C.A.L.A.: Ein Soft­ware-Tool zur digi­ta­len Erfas­sung, Visua­li­sie­rung und Doku­men­ta­ti­on des Kör­per­bil­des von Amputierten

C. Prahm¹, J. Merk¹, S. Wrede2, J. Kolbenschlag¹, M. Bressler¹
Derzeit existiert weder ein standardisiertes Formular für die Dokumentation von Phantomempfindungen und Phantomschmerzen im Verlauf der Therapie noch für deren Visualisierung aus Sicht des Patienten. Beides ist jedoch von hoher klinischer Relevanz für die therapeutische Betreuung als auch für die orthopädietechnische Versorgung. C.A.L.A. (Computer Assisted Limb Assessment) ist eine Applikation, die die Dokumentation und Visualisierung von Phantomgliedern sowie die Quantifizierung des sichtbaren und unsichtbaren Körperbildes der Patienten ermöglicht. So kann es dazu beitragen, die Lücke zwischen der Vorstellung des Therapeuten, Orthopädietechnikers oder behandelnden Arztes und der Wahrnehmung der Patienten zu schließen.

Ein­lei­tung

Nach der Ampu­ta­ti­on eines Kör­per­teils neh­men bis zu 90 Pro­zent der Pati­en­ten die­se feh­len­de Glied­ma­ße als noch vor­han­den wahr 1. Die­ser als Phan­tom­ge­fühl bezeich­ne­te Effekt reicht von einem ein­fa­chen Gefühl der Anwe­sen­heit bis hin zur Wahr­neh­mung einer bestimm­ten Kör­per­hal­tung, Form oder sogar unwill­kür­li­chen Bewe­gun­gen 2. Zusätz­lich zu die­sen Emp­fin­dun­gen lei­den 45–85 Pro­zent der Pati­en­ten unter Phan­tom­schmer­zen, die sich als Krib­beln, Bren­nen oder Jucken, aber auch als star­ke Schmer­zen wie Ste­chen, Schie­ßen, Krämp­fe oder Bren­nen äußern kön­nen 3. Phan­tom­schmerz mani­fes­tiert sich in der Regel 24 Stun­den bis eine Woche nach der Ampu­ta­ti­on und nimmt bei vie­len Pati­en­ten im Lau­fe der Zeit an Inten­si­tät und Häu­fig­keit ab 4. Vor allem in den dista­len Berei­chen der feh­len­den Glied­ma­ße hal­ten Phan­tom­emp­fin­dun­gen und ‑schmer­zen län­ger an. Eini­ge Pati­en­ten lei­den jahr­zehn­te­lang unter die­sen Schmer­zen 5 6. Die zugrun­de­lie­gen­den Mecha­nis­men wer­den noch immer kon­tro­vers dis­ku­tiert. Die der­zeit vor­herr­schen­de Theo­rie ist das kor­ti­ka­le „Re-Map­ping“, nach dem das Gehirn auf den Ver­lust einer Glied­ma­ße mit einer Reor­ga­ni­sa­ti­on des soma­to­sen­so­ri­schen Kor­tex reagiert 7 8. Eine posi­ti­ve Kor­re­la­ti­on zwi­schen Phan­tom­schmer­zen und der Wahr­neh­mung der Pro­the­se als Fremd­kör­per konn­te bereits nach­ge­wie­sen wer­den 9. Wenn die Pro­the­se in das Selbst­bild des Pati­en­ten ein­ge­bet­tet ist, dann spricht man von Embo­di­ment 10. Embo­di­ment för­dert die Akti­vi­tät in den Hirn­area­len, die für die Kon­trol­le der Extre­mi­tä­ten zustän­dig sind, und ver­rin­gert so die kor­ti­ka­le Reor­ga­ni­sa­ti­on, die typi­scher­wei­se auf die Ampu­ta­ti­on folgt. Die Ver­rin­ge­rung die­ser Umstruk­tu­rie­rung scheint die Grund­la­ge für die Ver­rin­ge­rung von Phan­tom­schmer­zen zu sein 11.

