Im Gespräch mit der OT-Redaktion schildert Sveinn Sölvason den Umgang von Össur mit den aktuellen gesellschafts- und gesundheitspolitischen Herausforderungen, wie er die globalen Wachstumspotentiale einschätzt und welche besondere Rolle der Standort Deutschland einnimmt.
OT: Herr Sölvason, Sie übernehmen den Chefposten bei Össur in schwierigen Zeiten. Wo sehen Sie vor dem Hintergrund von Pandemie, steigenden Rohstoff- und Lieferkosten sowie dem Krieg in der Ukraine die größten Herausforderungen für Ihr global agierendes Unternehmen?
Sveinn Sölvason: Glücklicherweise erholt sich ein Großteil der Welt von der Corona-Pandemie, aber gleichzeitig spüren wir wie die meisten globalen Unternehmen natürlich auch die Auswirkungen der Herausforderungen in den Lieferketten und die durch den Krieg in der Ukraine entstandene Unsicherheit. Die Nachfrage nach unseren Produkten ist nach wie vor groß und wir bemühen uns, die Lieferketten und die Beschaffung von Produkten so gut wie möglich zu organisieren. Össur geht sehr gestärkt aus der Pandemie hervor und blickt weiterhin optimistisch in die Zukunft.
OT: Kleinere Unternehmen haben bis heute mit der Einführung der Medical Device Regulation (MDR) zu kämpfen. Medizinprodukte-Verbände verweisen auf weniger verfügbare Produkte auf dem Markt bis hin zu Firmenschließungen. Inwieweit ist ein Unternehmen wie Össur mit Blick auf die Einführung neuer Produkte von der MDR betroffen?
Sölvason: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies für kleinere Unternehmen weiterhin eine Herausforderung darstellt. Die MDR stellt erhöhte Anforderungen an die Klinische Bewertung und die Überwachung nach dem Inverkehrbringen mit verbesserter Validierung der Leistung von Medizinprodukten und der Patientensicherheit. Össur hat mehrere Jahre lang daran gearbeitet, um für das Inkrafttreten der Verordnung gerüstet zu sein. Wir sind sehr stolz darauf, dass unser globales Qualitätsmanagementsystem die MDR-Anforderungen erfüllt. Die Verfahren und Prozesse sind vorhanden, der regulatorische Rahmen ist in unsere allgemeine Arbeitsweise eingebettet und die Produkteinführung ist bei uns nicht beeinträchtigt.
OT: Össur ist spätestens seit dem Börsengang 1999 auf stetem Wachstumskurs. Wie sehen aktuell die Aussichten für Europa, Asien und Nordamerika aus?
Sölvason: Heute erwirtschaften wir den größten Teil unseres Umsatzes in den wohlhabenden Gesundheitssystemen der Welt, d. h. in Nordamerika, Australien, Großbritannien, Frankreich, den Benelux-Ländern, Skandinavien und Deutschland. Dies sind gut ausgestattete Gesundheitsmärkte, in denen es einen etablierten Weg der Erstattung für prothetische Lösungen gibt. Die Mehrheit der Menschen mit Amputation befindet sich jedoch in anderen Regionen, in denen die Infrastruktur und die Gesundheitssysteme weniger entwickelt sind. Hier werden wir in den nächsten drei bis zehn Jahren das meiste Wachstum erzielen, wenngleich es auch in den wohlhabenden Märkten immer noch eine große Chance gibt, die Qualität der angewandten Prothesenlösungen zu verbessern. Dort haben wir sowohl die Technologie als auch die Bereitschaft zur Innovation, und zwar nicht nur beim Produkt, sondern auch bei der Art und Weise, wie wir mit Menschen mit Amputation umgehen und wie wir ihnen gute Lösungen anbieten, die ihr Leben positiv verändern.
OT: Wie ist es in Ihrem Unternehmen um den technologischen Fortschritt bestellt, bzw. wie sieht die strategische Balance zwischen Produktentwicklungen an den eigenen Forschungs- und Entwicklungsstandorten im Vergleich zu Zukäufen externer Firmen und Lizenzen aus?
