Mediziner:innen, Techniker:innen, Physiotherapeut:innen, Sportler:innen und Politiker:innen hatten am 19. August 2022 den Weg in die altehrwürdige Aula – dessen Entstehung Rektor Prof. Dr. Wolfgang Schareck zur Begrüßung vorstellte – der Universität Rostock gefunden oder waren per Video zugeschaltet. Ein echtes Highlight war sicherlich der Beitrag von Paralympics-Sieger Felix Streng. Der einseitig unterschenkelamputierte Leichtathlet schilderte transparent, welchen Herausforderungen eine Prothese im Leistungssport ausgesetzt ist: „Der Schaft ist das Herzstück der Prothese. Die Energie der Prothese wird über den Schaft an den Körper übertragen. Kleinste Verschiebungen im Millimeterbereich sorgen für große Veränderungen.“ Da Streng für sein Kraft- und Athletiktraining die eigene Alltagsprothese nutze, sei sowohl diese als auch die Sportprothese einem überdurchschnittlichen Verschleiß ausgesetzt, was bereits zu Diskussionen mit der Krankenkasse geführt habe.
Prothese kein Fall für die Waschmaschine
Sehr eindringlich war die Vorstellung von Stephan Büchler. Selbst als Jugendlicher infolge einer Krebserkrankung einseitig beinamputiert schlug der 42-Jährige anschließend die berufliche Laufbahn zum Orthopädietechniker ein. Als Anwender und zugleich Versorger kann er sich in beide Perspektiven hineinversetzen und hat mit diesem Know-how einen „Ratgeber für amputierte Menschen“ erarbeitet, den er als „Hilfe zur Selbsthilfe“ bezeichnet. Darin dokumentiert der passionierte Mountainbiker dezidiert die „Hausaufgaben“, die Menschen mit einer Amputation in ihrem Alltag zu erledigen haben, etwa in den Bereichen Fitness, Ernährung und Hygiene. „Bitte die Prothese nicht in die Waschmaschine stecken“, betonte Büchler mit einem Schmunzeln, schob dann aber seriös hinterher, dass eine regelmäßige Reinigung des Hilfsmittels sehr wohl zu empfehlen sei. Besondere Anerkennung zollte das Publikum in Rostock dem Extremsportler für dessen positiven Umgang mit der eigenen Amputation. Zitat Büchler: „Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich meinen Unterschenkel oder meine Haare wiederhaben möchte, sage ich, dass ich meine Haare wiederhaben möchte.“
Ähnlich unterhaltsam hatte zuvor bereits Dr. Hartmut Stinus von seinen Erfahrungen als Teamarzt des deutschen paralympischen Ski-alpin-Teams Anfang dieses Jahres in Peking berichtet. Sein Augenmerk gilt nicht nur der Versorgung der Athlet:innen infolge einer Verletzung, sondern bereits der intensiven Auseinandersetzung mit präventiven Maßnahmen, bspw. mit Hilfe einer Ausstattung mit Rückenprotektoren: „Wir müssen unsere Athleten schützen!“ Mit Blick auf die Versorgung der paralympischen Sportler:innen lobte der gelernte Orthopädieschuhmacher und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie die interdisziplinäre Zusammenarbeit im deutschen Team zwischen Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen und Techniker:innen. Zum Abschluss seines Vortrags hielt Stinus noch fest: „Es verbergen sich großartige Menschen hinter den Athleten. Deshalb versorge ich mittlerweile lieber im Parasport als im Regelsport.“
Als Teamarzt der deutschen Leichtathlet:innen nahm Dr. Rolf Kaiser an den Paralympischen Spielen 2021 in Tokio teil. In seiner Auswertung der Wettkämpfe fiel auf, dass die Verletzungsquote unter den Athlet:innen bei über zehn Prozent gelegen hat. Dass dieser Schnitt höher als bei den olympischen Teilnehmer:innen ausfällt, habe laut des Sportmediziners u. a. mit einer erhöhten Sturzgefahr und Materialbrüchen zu tun. Neben der Para-Leichtathletik fallen auch z. B. Goalball oder Gewichtheben zu den Sportarten mit dem höchsten Verletzungsrisiko. Die hohen Temperaturen in Japan stellten eine weitere Herausforderung dar. „Hitze und Sport war ein großes Thema und wird es auch zukünftig sein“, erklärte Kaiser. Deshalb geht der Blick der medizinischen Abteilung in Richtung Flüssigkeitszufuhr und Körperkühlung der Sportler:innen. Parallel dazu spielte natürlich auch die medizinische Betreuung bei einer Covid-19-Infektion eine herausgestellte Rolle. Mittlerweile hat die Medizin ein „Return-to-Sport“-Konzept erarbeitet, das anhand von Leitlinien stufenweise die Anhebung der Belastung nach einer Infektion begleitet.