Anzei­ge

Abbil­dung und Erfra­gung von Phantom­wahrnehmung und ‑schmer­zen

Da Phan­tom­wahr­neh­mung eine schwer fass­ba­re Enti­tät dar­stellt, ist es nicht tri­vi­al, den Fort­schritt die­ser Ver­än­de­rung im Ver­lauf der Behand­lung zu ver­fol­gen. Der­zeit exis­tiert weder ein stan­dar­di­sier­tes For­mu­lar für die Doku­men­ta­ti­on von Phan­tom­emp­fin­dun­gen und Phan­tom­schmer­zen im Ver­lauf der The­ra­pie noch für deren Visua­li­sie­rung aus Sicht der Pati­en­ten. Bei­des ist jedoch von hoher kli­ni­scher Rele­vanz für die the­ra­peu­ti­sche Betreu­ung als auch für die ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung 12.

Die Doku­men­ta­ti­on erfolgt in der Regel mit Schmerz­fra­ge­bö­gen wie dem Kurz­form-McGill-Schmerz­fra­ge­bo­gen 13, der zum De-fac­to-Stan­dard für die Beur­tei­lung der Qua­li­tä­ten von Phan­tom­schmer­zen gewor­den ist 14. Ande­re Schmerz­fra­ge­bö­gen wie das Brief Pain Inven­to­ry (BPI) 15 bie­ten ein 2D-Kör­per­dia­gramm zur Loka­li­sie­rung des Schmer­zes, doch die meis­ten Doku­men­ta­tio­nen wer­den nach wie vor hand­schrift­lich und in offe­ner Form durch­ge­führt. Die­se Form der Doku­men­ta­ti­on hat den Nach­teil, dass die Quan­ti­fi­zie­rung von Schmer­zen kost­spie­lig und unge­nau ist.

Auf der Suche nach einer ent­spre­chen­den Soft­ware­lö­sung wur­den wir zwar fün­dig, was digi­ta­le Werk­zeu­ge zum Ein­zeich­nen von gene­rel­len Schmer­zen betrifft 16, die teil­wei­se auch das direk­te Zeich­nen auf einem 3D-Modell erlau­ben 17, jedoch ist kei­ne die­ser Lösun­gen spe­zi­fisch für die Erfas­sung von Phan­tom­schmer­zen aus­ge­legt und bie­tet auch kei­ne Mög­lich­keit zur Visua­li­sie­rung des Phan­toms, so dass die Wahr­neh­mung und das Kör­per­bild von Ampu­tier­ten nicht abge­bil­det wer­den kann. Es gibt zwar Arbei­ten, in denen Werk­zeu­ge zur Erstel­lung eines ver­än­der­ten Kör­per­bil­des vor­ge­stellt wur­den, die­se bezie­hen sich jedoch auf das The­ma Ess­stö­run­gen 18. Da wir kei­ne geeig­ne­te Soft­ware fin­den konn­ten, die eine voll­stän­di­ge Doku­men­ta­ti­on der Phan­tom­emp­fin­dun­gen und des ver­än­der­ten Kör­per­bil­des ermög­licht, haben wir ein sol­ches Pro­gramm selbst ent­wi­ckelt. Im Fol­gen­den wird die Funk­tio­na­li­tät von C.A.L.A. und des­sen Eva­lu­ie­rung im Bezug zur Funk­tio­na­li­tät und Nut­zer­freund­lich­keit mit The­ra­peu­ten und Pati­en­ten beschrieben.

Doku­men­ta­ti­on mit C.A.L.A.

Die Grund­idee von C.A.L.A. besteht dar­in, einen vir­tu­el­len mensch­li­chen 3D-Ava­tar so anzu­pas­sen, dass die­ser das Kör­per­bild der Pati­en­ten ein­schließ­lich des Phan­tom­emp­fin­dens abbil­det. Es sind ver­schie­de­ne Level von Ampu­ta­tio­nen für die obe­ren und unte­ren Extre­mi­tä­ten bis zu den Fin­gern und Zehen dar­stell­bar. Auch mul­ti­ple Ampu­ta­tio­nen kön­nen dar­ge­stellt und doku­men­tiert wer­den. Visu­ell und funk­tio­nell erfolgt eine Tren­nung zwi­schen dem Stumpf und dem Phan­tom. In wie­der­hol­ten Sit­zun­gen kön­nen ver­schie­de­ne Cha­rak­te­ris­ti­ka des Phan­tom­glie­des sowie der Emp­fin­dun­gen am Phan­tom und Stumpf erfasst werden.

