Von den Grundlagen der Additiven Fertigung über die Scan-Technologie, die Modellierung und den 3D-Druck bis hin zur Qualitätssicherung sowie einem Ausblick in die Zukunft der Digitalisierung reichten die Themen der 26 Vorträge. „Besondere Situationen erfordern besondere Formate!“. Mit diesen Worten eröffnete Dr. phil. Ann-Kathrin Hömme, Leiterin des Instituts für Messtechnik und Biomechanik und Leitung des Studiengangs Orthopädie- und Rehabilitationstechnik der BUFA, die Online-Veranstaltung.
Grundlagen und erste Einblicke in die Scan-Technologie
„Welche Unterschiede gibt es zwischen der Additiven und der konventionellen Fertigung?“: Mit der Beantwortung dieser Frage eröffnete Prof. Dr.-Ing. Jan T. Sehrt vom Lehrstuhl für Hybrid Additive Manufacturing der Ruhr-Universität Bochum seinen Vortrag. Besonderes Merkmal der Additiven Fertigung sei der schichtweise Aufbau und die damit verbundenen typischen Stufeneffekte. „Aber wann lohnt sich die Additive Fertigung? Welche Einflussfaktoren spielen dabei eine Rolle?“, fragte Prof. Dr.-Ing. Sebastian Bremen vom GoetheLab for Additive Manufacturing der Fachhochschule Aachen im Anschluss. Besonders bei komplexen Bauteilen lohne es sich, so seine Erfahrung. Bei den Prozessen müsse man auch immer die Einflussfaktoren wie die Konstruktion, den Prozess und die Werkstoffe beachten. Das „Fused Layer Modelling“ (FLM)-Druckverfahren eigne sich beispielsweise zur Verarbeitung von Polymeren, während das „Laser Power Bed Fusion“ (LPBF)-Verfahren die Möglichkeit biete, metallische Legierungen zu funktionsintegrierten Bauteilen zu verarbeiten. Zu den technischen Grundlagen des 3D-Scans referierte Michael Hoffmann vom Fachgebiet Digitale Produktentwicklung und Fertigung der Hochschule Trier. Dabei verglich er die Vor- und Nachteile der taktilen Messung mit Messpunkten gegenüber dem kontaktlosen Verfahren mit Punktwolke.
Einen Eindruck davon, wie die praktische Umsetzung der Digitalisierung in der Orthopädie-Technik aussehen kann und welche Vorteile damit einhergehen, gaben die folgenden drei Referenten: Theresa Kempf präsentierte den digitalen Workflow, der sich bei der Brillinger Orthopädie GmbH etabliert hat. Angefangen mit der Datenerfassung per iPad-Scanner oder Strukturlichtscanner bis zur Modellierung mittels CAD-Software sei die Fertigung individueller Orthesen effektiver. Ob Gesichtsmaske, Finger- oder Armorthesen – der 3D-Druck eröffne viele Möglichkeiten. Digitale Prozesse und die teildigitalisierte Fertigung bergen großes Potential für KMUs, aber es fehlen für die Gesundheitshandwerke allgemeingültige und validierte Verfahren, belastbare Handlungsempfehlungen und Schulungskonzepte, resümierte danach Christian Hartz, Geschäftsführer der Eprotec Orthopädietechnik GmbH, in seinem Vortrag, in dem er u. a. auch die Hürden für eine erfolgreiche Implementierung aufzeigte. Ein Update der digitalen Versorgungsprozesse für Orthopädietechniker beim iFab, der digitalen Patientenversorgungsplattform von Ottobock, präsentierten Marco Volkmar, Head of iFab Ottobock HealthCare Deutschland GmbH, und Jens Volkmar vom iFab-Team. Ihr Tipp: am besten die digitalen Versorgungsprozesse immer da nutzen, wo sie passen.
