Das Enti­tä­ten­kon­zept in der Ver­sor­gung von Men­schen mit dia­be­ti­schem Fuß

D. Hochlenert, G. Engels, St. Morbach
Die Ursachen eines Diabetischen-Fuß­syndroms (DFS) lassen sich in Voraus­setzungen und Anlässe unterteilen und über die Lokalisation weitestge­hend eingrenzen. Für die Bildung der Entitäten wurde die Oberfläche des Fußes in 22 Zonen eingeteilt, an de­nen Ulzera weitestgehend homogene Ursachen haben. Der daraus abgelei­tete Handlungskatalog hat mehrere Vorteile: 1. Der Schlüssel dazu ist die Lokalisation und damit einfach und selbsterklärend. 2. Alle Maßnahmen aus verschiedenen Bereichen, seien es Untersuchungs­methoden oder chi­rurgische bzw. konservative Behandlungen, Wundbehandlungen oder Schuhversorgungen, werden übersichtlich in einem Zusammenhang gebündelt. 3. Die Biomechanik, oft kompliziert und un­durchdringlich, reduziert sich auf die handlungsre­levanten Phänomene an einer Über­lastungslokalisation. Damit wird der Zugang zur Auswahl der bestmögli­chen Entlastungsoption erleichtert. Die Autoren hoffen, dass damit eine nächste Generation von Schuhver­sorgungsstandards möglich wird, die keine starren Empfehlungen bilden, sondern das individuell notwendige Minimum an Maßnahmen zum Ziel haben. Die nach wie vor hohen Re­aktivierungsraten von 30 bis 40 % im Jahr nach Wundschluss und die sogar steigende Häufigkeit von Amputatio­nen am Fuß könnten durch eine individuellere Wahl aus übersichtlich dar­ gestellten Mitteln gebessert werden.

Ein­lei­tung

Das span­nen­de Feld des Dia­be­ti­schen Fuß­syn­droms (DFS) ent­wi­ckelt sich schnell. Die­ser Arti­kel schlägt eine lösungs­ori­en­tier­te Ein­tei­lung vor, die die Infor­ma­tio­nen effi­zi­ent sys­te­ma­ti­siert. Das behebt fol­gen­de Schwierigkeiten:

  1. Ein Über­blick kann schnel­ler und voll­stän­di­ger erreicht wer­den, auch hin­sicht­lich der Fort­schrit­te in den ver­schie­de­nen Berufs­grup­pen und Ländern.
  2. Pro­fes­sio­na­li­tät kann schnel­ler er worben wer­den, auch wenn Infor­ma­tio­nen und Erfah­run­gen in chao­ti­scher Wei­se ein­tref­fen und ohne ord­nen­des Sys­tem schwer zu mer­ken sind.
  3. Der Aus­tausch zwi­schen Ange­hö­ri­gen ver­schie­de­ner Rea­li­tä­ten (Berufs­grup­pen, Län­der usw.) ist unge­stör­ter mög­lich, auch wenn die eige­nen Erfah­run­gen an aus­ge­wähl­ten Pati­en­ten gewon­nen wer­den und schwer in den Gesamt­zu­sam­men­hang des DFS zu inte­grie­ren sind. All die­se Begren­zun­gen pro­fi­tie­ren von einer Klas­si­fi­ka­ti­on, die Infor­ma­tio­nen wie Blät­ter an den Zwei­gen eines Bau­mes orga­ni­siert und mit einem ein­fa­chen visu­el­len Schlüs­sel erschließt: der Lokalisation.

Die Loka­li­sa­ti­on ist nicht zufäl­lig, son­dern der emp­find­lich gewor­de­ne Fuß ver­letzt sich an einer bio­me­cha­nisch begrün­de­ten Stel­le, aus der auf genau die­se Ursa­che rück­ge­schlos­sen wer­den kann. Die Ant­wort auf die Fra­ge „War­um genau hier?” führt zu einem Ver­ständ­nis der Ursa­chen und zu den The­ra­pie­op­tio­nen. Durch Ver­gleich mit Bil­dern aus dem DFS-Regis­ter konn­ten den Loka­li­sa­tio­nen auch Risi­ko­fak­to­ren, Häu­fig­keit und Pro­ gno­se zuge­ord­net werden.