Höheres Risiko im Parasport
Eine Sportart, die in Tokio erstmals zum olympischen Programm gehörte, ist das Sportklettern – wenngleich noch nicht Bestandteil der Paralympischen Spiele. Auch hier, so führte Dr. Christoph Lutter, Mitglied im deutschen medizinischen Team Klettern/Bouldern, vor den Teilnehmer:innen der Fachtagung aus, sei die erhöhte Verletzungsgefahr unter Parasportler:innen wissenschaftlich belegt. Hinzu komme, dass mehr als die Hälfte der Para-Kletter:innen während der sportlichen Betätigung über Schmerzen klagen. Grundsätzlich haben Studien eigentlich ergeben, dass Klettern im Vergleich mit anderen Sportarten eine ausgeprägt geringe Verletzungsgefahr mit sich bringt. Lutter führt die höhere Risikoquote im Parasport nicht zuletzt auf die höhere Belastungsinzidenz zurück.
Nach Ansicht von Prof. Dr. Anja Hirschmüller führt auch die zunehmende Professionalisierung im Parasport zu einer höheren Verletzungsrate: „Dabei sein ist nicht mehr alles!“ Die Teamärztin des deutschen Paralympic-Teams in Peking 2022 hat festgestellt, dass der Reiz und der Anspruch, die möglichen Limits zu erreichen, unter den Athlet:innen immer ausgeprägter sind. Die Gefahr, die Hirschmüller dabei sieht, ist die, dass Verletzungen Parasportler:innen im schlechtesten Fall die Restfunktionalität der motorischen Fähigkeiten nehmen können.
Die angesprochene Professionalisierung im Parasport führe aber nach Einschätzung von Sara Grädtke noch an ganz anderer Stelle zu Problemen. Denn grundsätzlich ist es so, dass die Athlet:innen entsprechend ihrer individuellen Einschränkung in verschiedene Wettkampfklassen eingeordnet werden. Grädtke, selbst Physiotherapeutin und Trainerin der deutschen Leichtathlet:innen, ist als Klassifiziererin in der Para-Leichtathletik tätig und im Zuge dessen schon vielfach auf abweichende Testergebnisse, nicht berücksichtigte Materialunterschiede und letztlich auch Betrugsversuche gestoßen. Helfen soll dagegen die globale Etablierung des „Eligibility“*-Leitfadens (*dt.: Berechtigung), um faire, transparente und identische Testergebnisse zu erzielen.
Viele Faktoren erhöhen das Teilhabelevel
Eine andere Facette brachte Prof. Dr. Bernhard Greitemann in die Veranstaltung ein, indem er den Blick weg vom Leistungssport und hin zum Breitensport lenkte. Seiner Ansicht nach führen sportliche Aktivitäten bei Menschen mit einer Behinderung zu vielfältigen positiven Effekten von der Steigerung der Ausdauerfähigkeit über eine Förderung der Wahrnehmung und Verbesserung der Bewegungsabläufe bis hin zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls. All diese Faktoren würden unter dem Strich auf ein erhöhtes Level an Teilhabe einwirken. Gegenüber dem Fachpublikum in Rostock sensibilisierte Greitemann aber auch für die besonderen Voraussetzungen bei Menschen mit einer Amputation. Stichworte wie Infektionen, Weichteildeckung, Gelenkfunktionen, Muskelanheftungen und Knochenareale seien bei einer Betrachtung der individuellen Potenziale zu beachten.