Ver­for­mung des Phantoms

Man­che Pati­en­ten berich­ten, dass sie ihr Phan­tom­glied mit ver­än­der­ten Pro­por­tio­nen wahr­neh­men. Um die­sen Umstand abzu­bil­den, kön­nen Län­ge und Umfang ein­zel­ner Seg­men­te der Extre­mi­tä­ten wie z. B. Ober­arm, Unter­arm oder Hand ver­grö­ßert oder ver­klei­nert wer­den. Auch die ein­zel­nen Fin­ger­glie­der, inklu­si­ve des Dau­mens, und die Zehen kön­nen der­ar­tig ange­passt wer­den. Das Teles­co­ping-Phä­no­men, bei dem bspw. der Unter­arm im Ellen­bo­gen ver­schwin­det, kann mit die­ser Funk­ti­on eben­falls dar­ge­stellt werden.

Posi­tio­nie­rung des Phantoms

Das Gefühl, dass die Phan­tom­glied­ma­ße in einer oder meh­re­ren ver­dreh­ten oder unna­tür­li­chen Posi­tio­nen fixiert sind, kann abge­bil­det wer­den, indem die ent­spre­chen­den Gelen­ke des 3D-Ava­tars in die von den Pati­en­ten ange­ge­be­ne Posi­ti­on bewegt wer­den. Es kön­nen die Schulter‑, Ell­bo­gen- und Hand­ge­len­ke sowie die ein­zel­nen Fin­ger­ge­len­ke des 3D-Ava­tars ein­ge­stellt wer­den wie auch die Gelen­ke der unte­ren Extre­mi­tä­ten. Alle Gelen­ke kön­nen ent­lang ihrer natür­li­chen Ach­sen und auch um sich selbst unein­ge­schränkt gedreht wer­den. Dadurch kön­nen alle denk­ba­ren und ana­to­misch unmög­li­chen Posi­tio­nen der obe­ren und unte­ren Extre­mi­tä­ten dar­ge­stellt wer­den (sie­he Abb. 1).

Ein­zeich­nen von Schmer­zen und Phantomempfindungen

Schmer­zen und Phan­tom­emp­fin­dun­gen kön­nen in C.A.L.A. direkt auf dem 3D-Ava­tar ein­ge­zeich­net wer­den. Dazu wird der Maus­zei­ger oder Fin­ger als Pin­sel ver­wen­det und die Schmer­zen wer­den auf­ge­malt. Die Inten­si­tät der Emp­fin­dung wird anhand der Nume­ri­cal Rating Sca­le (NRS) abge­bil­det. Die Wer­te zwi­schen 0 und 10 sind auf dem Ava­tar durch einen Farb­ver­lauf von gelb (leicht) bis dun­kel­rot (sehr stark) dar­ge­stellt (sie­he Abb. 2). Zusätz­lich kön­nen der Emp­fin­dung meh­re­re Qua­li­tä­ten zuge­ord­net wer­den, die teil­wei­se aus dem Kurz­form-McGill-Schmerz­fra­ge­bo­gen über­nom­men wur­den und teil­wei­se auch selbst defi­niert wur­den wie z. B.: ober­fläch­lich, mit­tel, tief oder bei Ruhe, nachts. Schmer­zen kön­nen sowohl am Phan­tom als auch am Stumpf auf­ge­zeich­net wer­den. Bei Pati­en­ten, die berich­ten, dass sie Tei­le des Phan­tom­glie­des nur ver­rin­gert oder nicht wahr­neh­men, kann die­se emp­fun­de­ne Prä­senz eben­falls direkt auf das Phan­tom gezeich­net wer­den. Tei­le des Phan­toms kön­nen damit auch visu­ell aus­ge­blen­det wer­den (sie­he Abb. 3).