Scannen, Messen und digitales Modellieren
„Es gibt nicht den besten Scanner für alles“, postulierte Antonius Köster, Geschäftsführer der Antonius Köster GmbH & Co. KG, in seinem Vortrag. Bevor man investiere, müsse man die Qualität, die Produktivität und die Kosten des Scanners gegeneinander abwägen und dabei den Zweck, den der Scanner erfüllen soll, nicht aus dem Auge verlieren. Die „Digitale Textilie als Scanner“ stellten Thomas Ruepp, Bellwand-TEC GmbH NW, und Prof. Dr. Joris Pascal, Fachhochschule Nordwestschweiz, vor. Flexible Leiterplatten werden in die Textilien, in diesem Fall in einen Messstrumpf, integriert. Die Machbarkeitsstudie mit dem Prototyp wurde abgeschlossen und die Entwickler rechnen in ca. 2 Jahren mit der Marktreife. Die Vorteile des 3D-Scans mit Positionierungspunkten standen im Mittelpunkt des Vortrags von Christian Kienzle, Geschäftsführer der Pohlig GmbH. Dank der genauen Messung mit der SimBrace®- Technologie könnten Prothesen und Orthesen simuliert werden, bevor sie produziert werden.
Anhand von Beispielen stellte Knut Lehmann, Inhaber des KLIB-Knut Lehmann Ingenieur Büros, Scannermodelle und ihre Einbindung in die Modellierungssoftware vor, die für unterschiedliche Anwendungen in der Orthopädie-Technik geeignet sind. „Früher oder später setzt sich der 3D-Druck durch“, ist sich Referent Dipl.-Ing (FH) Johannes Pröbsting vom Gottinger Handelshaus OHG sicher. Seiner Erfahrung nach sei eine Übertragung von orthopädietechnischen Anforderungen ins Digitale möglich, aber eine Einarbeitung aller Beteiligten in die gesamte Technik dabei notwendig. Wie beispielsweise ein digitaler CADArbeitsplatz aussehen könnte, zeigte dann Makram Tebbi, Managing Director at Mobilis — Digital Manufacturing Dubai, in seiner Präsentation. Er sieht den größten Vorteil in der Zeitersparnis bei der Erstellung des Hilfsmittels (z. B. mit der Software Geomagic Freeform®), da man im Laufe der Zeit aus einer Vielzahl von Modellen aufbauen könnte und diese dann entsprechend des individuellen Scans nur noch nachjustieren müsse. „Man kann klein anfangen, man muss nicht gleich alles können“, so seine Botschaft. Wie Bibliotheksmodelle in der Rodin4D-Software erstellt werden, zeigte dann Julian Halemba, Mitarbeiter der Firma Rodin. Einerseits könne man selbst eingescannte Modelle konstruieren oder andererseits die in der Bibliothek der Software hinterlegten Modelle nutzen und diese an die realen Gegebenheiten der Patienten anpassen.
Qualitätssicherung als Herausforderung
Die Materialeigenschaft wird erst im Druckprozess erzeugt: Das sei eine der Herausforderungen bei der Qualitätssicherung im Zeitalter der Digitalisierung. Die Technologie sei gesetzt, aber die Qualitätssicherung müsse noch etabliert werden, so die Auffassung von Gregor Reischle, Head of Additive Manufacturing beim TÜV Süd. Damit gab er am zweiten Tag des Seminars einen Vorgeschmack auf die Anforderungen, die die Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) an die Produktion 3D-gedruckter Hilfsmittel voraussichtlich stellen wird.
Dass sich individuell gefertigte Prothesen und Orthesen, die im Laser-Sinter-Verfahren hergestellt werden, bereits als eine Lösung im Markt etabliert haben, zeigte Thomas Gradl, Business Development Manager Medical bei der EOS GmbH, anhand von zahlreichen Beispielen. Besondere Spezialkonstruktionen bereicherten den folgenden Vortrag von Andreas Flamm, Geschäftsführer und CEO bei der OT4 Orthopädietechnik GmbH. Seine Dienstleistung sehe er als eine verlängerte Werkbank, deren Produkte dem Orthopädietechniker die alltägliche Arbeit erleichtern.
