinzipien in einer Orthese wieder harmonisiert (Abb. 3).
Die Basis bildet hier ein Dreipunkt-Prinzip zur Entlordosierung, wie es bereits beschrieben wurde. Für das überlappende thorakale Dreipunkt-Prinzip ist die dorsale Druckpelotte unter dem Hypomochlion der Kyphose zu platzieren (Scapulae bleiben frei), so dass die Patientin/der Patient sich über diese Anlage aktiv aufrichten kann. Damit die meist im schulpflichtigen Alter befindlichen Jugendlichen nicht während des Tages nach ventral in die Kyphose absinken (Sitzen in der Schule), wird diese Anlage nach cranial/ventral durch Anlageflächen in Form von Pelotten unterstützt. Das kann eine Sternalpelotte sein (Abb. 4a), die die Rotation wenig einschränkt. Bei stärkerem Fixationsgrad werden auch Reklinationspelotten im ventro-lateralen Thorax eingesetzt (Abb. 4b). Diese Pelotten dürfen die Atmung nicht einschränken, d. h., sie sollen im oberen Bereich mit deutlich stärkerem Druck auf dem Thorax aufliegen als im unteren Bereich. Sie werden im Therapieverlauf bei verbesserter Aufrichtung der Wirbelsäule nachjustiert.
Die aktive Aufrichtearbeit der Patientinnen und Patienten im Korsett ist nur möglich, wenn die Schulterblätter nicht in der Orthese gefasst sind und die so Versorgten nach dorsal dem Reklinationsdruck der Pelotten ausweichen können. Nach caudal/ventral wirkt die abdominelle Anlage der Beckenvorkippung entgegen. Den unteren Punkt der Anlagekette bildet die dorsale Anlage im Glutealbereich. Teilweise finden sich Orthesen, die die Beckenrückkippung mit Hilfe einer Kreuzbeinpelotte als dritten Punkt gewährleisten und die Glutealmuskulatur frei lassen.
Eine Korrekturorthese zeichnet sich dadurch aus, dass die Korrekturpelotten sich nicht gegenüberstehen, sondern sich hier ein Freiraum befindet, in den die Patientin/der Patient sich hineinbewegen und somit korrigieren kann5. Die Versorgten sollen in der Orthese lotgerecht stehen.
Eine Orthese, die sowohl in der korrigierenden als auch in der stabilisierenden Therapie der Lendenwirbelsäule Verwendung findet, ist die sogenannte Hyperextensionsorthese. Die Lendenwirbelsäule wird hier durch eine dorsale Anlage in der Lordose fixiert bzw. verstärkt. Als Gegenhalt dienen eine Pelotte auf der Symphysenoberkante zur Beckenvorkippung und eine Anlage auf dem Sternum oberhalb der Brust. So wird die Lendenwirbelsäule in einer Überstreckung (Hyperextension) gehalten: Die dorsalen Anteile der LWS erfahren durch die Lordosierung stärkeren vertikalen Druck, während die ventralen Anteile druckentlastet werden (Abb. 6). Als Indikation gelten stabile Wirbelkörperfrakturen bis max. Th 10. Je nach Orthesenkonstruktion kann die Rotation und/oder die Seitneigung bei Bedarf durch entsprechende Anlagen eingeschränkt werden.
Hyperextensionsorthesen verhindern die Entlordosierung, was die Patientinnen und Patienten besonders stört, wenn sie sich nicht wie üblich auf einen Stuhl setzen können, sondern hierfür ein Keilkissen benötigen, um die Sitzfläche anzupassen.
Als Korrekturorthese kann das Hyperextensionskorsett für die Versorgung eines lumbalen/thorakolumbalen M. Scheuermann eingesetzt werden: Wie bei Erkrankung in der BWS liegen die knöchernen Veränderungen im Bereich der Wirbelkörper und führen zu einer unphysiologischen Kyphosierung dieses Bereiches. Um die physiologische Lordoseform wiederherzustellen, müssen in der LWS nur die Lordose unterstützt und die Beckenvorkippung fixiert werden. Die Sternalanlage ermöglicht ein langstreckiges Überstrecken der LWS. Eine Entlordosierung jedoch belastet die Wirbelkörper stärker und ist somit bei einem lumbalen M. Scheuermann kontraproduktiv, während sie bei einem thorakalen M. Scheuermann notwendig ist!