Quan­ti­fi­zie­rung des Körperbildes

Alle Daten, die wäh­rend des Doku­men­ta­ti­ons­pro­zes­ses erfasst wer­den, kön­nen abge­spei­chert und quan­ti­fi­ziert wer­den und ermög­li­chen eine Aus­sa­ge über die Kon­sti­tu­ti­on des Phan­toms zum jewei­li­gen Zeit­punkt. Dies ermög­licht die Ana­ly­se der erfass­ten Aspek­te Defor­ma­ti­on, Posi­ti­on und Schmerz und deren Beob­ach­tung im Ver­lauf der Behand­lung. Die Quan­ti­fi­zie­rung der Ver­for­mung spie­gelt die pro­zen­tua­le Ver­än­de­rung der Län­ge und des Umfangs der jewei­li­gen Glied­ma­ßen im Ver­gleich zum Basis­mo­dell wider. Aus­ge­hend von den ursprüng­lich erfass­ten Kör­per­ma­ßen der Pati­en­ten könn­ten die­se Ver­än­de­run­gen damit auch abso­lut in Zen­ti­me­tern berech­net wer­den. Die Quan­ti­fi­zie­rung der Posi­ti­on ergibt sich aus der Abwei­chung jeder Rota­ti­ons­ach­se eines jeden Gelenks von der Grund­po­si­ti­on des 3D-Ava­tars (Neu­tral-Null-Stel­lung). Schmer­zen wer­den als Pro­zent­satz der Kör­per­ober­flä­che quan­ti­fi­ziert, die mit der jewei­li­gen Inten­si­tät betrof­fen ist (sie­he Abb. 4). Für eine sepa­ra­te Quan­ti­fi­zie­rung meh­re­rer Emp­fin­dun­gen kön­nen die­se in bis zu 3 von­ein­an­der unab­hän­gi­gen, Ebe­nen ein­ge­tra­gen werden. 

Kli­nisch-the­ra­peu­ti­scher Aspekt der Visualisierung

Der Pati­ent zeich­net im engen Aus­tausch mit dem The­ra­peu­ten (Phy­sio-/Er­go­the­ra­peut) den Schmerz auf den 3D-Ava­tar ein (sie­he Abb. 5). Die poten­zi­ell ver­än­dert emp­fun­de­ne Posi­ti­on bzw. Gestalt der Phan­tom­ex­tre­mi­tät wird eben­falls gemein­sam model­liert, sodass sowohl der Pati­ent als auch der The­ra­peut eine sehr dif­fe­ren­zier­te und plas­ti­sche Vor­stel­lung von der aktu­el­len Phan­tom­wahr­neh­mung bekommen.

Die exak­te Erfas­sung und Quan­ti­fi­zie­rung der schmerz­haf­ten Flä­che und die Abglei­chung mit Haut­der­mato­men ermög­li­chen dem behan­deln­den Arzt oder The­ra­peu­ten außer­dem die Zuord­nung zu peri­pher-neu­r­a­len Ver­sor­gungs­ge­bie­ten. Dar­über hin­aus kön­nen mit C.A.L.A. neben dem Phan­tom­schmerz auch die Stumpf­schmer­zen der Pati­en­ten erfasst wer­den, was nicht immer dif­fe­ren­ziert wird, aber im kli­nisch-the­ra­peu­ti­schen Bereich hoch­re­le­vant ist.

Vie­le der mit C.A.L.A. befun­de­ten Pati­en­ten mel­den uns in die­sem Pro­zess zurück, dass sie sich bis­her noch nicht so inten­siv und detail­liert mit der Wahr­neh­mung ihres Phan­tom­glieds aus­ein­an­der­ge­setzt haben. Die­se meist von den Pati­en­ten nicht als unan­ge­nehm emp­fun­de­ne inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung könn­te mög­li­cher­wei­se auch zu einer ver­bes­ser­ten Akzep­tanz der ampu­tier­ten Extre­mi­tät beitragen.

Es ist in der Phy­sio­the­ra­pie üblich, ver­schie­de­ne phy­si­ka­li­sche Metho­den (z. B. seg­men­ta­le TENS, Ther­mo­the­ra­pie kon­tra­la­te­ral) oder den Ein­satz von Ima­gi­na­ti­ons­the­ra­pien (z. B. Spie­gel­the­ra­pie, Inten­ti­ons­trai­ning durch Bewe­gungs­übun­gen mit dem Phan­tom­glied) indi­vi­du­ell bezüg­lich ihrer Schmerz­wirk­sam­keit mit dem Pati­en­ten zu erpro­ben. Eine regel­mä­ßi­ge, ein­mal wöchent­li­che Erfas­sung von Ver­än­de­run­gen im C.A.L.A.-Befund ermög­li­chen eine sehr dif­fe­ren­zier­te Ver­laufs­be­ur­tei­lung und Über­prü­fung der Effek­ti­vi­tät ein­ge­setz­ter Behandlungsmethoden.