„Jede digitale Konstruktion ist nur so gut wie der Scan“, berichtete dann Referent Fynn Gühne, Projektmanager beim Ingenieurbüro Kremser, von seinen Erfahrungen. Ein weiterer Vorteil: die parallele Fertigung mehrerer Orthesen aus den Scandaten eines Patienten, z. B. eine Orthese für die Alltagsversorgung, eine Badeorthese und eine Lagerungsorthese. Wie weit die Validierung virtueller Belastungstests funktionieren kann und welchen Einfluss die Simulationen auf den Produktionsprozess haben können, stellte anschließend Franziska Glas, Leitung der Qualitätssicherung (Simulation und Testing) der Mecuris GmbH, in ihrem Vortrag vor.
Noch mehr Antworten, wie der Einstieg in die Digitalisierung praktisch umsetzbar ist, bekamen die Zuhörer von Andreas Velten, IFA3D Medical Solutions GmbH. Neben den Grundkenntnissen (Scannen, Software, Materialien und gesetzliche Regelungen) sei die Vernetzung der Akteure aus seiner Sicht sehr wichtig. Diesen Netzwerkgedanken befürworteten auch die folgenden Referenten Carsten Suhle und Bernd Urban. Suhle, Orthopädietechniker der Sanitätshaus Klinz GmbH, forderte eine Synthese von analogen und digitalen Passteilen und zeigte die Machbarkeit anhand eines Beispiels. Für die weite Zukunft sehe er durch die fortschreitende Digitalisierung, dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz ggf. das Handwerk ersetzen könnten. Auf die Problemstellung „Sicherung des eigenen geistigen Eigentums“ im digitalen Prozess wies Bernd Urban, Prokurist Sanitätshaus Urban & Kemmler GmbH, hin, während er sich der Frage widmete, ob Algorithmen in der orthopädietechnischen Versorgung einen Widerspruch darstellen.
Digitalisierung in Forschung und Praxis
„Wenn wir uns in zehn Jahren wiedertreffen, werden wir Dinge sehen, die wir heute noch gar nicht absehen können“, verdeutlichte Michael Hoffmann gleich zu Beginn seines zweiten Vortrags die zukünftige Entwicklung. Die Technologie schaffe neue Geschäftsmodelle, dessen müsse man sich bewusst sein. Ob Revolution oder Evolution – diese Entwicklung sei noch nicht abzusehen. Einen anderen innovativen Ansatz, das Projekt „Professionelle Open Source Hardware in der Orthopädie“, präsentierten Niels Lichtenthäler und Adriana Cabrera, MakeOpaedics. Ausgehend von einem Mangel an professionellen, digital gefertigten Hilfsmitteln, die als Open-Source-Hardware verfügbar sind, will das Projekt den Wandel des Versorgungssystems mit orthopädischen Hilfsmitteln unterstützen.
In welche Richtung die zukünftige Forschung geht und wo die Potenziale biomechanischer Technik für die Digitale Fertigung liegen, führte Prof. Dr.-Ing. Welf-Guntram Drossel, Technische Universität Chemnitz, aus. Wie eine digitalisierte Prozesskette zur Fertigung medizinischer Produkte auf Basis inkrementeller Formgebung aussehen könnte, schilderte im Anschluss André Leonhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Chemnitz Fakultät Maschinenbau.
Zum Abschluss der Vorträge erläuterte Daniel Jäger die Vision des Netzwerks „SmartOT“, welches einen effektiven Einstieg in die digitalen Techniken in der Orthopädie-Technik ermöglichen soll.
Im Austausch bleiben
Treffende Worte zum ersten Online-Symposium der BUFA fand Dr. phil. Ann-Kathrin Hömme am Ende der spannenden zwei Tage: „Wir hatten umfassende Einblicke in den Ist-Zustand, spannende Eindrücke vom Jetzt aus der Praxis und kontroverse und interessante Meinungen, was das Morgen betrifft. Die Bereitschaft, sich auszutauschen war trotz des Online-Formats absolut sichtbar. Das zeigt, dass das Thema Digitalisierung uns alle betrifft. Und egal auf was wir es gerade beziehen: Wir befinden uns in dynamischen Zeiten. Lassen Sie uns dies als Chance sehen, als positive Herausforderung und trotz Abstand im Austausch bleiben“.
Irene Mechsner
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