Die Ver­sor­gung von Men­schen mit DFS hat sich seit etwa 2007 erkenn­bar ver­bes­sert, und die Zahl der Major­ ampu­ta­tio­nen nimmt ab 1. Das geschieht ins­be­son­de­re in Regio­nen, in denen Netz­wer­ke von Spe­zia­lis­ten Tei­le der Ver­sor­gung über­nom­men haben 23. Lei­der steigt die Häu­fig­keit von Minoram­pu­ta­tio­nen 4, und die Zahl der Reak­ti­vie­run­gen im Jahr nach Wund­schluss bleibt unver­än­dert bei 30 bis 40 % 5. Die­se Her­aus­for­de­run­gen könn­ten durch einen leich­te­ren Zugang zu bio­me­cha­ni­schen Grund­la­gen der Erkran­kung und fokus­sier­ter Schuh­ver­sor­gung bes­ser adres­siert wer­den. Dazu soll das Enti­tä­ten­kon­zept beitragen.

Metho­dik

Fotos und Daten von 12.473 Fäl­len mit akti­vem DFS und Behand­lungs­be­ginn in den Jah­ren 2005 bis 2011, die im Rah­men der Qua­li­täts­si­che­rung der Netz­wer­ke Dia­be­ti­scher Fuß erho­ben wur­den und Bestand­teil des DFS-Regis­ters sind, wur­den im Jahr 2012 aus­ge­wer­tet. 10.037 davon flos­sen in die Ana­ly­se der DFS-Regio­nen ein. Die 2.436 Fäl­le, die nicht aus­ge­wer­tet wur­den, hat­ten kei­ne bestimm­ba­ren Loka­li­sa­tio­nen, betra­fen Ulzera am Unter­schen­kel oder wie­sen kei­ne Ergeb­nis­se auf („lost to fol­low-up“). In den 10.037 ver­wert­ba­ren Fäl­len konn­ten die Fotos 50 Loka­li­sa­tio­nen an den Füßen zuge­ord­net wer­den. Zu jeder Loka­li­sa­ti­on wur­den die wesent­li­chen Merk­ma­le anhand einer Aus­wer­tung der Wund­be­hand­lung im Regis­ter DFS bestimmt 6. Das Regis­ter erfasst ein­zel­ne Erkran­kungs­epi­so­den, wobei die pro­gnos­tisch bedeut­sams­te Ver­let­zung zu Beginn der Epi­so­de foto­gra­fiert und doku­men­tiert wird. In einer zwei­ten Stu­fe wur­den Loka­li­sa­tio­nen mit ähn­li­chen Merk­ma­len in 22 Enti­tä­ten ein­ge­teilt (Tab. 1). Damit konn­ten den Enti­tä­ten die Merk­ma­le „Häu­fig­keit“, „Risi­ko“ und „Pro­gno­se“ zuge­ord­net wer­den 7.

Reak­ti­vie­rungs­ri­si­ko je nach Lokalisation

Mit dem Begriff „Reak­ti­vie­rung“ wer­den unter­schied­li­che Mög­lich­kei­ten eines erneut akti­ven DFS zusam­men­ge­fasst. Schwe­re­g­rad­pa­ra­me­ter des vor­an­ge­gan­ge­nen Ulkus haben wenig Ein­fluss auf die Wahr­schein­lich­keit der Reak­ti­vie­rung wäh­rend des ers­ten Jah­res der anschlie­ßen­den Pro­phy­la­xe. Aller­ding ver­mag die Loka­li­sa­ti­on das Risi­ko deut­lich zu dif­fe­ren­zie­ren, wie aus dem Dia­gramm in Abbil­dung 1 (letz­te Sei­te) abge­lei­tet wer­den kann.

Die höchs­te Wahr­schein­lich­keit von Reak­ti­vie­run­gen im Jahr nach Wund­schluss ist bei Geschwü­ren zu erken­nen, die eher sel­ten mit einer peri­phe­ren arte­ri­el­len Ver­schluss­krank­heit (pAVK) ver­ge­sell­schaf­tet sind und bei denen die Ver­wen­dung von Schu­hen zur Rezi­div­ver­mei­dung tra­di­tio­nell eine hohe Bedeu­tung hat. Es exis­tie­ren aber auch gute chir­ur­gi­sche Ver­fah­ren, und mög­li­cher­wei­se wäre die klu­ge Kom­bi­na­ti­on chir­ur­gi­scher und schuh­tech­ni­scher Ver­fah­ren aussichtsreicher.