Unse­re Phy­sio­the­ra­peu­ten haben mit C.A.L.A. bereits über län­ge­re Zeit­räu­me Bef­und­do­ku­men­ta­tio­nen erstellt. Nach ihrer Erfah­rung hilft es den Pati­en­ten im mehr­wö­chi­gen Behand­lungs­ver­lauf bei der Schmerz­be­wäl­ti­gung, wenn selbst klei­ne posi­ti­ve Ver­än­de­run­gen in den Schmerz- und Phan­tom­glied-Para­me­tern immer wie­der gemein­sam visua­li­siert und bewer­tet wer­den kön­nen. Dadurch wer­den die­se Ver­bes­se­run­gen (z. B. Schmerz gleich­ge­blie­ben, aber Medi­ka­ti­on redu­ziert; oder Schmerz ver­rin­gert bei glei­cher Medi­ka­ti­on) oft erst als The­ra­pie­er­fol­ge bewusst gemacht und die Pati­en­ten-Adhä­renz erhöht.

Hier kann mit C.A.L.A. regel­mä­ßig der tages­ak­tu­el­le Zustand des Pati­en­ten im Aus­tausch auf Augen­hö­he erfasst, visua­li­siert und, auch im Ver­lauf, objek­tiv doku­men­tiert wer­den. Die Com­pli­ance steigt signi­fi­kant, die Pati­en­ten füh­len sich ernst- und ange­nom­men. Neben der poten­zi­el­len Erhö­hung der The­ra­pie-Com­pli­ance bei den Pati­en­ten kann eine über die Zeit erfol­gen­de Aus­wer­tung der Ver­än­de­run­gen in der Phan­tom­glied-Stel­lung inter­es­san­te Zusam­men­hän­ge zur Schmerz­wahr­neh­mung objek­ti­vie­ren: Zum Bei­spiel könn­te ein rück­läu­fi­ges Teles­co­ping-Phä­no­men mit einem ver­min­der­ten Phan­tom­schmerz erst­mals mit einem Befund­werk­zeug erfasst, quan­ti­fi­ziert und sta­tis­tisch nach wis­sen­schaft­li­chen Kri­te­ri­en aus­ge­wer­tet werden.

Ortho­pä­die­tech­ni­scher Aspekt der Dokumentation

Neben der Nut­zung der C.A.L.A.-Applikation von Phy­sio- und Ergo­the­ra­peu­ten könn­te die­se Anwen­dung eben­falls die Arbeit von Ortho­pä­die­tech­ni­kern, die mit der Pro­the­sen­ver­sor­gung der Ampu­ta­ti­ons­pa­ti­en­ten beauf­tragt sind, sinn­voll ergän­zen und berei­chern. In der Ortho­pä­die­tech­nik wer­den bereits stan­dard­mä­ßig das Vor­han­den­sein von Phan­tom­ge­fühl und ‑schmerz, Stumpf­schmerz, Loka­li­sa­ti­on, Inten­si­tät sowie evtl. Medi­ka­ti­on in den Ana­mne­se­bö­gen grob hand­schrift­lich abge­fragt und erfasst. 

Für frischam­pu­tier­te Pati­en­ten ist die Unter­schei­dung von Phan­tom­ge­fühl und Schmerz, die Beschrei­bung der Stel­lung des Phan­tom­glie­des im Raum und das Erle­ben von Gefühls- und Schmerz­sen­sa­tio­nen in einem nicht mehr vor­han­de­nen Kör­per­teil anfangs ver­wir­rend, mit Scham behaf­tet und oft sehr quä­lend. Das Ampu­ta­ti­ons­trau­ma muss bewäl­tigt wer­den, Phan­tom­schmer­zen und Gefüh­le beein­träch­ti­gen ohne ent­spre­chen­des sicht­ba­res Kor­re­lat die Lebens- und Schlaf­qua­li­tät. Schmer­zen­de Stel­len kön­nen nicht ein­fach gezeigt und berührt wer­den, die gän­gi­gen Schmerz­mit­tel und spe­zi­el­le Neu­ro­lep­ti­ka hel­fen ein­ge­schränkt oder gar nicht. Dazu kommt das Erler­nen des Umgangs mit einer Pro­the­se und deren Reinte­gra­ti­on in das mas­siv beein­träch­tig­te Körperschema.