Eine weitere auftretende Formveränderung von LWS und BWS ist die Skoliose, die als eine dreidimensionale Veränderung der Wirbelsäule definiert ist und daher auch Korrekturkräfte in allen drei Ebenen in Brust- und Lendenwirbelsäule sowie auch im Becken und/oder Schulterbereich erfordert. Die vielen Varianten der Skoliose und die Komplexität dieser Wirbelsäulenveränderung sind der Grund für eine individuelle, dreidimensionale Orthesenanfertigung. Das kann nach manuellem Gipsabdruck oder im CAD-Verfahren (computer-aided design) erfolgen. In der Anprobe werden dann der endgültige Zuschnitt und der Druck der Korrekturpelotten bestimmt. Auch in der Skolioseorthese ist es wichtig, dass den Druckzonen entsprechende Freiräume gegenüberstehen, um Raum für Wachstum, Atmung und Korrektur zu geben. Während der Inspiration wird die Ausdehnung des Thorax in die Freiräume geleitet und so die Fehlstellung mit jedem Atemzug therapiert. Auf keinen Fall dürfen diese Freiräume die Atmung behindern, denn die Atmung in die Freiräume hinein ist ein wichtiger Faktor für die Aufrichtung6. Die optisch teilweise voluminösen Freiräume machen die Skolioseorthesen zu einem Korsett, das nicht überall körpernah anliegt. Ohne diese Zonen kann aber keine Korrektur im Korsett stattfinden (Abb. 7)! Der Pelottendruck soll eine flächige Rötung der Haut nach Ausziehen der Orthese hinterlassen und dann verblassen. Anhand dieser Hautmarkierung lassen sich die Lage und der Auflagedruck der jeweiligen Druckzone überprüfen. Punktuelle Rötungen auf knöchernen Prominenzen sind nicht akzeptabel. Nach ca. 4 Wochen Tragezeit hat sich die Wirbelsäule im neuen Korsett den Druckprinzipien angepasst und eine Röntgenaufnahme erlaubt eine letzte Kontrolle über die Lage der Druckzonen7. Die Patientin/der Patient soll auch in dieser Versorgung lotgerecht stehen.
Von einer effektiven Korrektur(-möglichkeit/-orthese) sprechen wir, wenn noch Wachstumspotenz vorhanden ist und die Wirbelsäule sich auch knöchern der physiologischen Form wieder annähern kann. Daher werden wachstumslenkende, korrigierende Skolioseorthesen bis zum Ende des Wachstums bzw. bis kurz nach Wachstumsabschluss verordnet. Im Erwachsenenalter können „Skolioseorthesen“ bei der nun adulten Skoliose, bei den De-novo-Skoliosen oder durch andere Ursachen entstandene Skoliosen ebenfalls Sinn machen und verordnet werden – allerdings haben sie hier keine korrigierende Wirkung auf die Morphologie der Wirbel, sondern auf die Haltung und Balance des Rumpfes. Therapieziele sind Schmerzlinderung, eine verbesserte Atmung durch Aufrichtung und die Verhinderung bzw. das Verlangsamen des progredienten Haltungsverfalls. Zu diesem Zweck werden stabilisierende Rumpforthesen eingesetzt, deren großflächige und ggf. gepolsterte Anlagen eine gleichmäßige Druckverteilung zulassen. Im Sinne einer Bettung in optimierter Aufrichtung, Haltung und Balance werden die funktionellen Einschränkungen so minimiert.
Orthesen für die Brustwirbelsäule (BWS), stabilisierend
Die Ursache für eine Verstärkung der Kyphose im Erwachsenenalter ist vor allem bei Frauen oft in Stoffwechselveränderungen des Knochenbaus zu finden: Osteoporose. Es findet eine Formveränderung durch Druckinstabilität der ventralen Wirbelanteile statt, die in der Brustwirbelsäule zu einer Hyperkyphose führt. Die vermehrte Vornüberneigung der vorwiegend weiblichen Klientel führt zudem zu einer erhöhten Sturzneigung.
Da im Erwachsenenalter keine effektive Korrektur mehr zu erreichen ist, ist in der Osteoporoseversorgung eine möglichst akzeptable Aufrichtung mit Entlastung der ventralen Wirbelsegmente der Brustwirbelsäule zur Restabilisierung und Schmerzminderung das Ziel. So wird auch die Sturzneigung reduziert und eine allgemeine Aktivitätssteigerung in den Fokus genommen und daher oft von „Aktivorthesen“ gesprochen. Biomechanisch reicht auch hier eine alleinige Fassung der BWS über drei Anlagen nicht aus; die Aufrichtung der BWS kann nur zusammen mit einem weiteren überlagernden Dreipunkt-Prinzip im Lumbalbereich funktionieren. Vor allem in der akuten Phase der Osteoporoseversorgung werden Achselschlaufen eingesetzt, die an dorsalen Stäben oder Schienenelementen befestigt werden, um die Patient:innen nicht unnötig mit Einschränkung der Seitneigung und Rotation zu fixieren. Die (gepolsterte) Gurtführung um die Achseln zur dorsalen Verstärkung erlaubt eine niedrige seitliche Bauhöhe der Orthese, so dass Seitneigung und Rotation noch bedingt möglich sind. Auch werden in den Osteoporoseorthesen die Leibteile (Funktion: Gegenhalt zur dorsalen Thorakalanlage) entweder teilflexibel oder klein in der Auflage gestaltet, um die Bauchatmung der Patient:innen nicht einzuschränken8 9 10. Auf dem Markt ist eine Reihe von konfektionierten Orthesen im Baukastenprinzip bzw. mit abzulängenden Gurten erhältlich, jedoch findet deren Materialstärke nicht immer die Akzeptanz der Betroffenen oder lässt sich nicht ausreichend an die zum Teil stark veränderte Körperform anpassen. Eine Individualanfertigung ist ebenso möglich. Die Anlagepunkte und die Bauweise sind hier nicht in Druckzonen und Freiräume zu unterteilen, da sie durchaus auch paarweise gegenüberliegen: Hier sprechen wir von Fixation oder Stabilisation (Abb. 8).