Vor­aus­set­zun­gen und Anlässe

Die Vor­aus­set­zun­gen für das Bestehen eines DFS sind die Krank­hei­ten, die die fan­tas­ti­sche Wider­stands­kraft des Fußes so schwä­chen, dass lang­sam schlie­ßen­de Wun­den über­haupt erst mög­lich wer­den. Das sind Neu­ro­pa­thien, pAVK, schlech­te Blut­zu­cker­ein­stel­lung, bestimm­te Medi­ka­men­te und mehr. Die Fra­ge „War­um über­haupt besteht ein DFS bei die­sem Men­schen?“ erschließt die Vor­aus­set­zun­gen. Sie sind in der Regel nicht heil­bar, und daher ist das DFS eine lebens­lan­ge Erkrankung.

Die Anläs­se sind für das kon­kre­te Vor­lie­gen einer Läsi­on an die­sem Ort ver­ant­wort­lich. Dabei han­delt es sich um über­las­ten­de Kno­chen­vor­sprün­ge, Fremd­kör­per, Hit­ze, Lage­rungs­druck und mehr. Die Wie­der­ho­lung der Anläs­se zu unter­bin­den ist die ent­schei­den­de Opti­on beim DFS, da sich die Vor­aus­set­zun­gen nicht voll­stän­dig behe­ben las­sen. Die Fra­ge „War­um genau dort (und nicht 5 Mil­li­me­ter wei­ter weg)?“ erschließt die Anläs­se. Für jede Loka­li­sa­ti­on gibt es nur einen, maxi­mal zwei typi­sche Anläs­se, was das Ver­fah­ren stark vereinfacht.

Dabei kommt das Kon­zept der „Enti­tät“ zum Tra­gen. Die Bil­dung von Enti­tä­ten nutzt die sys­te­ma­ti­sche Ver­bin­dung zwi­schen der Loka­li­sa­ti­on und den Ursa­chen des DFS zur Stan­dar­di­sie­rung der dar­aus resul­tie­ren­den The­ra­pie­mög­lich­kei­ten und zur Prä­zi­sie­rung der Prognose.

Plant­a­ri­sie­rung

Ein patho­ge­ne­tisch wich­ti­ger Mecha­nis­mus ist die Plant­a­ri­sie­rung. Durch Dre­hen, Über­beu­gen oder Über­stre­cken der Zehen kön­nen Antei­le der Zehen zur Belas­tungs­zo­ne wer­den, die dafür nicht vor­ge­se­hen sind und des­halb auch kei­ne schüt­zen­den Pols­ter in Form ver­stärk­ter Kap­seln oder gekam­mer­ten Fett­ge­we­bes auf­wei­sen. Nur eine dün­ne Schicht aus Haut und Bin­de­ge­we­be trennt dort Kno­chen und Umge­bung. So kön­nen Schä­den auch bei Drü­cken ent­ste­hen, die andern­orts schad­los ertra­gen wer­den. Die Plant­a­ri­sie­rung ist von gro­ßer kli­ni­scher Bedeu­tung, da die Seh­nen­zü­ge der extrin­si­schen Mus­ku­la­tur, die dafür ver­ant­wort­lich sind, durch ein­fa­che Maß­nah­men der Seh­nen­chir­ur­gie dau­er­haft kor­ri­gier­bar sind 8.

Die Plant­a­ri­sie­rung kann funk­tio­nell sein, das heißt, in Ruhe ist sie nicht zu erken­nen. Daher sind alle Betrof­fe­nen, die Ulzera an den Rän­dern der Zehen auf­wei­sen, unter Belas­tung zu unter­su­chen. Erst nach Belas­tung und Aus­schluss der Plant­a­ri­sie­rung dür­fen enge oder kur­ze Schu­he als Ursa­che in den Blick genom­men werden.

Funk­tio­nel­le Unter­suchung des Fußes

Wich­ti­ge funk­tio­nel­le Tests sind die folgenden:

  1. Pro­vo­ka­ti­ons­tests, die Ver­hal­ten unter Last auf­de­cken: Dazu die­nen Push-up-Test, Zehen­stand und akri­bi­sche Beob­ach­tung in abge­lenk­ten Situa­tio­nen wie beim Lagewechsel.
  2. Prü­fung auf eine „Achil­les­seh­nen­ver­kür­zung“: Dazu kann der Silf­ver­skjöld-Test ver­wen­det wer­den, der zudem zwi­schen den ver­ur­sa­chen­den Mus­kel­grup­pen unter­schei­det. Die „Achil­les­seh­nen­ver­kür­zung“ ver­stärkt Über­las­tun­gen und Fehl­stel­lun­gen im Vor­fuß durch Zug am Rück­fuß und ver­früh­te Blo­ckie­rung des Fußes, wie es erst in der ter­mi­na­len Stand­pha­se erfol­gen sollte.
  3. Über­prü­fung einer Blo­ckie­rung im Rück­fuß durch tief ste­hen­den ers­ten Strahl: Dazu dient der Cole­man-Block-Test. Die­ser Test ist wich­tig bei Läsio­nen unter MTK 1 und an der Außen­sei­te, also unter MTK5 oder unter Ampu­ta­ti­ons­stümp­fen, die nach Teil­re­sek­tio­nen des MTK5 ver­blie­ben sind.