Der letzte individuelle Vortrag, ehe eine Podiumsdiskussion die Fachtagung abrundete, widmete sich den „Invictus Games“, in deren Kontext sich kriegsversehrte Soldat:innen zu sportlichen Wettkämpfen zusammenfinden und wie bereits angesprochen die physisch und psychisch heilende Wirkung sportlicher Aktivität unterstützt werden sollen. Dr. Andreas Liason, Leiter des Zentrums für Sportmedizin der Bundeswehr in Warendorf, stellte das in Deutschland noch relativ unbekannte Format vor. Dies soll sich 2023 ändern, wenn Düsseldorf die Spiele austrägt und neben den sportlichen Wettkämpfen auch ein wissenschaftliches Programm angeboten werden soll. Ganz besonderen Wert legt Liason aber auch darauf, dass in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt im nächsten Jahr über die Folgen von Auslandseinsätzen informiert, das Verhältnis von Streitkräften und Gesellschaft debattiert und für die wichtigen Bereiche Rehabilitation und Inklusion sensibilisiert wird. In diesem Sinne war die Fachtagung der DGIHV sicherlich eine mehr als geeignete Plattform, um möglichst viele Multiplikatoren für die Idee der „Invictus Games“ zu gewinnen.
Die eingangs erwähnte Podiumsdiskussion schlug noch einmal die Brücke zum Faktor „Teilhabe“, der in Rostock mehrfach heiß diskutiert worden ist. Mit Hinweisen etwa auf die UN-Behindertenrechtskonvention oder auch auf das deutsche SGB IX, in dem der Anspruch auf eine Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben geregelt ist, sehen Anwender:innen und Leistungserbringer die Kostenträger hier in der Pflicht zur weitreichenden Übernahme der Hilfsmittel- und Versorgungskosten. Zu den vielfältigen Antworten der eingangs erwähnten Podiumsrunde gehörten schließlich u. a. auch der Anspruch, mehr Menschen mit Behinderung zu sportlicher Betätigung zu animieren, Versorgungslücken in der Rehabilitation von Amputierten zu schließen, die Komponente der psychologischen Unterstützung tiefergehend in Aus- und Weiterbildung der Orthopädietechniker:innen zu verankern und sich für die Erstellung eines Prothesenregisters stark zu machen.
Zusammenfassend ist zu hoffen, dass die spannenden Beiträge nicht nur in Rostock ihr Gehör gefunden haben, sondern ihre Inhalte auf verschiedenen Ebenen der interprofessionellen Versorgung zugutekommen werden.
Im Anschluss an die Fachtagung trafen sich die Mitglieder der DGIHV in Rostock zur Wahl eines neuen Vorstands. Sowohl Prof. Dr. med. Wolfram Mittelmeier als 1. Vorsitzender als auch dessen Stellvertreter OTM Olaf Gawron wurden in ihren Ämtern von den Stimmberechtigten bestätigt. Dies gilt ebenso für Prof. Dr. med. Bernhard Greitemann und OTM Alf Reuter, die den geschäftsführenden Vorstand der Fachgesellschaft komplettieren. Dem erweiterten Vorstand gehören weiterhin an: OTM Matthias Bauche, Dr. Axel Friehoff, Oda Hagemeier, Philipp Hoefer, Prof. Dr. med. Bernd Kladny, Dr. med. Doris Maier und Dr. med. Axel Schulz. Neu gewählt in den erweiterten Vorstand wurden: Dr. med. Jennifer Ernst, Dr. med. Jean-Jacques Glaesener und OTM Gunar Liebau. Nicht mehr zum Gremium gehören der 2020 verstorbene Dr. med. Rolf Koschorrek, Werner Dierolf, Stephan Jehring, René Schiller sowie Patrick Schröter.
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