Die in C.A.L.A. erfass­ten Phan­tom- und Stumpf­schmer­zen kön­nen sowohl Aus­wahl des Pro­the­sen-Modells als auch die Anpas­sung der Pro­the­se erleich­tern (Pass­form, Druck­stel­len, Funk­tio­na­li­tät ver­sus Schmerz­emp­fin­dung). Neben Video- und Foto­do­ku­men­ta­ti­on des Zustands vor und nach pro­the­ti­scher Ver­sor­gung ist der Ein­satz von C.A.L.A. auch für fun­dier­te Begrün­dun­gen indi­vi­du­el­ler, best­ge­eig­ne­ter Schaft-Bet­tungs­sys­te­me und Pass­teil­aus­wahl gegen­über den Kos­ten­trä­gern denkbar.

Mit C.A.L.A. könn­ten den betrof­fe­nen Pati­en­ten vor allem in der frü­hen Pha­se der Pro­the­sen­ver­sor­gung sehr gut die Zusam­men­hän­ge von Pro­the­sen­nut­zung und Schmerz­wahr­neh­mung auf­ge­zeigt wer­den. Dies könn­te zu einem höhe­ren Grad an Pati­en­ten-Adhä­renz in der Pro­the­sen­nut­zung, einem ver­bes­ser­ten Embo­di­ment der Pro­the­se, einer Reduk­ti­on der Phan­tom­schmerz-Beschwer­den und letzt­lich einem höhe­ren Maß an Lebens­qua­li­tät beitragen.

Eva­lu­ie­rung der Funk­tio­nen und Anwen­der­freund­lich­keit von C.A.L.A.

Ein Pro­to­typ von C.A.L.A. wur­de im Rah­men einer Stu­die mit 33 Phy­sio- und Ergo­the­ra­peu­ten und Ortho­pä­die­tech­ni­kern in Bezug auf Benut­zer­freund­lich­keit und Funk­ti­ons­um­fang eva­lu­iert. Alle Teil­neh­mer muss­ten zwei vor­ge­ge­be­ne Fäl­le fik­ti­ver Pati­en­ten in C.A.L.A. doku­men­tie­ren und wur­den danach befragt. Die funk­tio­na­le Abde­ckung des Pro­to­typs wur­de anhand von 22 Ampu­tier­ten eva­lu­iert, deren Ampu­ta­tio­nen mit C.A.L.A. doku­men­tiert wur­den 19.

Die Benut­zer­freund­lich­keit, auf die bereits bei der Ent­wick­lung des Pro­to­typs viel Wert gelegt wur­de, bewer­te­ten die Befrag­ten anhand des SUS (Sys­tem Usa­bi­li­ty Scale)-Fragebogens 20 mit durch­schnitt­lich 81 Pro­zent. Somit reprä­sen­tiert das Ergeb­nis eine hohe Benut­zer­freund­lich­keit. Aus den semi­struk­tu­rier­ten Inter­views mit den Teil­neh­mern konn­ten auch kon­kre­te Anfor­de­run­gen zur Erwei­te­rung des Funk­ti­ons­um­fan­ges erho­ben wer­den wie z. B. die detail­lier­te Model­lie­rung der ein­zel­nen Fin­ger und Zehen, eine visu­el­le Unter­schei­dung von Phan­tom und Stumpf und eine umfang­rei­che­re Erfas­sung von Emp­fin­dun­gen und Schmerzen.