Schluss­fol­ge­rung

Es ist mög­lich, die bio­me­cha­ni­schen Hin­ter­grün­de eines dia­be­ti­schen Fußul­kus anhand der Loka­li­sa­ti­on ein­zu­gren­zen und Ent­las­tun­gen zu standardisieren.

Für die Autoren:
Dr. med. Dirk Hochlenert
Cen­trum für Dia­be­to­lo­gie, Endoskopie
und Wund­hei­lung
Mer­hei­mer Str. 217
50733 Köln
dirk.hochlenert@cid-direct.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Hochle­n­ert D, Engels G, Mor­bach St. Das Enti­tä­ten­kon­zept in der Ver­sor­gung von Men­schen mit dia­be­ti­schem Fuß. Ortho­pä­die Tech­nik, 2017; 68 (9): 44–50
  1. Kro­ger K, Berg C, San­to­sa F, Malyar N, Rei­ne­cke H. Lower Limb Ampu­ta­ti­on in Ger­ma­ny. Dtsch Arzt­ebl Int, 2017; 114 (7): 130–136. doi:10.3238/arztebl.2017.0130
  2. May M, Hahn S, Tonn C, Engels G, Hochle­n­ert D. Decrease in (Major) Ampu­ta­ti­ons in Dia­be­tics: A Secon­da­ry Data Ana­ly­sis by AOK Rheinland/ Ham­burg. Jour­nal of Dia­be­tes Rese­arch, 2016: Artic­le ID 6247045, 6 pages. doi:10.1155/2016/6247045. http://downloads.hindawi.com/journals/ jdr/2016/6247045.pdf (Zugriff am 26.07.2017)
  3. Traut­ner C, Haas­tert B, Mauck­ner P, Gatcke LM, Gia­ni G. Redu­ced Inci­dence of Lower-Limb Ampu­ta­ti­ons in the Dia­be­tic Popu­la­ti­on of a Ger­man City, 1990– 2005: Results of the Lever­ku­sen Ampu­ta­ti­on Reduc­tion Stu­dy (LARS). Dia­be­tes Care, 2007; 30 (10): 2633–2637
  4. Kro­ger K, Berg C, San­to­sa F, Malyar N, Rei­ne­cke H. Lower Limb Ampu­ta­ti­on in Ger­ma­ny. Dtsch Arzt­ebl Int, 2017; 114 (7): 130–136. doi:10.3238/arztebl.2017.0130
  5. Bus SA, van Net­ten JJ, Lavery LA, Mon­tei­ro-Soares M, Ras­mus­sen A, Jubiz Y, ­Pri­ce PE; Inter­na­tio­nal Working Group on the Dia­be­tic Foot. IWGDF gui­dance on the pre­ven­ti­on of foot ulcers in at-risk pati­ents with dia­be­tes. Dia­be­tes Metab Res Rev, 2016; 32 Sup­pl 1: 16–24. doi:10.1002/dmrr.2696
  6. Ris­se A, Dis­se­mond J, Engels G, Glau S, Hochle­n­ert D, Jecht M, Kers­ken J et al. Auf­bau und Metho­den des DFS-Regis­ters. Der Dia­be­to­lo­ge, 2015; 2: 114–122. doi:10.1007/s11428-014‑1285‑6
  7. Hochle­n­ert D, Engels G, Mor­bach S. Das dia­be­ti­sche Fuß­syn­drom – Über die Enti­tät zur The­ra­pie. Ber­lin, Hei­del­berg: Sprin­ger-Ver­lag, 2014
  8. Engels G, Sti­nus H, Hochle­n­ert D, Klein A. [Con­cept of plant­a­riza­ti­on for toe cor­rec­tion in dia­be­tic foot syn­dro­me]. Oper Orthop Trau­ma­tol, 2016; 28 (5): 323–334. doi:10.1007/s00064-016‑0453‑9
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