Im Prinzip ist die Orthopädie-Technik gut durch die Corona-Krise gekommen, wie Albin Mayer, Vizepräsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), in der Podiumsrunde zum Thema „Gesundheitsberufe in der Verantwortung: Wie treibt das Handwerk Fortschritt und Innovation im deutschen Gesundheitswesen?“ am Veranstaltungsmittwoch sagte. Allerdings hätten viele Betriebe, die vor allem mit Fachkliniken zusammenarbeiten, massive Einbrüche erlebt. Auf den zusätzlichen Ausgaben von durchschnittlich 25.000 bis 30.000 Euro im Monat aufgrund der Pandemiesituation seien die Unternehmen bislang ebenfalls sitzengeblieben. Nur die wenigsten Krankenkassen hätten etwas dazugegeben, so Mayer. „Höchste Leistung, höchste Flexibilität“ stehen laut Mayer zu viel Bürokratie und zu viele Ausreden gegenüber. Und nach wie vor bereiten Materialpreissteigerungen und unterbrochene Lieferketten der Branche Kopfzerbrechen.
Handwerk ist „sexy“
„Wir haben einen sehr innovativen, lebendigen Beruf, der sehr vielseitig ist“, betonte Mayer stolz. „Wir tragen eine enorm hohe Verantwortung und benötigen viel Fachverstand. Wir schaffen Teilhabe und geben Lebensfreude zurück.“ Die hohe Kompetenz mache das Berufsbild „sexy“. Viele innovative Produkte entstehen aus dem Handwerk heraus – was Thomas Truckenbrod, Präsident des Zentralverbandes der Augenoptiker und Optometristen, sowie Marianne Frickel, Präsidentin der Bundesinnung Hörakustiker (KdöR), nur bestätigen konnten.
Echte statt Scheininnovation
Auch die Herausforderungen sehen in den Gesundheitshandwerken ähnlich aus: Angefangen bei der Steigerung der Materialpreise über die Beschaffung bis zu den verteuerten Transporten. „Hier müssen Lösungen geschaffen werden mit den gesetzlichen Krankenversicherungen“, forderte Stephan Jehring, Präsident des Zentralverbandes für Orthopädie-Schuhtechnik (ZVOS). Ein Problem sieht er zudem im verstaubten Image des Handwerks, das aufpoliert werden muss. „Wir sind schon lange digital unterwegs!“, unterstrich Jehring. Deshalb zeigte er sich verärgert über Scheininnovationen, die unter dem Label des digitalen Fortschritts mit alten Methoden wie Kohleabdrücken arbeiten, einer Erfindung der 1920er-Jahre: „Da hat man versucht, mit einer riesengroßen Werbemaschine eine Innovation zu verkaufen, die keine ist.“ Wie man Märkte „vernünftig digitalisieren“ könne, dabei alle Kolleg:innen beteilige und qualitätsgesichert bleibe – darüber mache sich das Fach aber schon Gedanken. „Im letzten Jahr haben wir ein Kompetenzzentrum gegründet, mit vier Millionen Euro Fördergeld von der Bundesregierung finanziert“, berichtete Jehring.
Weltweit helfen
Die Welt und die Branche im Krisenmodus – die Corona-Krise noch nicht vorbei, in China offenbart sich das Scheitern der Zero-Covid-Politik und die Containerschiffe liegen im Hafen von Shanghai fest, der Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem, Konflikte beherrschen etliche Regionen und zusätzlich wachsen wirtschaftliche Ängste aufgrund von Inflation und Energiepreisschock. In der Diskussion „Verantwortung zeigen: Kennt internationale Hilfsmittelversorgung (keine) Grenzen?“ erzählte BIV-OT-Vizepräsident Mayer aus Gesprächen mit Ukrainer:innen: „Das war sehr hart für mich. Sie berichteten, wie viele Schwerstverletzte man dort hat in der Zivilbevölkerung und auch im Militär – und man kann sie nicht behandeln. Kliniken sind geschlossen, ukrainische Werkstätten nicht aktiv.“ Die Bemühungen um Hilfe aus Deutschland und international laufen: „Es geht um Soforthilfe, aber auch um qualifizierte Ausbildung in der Ukraine sowie Gesellen und Meister von dort bei uns fortzubilden.“
Persönliche Ukraine-Hilfe
Nach der Covid-Zeit im Homeoffice am Küchentisch, wo er sich gefühlt habe „wie der Tiger im Wellensittichkäfig“, hat Hans Georg Näder, Eigentümer und Vorsitzender des Verwaltungsrats der Ottobock SE & Co. KGaA, mit persönlichem Einsatz in der Ukraine geholfen. 