Sölvason: Innovation war für Össur schon immer ein wichtiger Antrieb. Wir haben maßgeblich dazu beigetragen, die Messlatte in Bezug auf die Lebensqualität von Menschen mit Amputation durch neue Innovationen höher zu legen, indem wir in Technologien und Lösungen investiert haben, die die Mobilität erhöhen. Dies ist der Kern unseres Unternehmenszwecks und darauf konzentrieren wir uns auch weiterhin. Dies gilt sowohl für unsere eigenen Innovationen als auch für den Erwerb neuer Technologien, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Anfang dieses Jahres haben wir mit der neuen, dritten Generation des „Power Knee“, des weltweit ersten motorbetriebenen Mikroprozessor-Knies, ein bahnbrechendes Produkt auf den Markt gebracht. Menschen mit Amputation können von einer motorischen Unterstützung profitieren und unser „Power Knee“ kann mit seiner Motor- oder Muskelkraft einen sehr großen funktionellen Einfluss auf das Leben der Betroffenen haben. Man erhält mehr Kraft und mehr Unterstützung bei der Fortbewegung, während man sich bei einem herkömmlichen Prothesenkniegelenk ganz auf seine eigene Kraft verlassen muss. Für eine nicht allzu kräftige Person ist dies ein sehr großer Schritt in Bezug auf mehr Funktionalität und eine bessere Lebensqualität. Dies ist ein wichtiger Aspekt, denn unsere Aufgabe ist es auch, die Gesundheitssysteme davon zu überzeugen, dass die Anschaffung von Produkten wie dem „Power Knee“ eine gute Investition ist. Dieses Produkt ist für jedes Gesundheitssystem, das es einführt, von Vorteil, da die Kosten über die gesamte Lebensdauer des Nutzers geringer sind, der mobiler und gesünder bleibt und außerdem seltener stürzt.
OT: Össur Deutschland hat im letzten Jahr in Köln einen neuen Standort bezogen und auch die hauseigene Academy dorthin verlegt. Welche Rolle spielt der deutsche Markt im globalen Kontext und was versprechen Sie sich von der Nähe zum zentralen Lagerstandort in Eindhoven?
Sölvason: Deutschland ist schon immer einer unserer Schlüsselmärkte und wir schätzen die langjährige Partnerschaft mit unseren zahlreichen Kund:innen und Kolleg:innen sehr. Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, das Interesse an Nachhaltigkeitsfragen, der fortschrittliche Gesundheitsmarkt und die stabile Infrastruktur machen Deutschland zu einem idealen Standort für uns, um unser Geschäft voranzutreiben, sowohl in Bezug auf die Innovation von Produkten als auch von Dienstleistungen.
OT: Ihr Vorgänger Jon Sigurdsson hat 2020 mit Blick auf den deutschen Markt betont, dass er keine Beteiligungen an OT-Betrieben anstrebe, solange der Wettbewerb dies nicht erfordert. Teilen Sie diese Position zwei Jahre später oder findet in dieser Sache aktuell ein Umdenken statt?
Sölvason: Ich teile seine Position in dieser Hinsicht und unser Ziel ist es, weiterhin dauerhafte Partnerschaften mit unseren Kund:innen in Deutschland aufzubauen und Produkte und Servicelösungen anzubieten, von denen Ärzt:innen, Geschäftsinhaber:innen und Patient:innen gleichermaßen profitieren.
OT: Sie arbeiten seit 2009 für Össur und wissen um den großen Stellenwert der „Corporate Values“. Was ist Ihr persönlicher Ansatz, diese zu pflegen und weiterzuentwickeln?
Sölvason: Ich glaube fest an Teamarbeit und Werte. Die Össur-Werte Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Mut sind der Kitt, der die 4.000 Össur-Mitarbeiter:innen weltweit zusammenhält. Wir fördern diese Werte in unserem Verhalten untereinander und gegenüber unseren Kund:innen und Stakeholdern. Bei Össur legen wir großen Wert auf Zusammenarbeit und Teamwork und wir setzen uns ehrgeizige Ziele. Ich werde jeden Tag ermutigt, mein Bestes zu geben, da ich von leidenschaftlichen und motivierten Menschen umgeben bin.
OT: Letzte Frage: Sie gelten als begeisterter Rennradfahrer. Werden Sie sich bei Ihrem nächsten Deutschlandbesuch die Zeit nehmen, um die schönsten Strecken des Rheinlands kennenzulernen?
Sölvason: Das hoffe ich sehr! Radfahren ist eine großartige Möglichkeit die Natur zu genießen und die Umgebung kennenzulernen. Ich weiß, dass ich es sehr genießen würde auf schönen Strecken unterwegs zu sein.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
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