Wichtig: Die cranialen Ansatzpunkte der Gurte müssen auf Schulterhöhe liegen, um auch tatsächlich eine Reklination zu bewirken. Bei zu kurzen Stäben verkehrt sich die Wirkung ins Gegenteil und der Zug an den Gurten verstärkt die Inklination!
Dauerhaft als Osteoporoseversorgung akzeptiert und getragen werden eher die sogenannten Osteoporosebodys, die aus elastischem Grundmaterial bestehen und für die Unterstützung der BWS-Redression mit zusätzlichen Zugelementen versehen sind. Die dorsale Verstärkung besteht entweder aus einer leichten Metallschiene oder einem Luftpolster, die in eine Tasche des Bodys eingeschoben werden.
Eine stabilere Variante der ventralen Abstützung im Thorax ist die Anwendung von Thorakalbügeln. Die Indikation können hier z. B. Metastasen in der Brustwirbelsäule sein, die die Verordnung einer fixierenden Orthese erfordern, um eine Inklination möglichst komplett zu verhindern. Typische Orthesenversorgungen aus dem Bereich der Thorakolumbalorthesen sind hier das Überbrückungsmieder nach Hohmann mit Thorakalanlagen oder ein Rahmenstützkorsett in all seinen konstruktiven und materialtechnischen Varianten. Die dorsale Orthesenhöhe reicht je nach Indikation bis maximal zur Hälfte über die Schulterblätter hoch und bildet so einen Gegenhalt für die ventrale Anlage: Wir sprechen hier von Stabilisation bzw. Fixation. Beide Anlagen sind jedoch wieder in einem DreipunktPrinzip eingebaut (Abdomen und Becken) und überlappende Prinzipien begrenzen die Bewegung durch gegenüberliegende Anlageflächen.
Die Grundkonstruktion der Orthese kann eine Kunststoffschale, ein Carbon- oder ein Metallrahmen sein. Der abdominelle Bereich kann fest aus Kunststoff oder mit einem Stoffteil gestaltet werden. Wichtig für die thorakale Abstützung ist, dass die Bügel aus der Achsel kommend in ca. 45° auf den Kehlkopf zulaufen (Abb. 9). So wird die Brust ausgespart und die Auflageflächen auf dem Thorax im Bereich der Rippenansätze gewährleistet. Ein Verbindungsgurt zwischen den Auflagen ist nicht notwendig.
Für zeitnahe Versorgungen sind Modularsysteme auf dem Markt; je mehr Rumpfanteile starr eingefasst werden, um die Bewegung zu führen, desto eher wird allerdings eine individuelle Versorgung notwendig, um eine gute Passform zu gewährleisten und Druckspitzen zu verhindern. Wie bei den LSOs werden auch konfektionierte TLSOs als abrüstbare Varianten angeboten, die eine nachfolgende funktionelle Mobilisierung vorsehen.
Fazit
Grundsätzlich lässt sich für die Versorgung der LWS und BWS nun festhalten, dass nicht jede Anlagefläche im Thoraxbereich auch ihren Wirkbereich in der BWS hat und eine Versorgung im LWS-Bereich auch Auswirkungen auf den Thorax hat. Die Funktion einer Orthesenversorgung ist nicht allein von ihrem Auflagebereich abzuleiten. Weiterhin ist es für eine korrekte Versorgung notwendig, den betroffenen WS-Abschnitt und seine Kyphose- bzw. Lordosestellung zu berücksichtigen: Ist eine ventrale oder eine dorsale Entlastung erwünscht? Davon abhängig müssen die Anlageflächen gewählt werden.
Für das Versorgungsprinzip der Ruhigstellung/Stabilisierung stehen großflächige Anlageflächen gleichmäßig auf dem Körper, die paarweise gegenüberliegend angeordnet sind, während verschiedene pathologische Prozesse durch Aufrichtung, Belastungsumverteilung und Ruhigstellung in der Ausheilung unterstützt werden.
Bei wachstumslenkenden, korrigierenden Orthesen dagegen stehen gezielten Anlageflächen entsprechende Freiräume gegenüber. Nach Wachstumsabschluss ist die positive Gestaltveränderung der Wirbel nicht mehr zu erwarten, allerdings können die zuvor genannten Versorgungsziele (Retension/Redression) für die Dauer der Tragezeit angestrebt werden.
Die Autorin:
Bettina Grage-Roßmann
Bundesfachschule für Orthopädietechnik e. V.
Schliepstr. 6–8
44135 Dortmund
b.grage@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Grage-Roßmann, B. Die indikationsabhängige Versorgung der LWS und BWS. Orthopädie Technik, 2023; 74 (7): 56–62
- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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