25 Kinder zwischen drei und 16 Jahren aus einem Waisenhaus in Charkiw, die in einem Keller Schutz vor den Bomben gesucht hätten, seien in einem „hollywoodreifen“ Sondereinsatz nach Duderstadt geholt worden, ins Tabalugahaus. Schon seit längerem unterstütze die Ottobock Global Foundation Kinder in Konfliktgebieten – zum Beispiel Kinder mit Behinderungen in der Ukraine und in Syrien. Seine Firma sei eingebunden in weitere Hilfe für die Ukraine, auch in weiteren Ländern des ehemaligen Ostblocks. Allerdings plädierte Näder ebenfalls dafür, den kulturellen und sportlichen Dialog in Krisenzeiten nicht abbrechen zu lassen: „Sport, Kunst und Kultur sind friedensstiftend auf ganz vielen Ebenen. Ich halte es für kritisch, der Kunst den Teppich wegzuziehen, der Kultur den Teppich wegzuziehen und dem Sport“, so Näder. Das menschliche Grundrauschen brauche man – und es wird eine Zeit geben nach dem Krieg. Das Schaffen diplomatischer Brücken für beide Seiten des Konflikts sei wichtig. Auch von den 200 Angestellten des Unternehmens in Moskau hätten die Hälfte Verwandte in der Ukraine. Die Situation sei komplex. Nicht zu vergessen die Situation in Afrika, das abhängig ist von Lebensmitteleinfuhren aus der Ukraine und Russland und durch den Ukraine-Krieg von Hungersnot bedroht ist. „Afrika ist immer wieder das Opfer – immer und immer wieder“, wie Näder mahnt. Trotz allem sei er „Berufsoptimist“: „Wir brauchen eine ruhige Hand in der Krise und klares Leadership.“
Krisen überall
„Wir haben mehrere Krisen gleichzeitig, die wir meistern müssen“, so Henning Quanz, Moderator des Podiums. Dem konnte Claude Tardif, Präsident der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO), nur zustimmen. Er unterstrich, dass während der Pandemie viele Menschen medizinisch nicht versorgt werden konnten – aber Covid sei immer noch da. Und nun herrsche nicht weit weg Krieg, in direkter Nachbarschaft, einen kurzen Flug entfernt. „Die Schwierigkeit liegt darin, das bereitzustellen, was dort gebraucht wird.“ Der Ukraine-Krieg sei aber nicht der einzige Konflikt. Tardif erinnerte zum Beispiel an Afghanistan. Und dann gebe es die Inflation, die erste, die er erlebe. Die OTWorld sendet aber nach Ansicht von Tardif eine positive Botschaft: Menschen seien bereit, zusammenzuarbeiten – und in Leipzig seien „eine Menge Möglichkeiten und Innovationen zu sehen“. Es gehe darum, einen Weg zu finden, um mehr Menschen den Zugang zu ermöglichen.
Plädoyer für Prävention
Eine Lanze für mehr Prävention und genaueres Hinschauen brachen die Gäste der letzten Diskussionsrunde des Branchenpolitischen Forums am Mittwoch unter dem Titel „Zwischen Homeoffice, Selbstoptimierung und demografischem Wandel: Gesundheit selbst verantworten?“ Prävention sei nicht nur Sache der Ärzt:innen, „Prävention braucht alle in den Gesundheitsberufen“, erklärte Dr. Alexander Risse, ehemaliger Leiter des Diabeteszentrums am Klinikum Dortmund und Mitglied der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Die jährlich 40.000 Amputationen wegen des Diabetischen Fußsyndroms seien unnötig, so der Experte. Viel zu langsam – zu spät – werde reagiert. Gesundheitliche Aufklärung müsse nicht dröge sein. Und Hilfsmittel müssen nicht langweilig aussehen – Stichwort und Credo für Lipödem-Model, Unternehmerin, Autorin und Bloggerin Caroline Sprott, die leidenschaftlich für mehr Empathie bei der Behandlung von Lipödem-Patient:innen plädierte: „Wenn man nicht ernst genommen wird, stellt man sich selbst infrage – und das ist nicht fair.“ Sie sprach darüber, wie sie sich durch Mode selbst therapiert habe, um ihre Erkrankung annehmen zu können: „Ich musste kreativ werden aus Überlebenswillen.“
Bestes Gesundheitssystem
BIV-OT-Präsident Alf Reuter verdeutlichte, dass Prävention ein wichtiger Aspekt sei, der aber oft nicht bezahlt werde. „Die Prävention beginnt bei der ärztlichen Ausbildung“, stellte Jürgen Gold fest. Die Patient:innen müssten rechtzeitig mit Hilfsmitteln versorgt werden, die ein akutes Krankheitsbild verhindern, so der Vorsitzende von Eurocom e. V. „Die Erstversorgung des Diabetischen Fußsyndroms kostet um 2.000 Euro, die Amputation 14.000 bis 15.000 Euro.“ Für die Krankenkassen seien die Patient:innen erstmal alle gleich und würden eine adäquate, auf den aktuellen Zustand abgestimmte Behandlung brauchen, so Bernd Faehrmann, Abteilungsleiter Arznei‑, Heil- und Hilfsmittel des AOK-Bundesverbandes. Doch zu mehr Gesundheit durch mehr Maßnahmen zu kommen – diese Bemühungen scheinen limitiert zu sein, wie er anmerkte. „Wir geben ein Prozent für Prävention aus. Die Kassen hätten kein Problem, das auf zehn Prozent zu steigern, wenn die Gesamtausgaben sinken würden. Wir sehen aber: Wir tun in jeden Topf mehr rein, ohne dass die Gesamtausgaben sinken.“
Das versöhnliche Schlusswort bei aller Kritik kam vom Diabetesexperten Dr. Risse: „Wir haben in Deutschland das beste Gesundheitssystem der Welt. Ich möchte nirgendwo anders krank sein als in Deutschland.“
Cathrin Günzel
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