Limi­tie­run­gen

Das kom­ple­xe Phä­no­men des Phan­tom­schmer­zes nach Extre­mi­tä­ten-Ampu­ta­tio­nen ist von mul­ti­plen indi­vi­du­el­len Aspek­ten (z. B. Ampu­ta­ti­ons­ni­veau, Schmer­zen vor der Ope­ra­ti­on, emo­tio­na­le Bewäl­ti­gung, psy­chi­sche Grund­stim­mung, sozia­le Belas­tungs­kom­po­nen­ten) abhän­gig und wird von vie­len Fak­to­ren in der Nach­be­hand­lung modu­liert (u. a. Pro­the­sen­ver­sor­gung und ‑nut­zungs­fre­quenz, Zeit­raum nach der Ampu­ta­ti­on, indi­vi­du­ell wirk­sa­me The­ra­pie­me­tho­den). Mit C.A.L.A. las­sen sich nicht alle die­se Ein­fluss­fak­to­ren detail­liert erfas­sen und abbil­den, doch die Appli­ka­ti­on wird ste­tig wei­ter­ent­wi­ckelt, um sich dem Bedarf der Nut­zer und Pati­en­ten anzu­pas­sen. Die bis­her erho­be­nen Daten mit C.A.L.A.-Patienten las­sen zwar Kor­re­la­tio­nen erah­nen, aber ermög­li­chen noch kei­ne ein­deu­ti­gen Aus­sa­gen über signi­fi­kan­te Zusam­men­hän­ge zur Phan­tom­schmerz-Ent­wick­lung im The­ra­pie­ver­lauf unter Ein­satz spe­zi­fi­scher Behand­lungs­me­tho­den oder Schaft­ver­sor­gun­gen. Um die­se noch gro­ße wis­sen­schaft­li­che Lücke zum Ver­ständ­nis des Phan­tom­schmer­zes zu schlie­ßen, stre­ben wir in den nächs­ten Jah­ren den Auf­bau einer umfang­rei­chen anony­mi­sier­ten Pati­en­ten­da­ten­bank auf der Basis einer mul­ti­zen­tri­schen Nut­zung der C.A.L.A.-Applikation an. Idea­ler­wei­se kön­nen mit ent­spre­chen­den Daten­bank­ein­trä­gen eini­ge der oben ange­spro­che­nen Fak­to­ren kon­kre­ti­siert wer­den, sodass eine noch geziel­te­re The­ra­pie für betrof­fe­ne Pati­en­ten mit Phan­tom­schmer­zen mög­lich ist.

Fazit und Ausblick

C.A.L.A. (Com­pu­ter Assis­ted Limb Assess­ment) ist eine Anwen­dung, die die Doku­men­ta­ti­on und Visua­li­sie­rung von Phan­tom­emp­fin­dun­gen und ‑schmerz sowie die Quan­ti­fi­zie­rung des sicht­ba­ren und unsicht­ba­ren Kör­per­bil­des von Pati­en­ten ermög­licht. Dar­über hin­aus kann es auf­grund der Modu­la­ri­tät der Funk­tio­nen zur Doku­men­ta­ti­on wei­te­rer Pati­en­ten­ko­hor­ten ein­ge­setzt wer­den, wie bei CRPS oder neu­ro­pa­thi­schen Beschwer­den. Da der­zeit vie­le hand­schrift­lich auf Body­charts erfass­te Patho­lo­gien nicht digi­ta­li­siert wer­den, ermög­licht C.A.L.A. eine dau­er­haft ver­füg­ba­re und jeder­zeit auch spä­ter abruf­ba­re digi­ta­le Alter­na­ti­ve. C.A.L.A. kann als deskrip­ti­ve und quan­ti­fi­zie­ren­de Doku­men­ta­ti­ons­me­tho­de ver­wen­det wer­den; die Visua­li­sie­rung des Kör­per­bil­des kann dabei hel­fen, die Lücke zwi­schen der Wahr­neh­mung des Pati­en­ten und der Vor­stel­lung des Anwen­ders zu schlie­ßen und den wei­te­ren Behand­lungs­ver­lauf beeinflussen.

Inter­es­sens­kon­flikt

Die Autoren haben kei­ne Interessenskonflikte.

Für die Autoren:
Dr. Cosi­ma Prahm, Msc BA

BG Kli­nik Tübingen
Schnar­ren­berg­str. 95
72076 Tübin­gen
cosima.prahm@med.uni-tuebingen.de
www.playbionic.org

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

1 BG Unfall­kli­nik Tübin­gen, Kli­nik für Hand‑, Plas­ti­sche, Rekon­struk­ti­ve und Ver­bren­nungs­chir­ur­gie, Uni­ver­si­tät Tübingen

2 Ortho­pä­die Bril­lin­ger GmbH & Co. KG, Tübingen

Zita­ti­on
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