Nutzer:innen stel­len Exo­ske­lett selbst ein

Damit ein Exoskelett optimal unterstützt, sind komplexe Einstellungen durch Expert:innen erforderlich. Ein Forschungsteam der University of Michigan und der Universität Stuttgart hat nun ein Verfahren entwickelt, mit dem Nutzer:innen diese Einstellungen selbst vornehmen können – und das in weniger als zwei Minuten. Wie das funktioniert, erläutert Prof. Dr. C. David Remy vom Institut für Nichtlineare Mechanik der Universität Stuttgart als Co-Autor der Studie.

OT: Wie ist die Idee zur Stu­die entstanden?

David Remy: Exo­ske­let­te wer­den bis­lang von Expert:innen anhand sub­jek­ti­ver Kri­te­ri­en ein­ge­stellt, also aus einer Außen­sicht. Man­che Kri­te­ri­en, wie zum Bei­spiel den Ener­gie­ver­brauch zu sen­ken, las­sen sich dabei auch quan­ti­ta­tiv und auto­ma­tisch erfas­sen und opti­mie­ren. Hier stellt sich aber die Fra­ge: Was will man eigent­lich? Will man tat­säch­lich den Ener­gie­ver­brauch mini­mie­ren, das Gelenk ent­las­ten, den Kom­fort erhö­hen oder errei­chen, dass sich die Nutzer:innen wohl­füh­len? Unse­re Idee ist es, die Nutzer:innen in den Vor­der­grund zu stel­len und sie selbst ent­schei­den zu las­sen, wel­che Funk­tio­nen für sie am wich­tigs­ten sind.

OT: Mit wel­chen Fra­ge­stel­lun­gen sind Sie an die Stu­die herangegangen?

Remy: Wir haben uns gefragt, ob die Nutzer:innen es tat­säch­lich schaf­fen, das Exo­ske­lett in abseh­ba­rer Zeit selbst ein­zu­stel­len. Und ob sie dabei ver­läss­lich sind. Also, ob sie bei wie­der­hol­ten Durch­gän­gen auch immer wie­der die glei­chen Ein­stel­lun­gen wäh­len oder aber verschiedene.

OT: Wie war die Stu­die aufgebaut?

Remy: Es gab zwei Grup­pen mit jeweils zwölf Teilneh­mer:innen. Die eine Grup­pe hat­te noch nie ein Exo­ske­lett benutzt, die ande­re hat­te Vor­er­fah­run­gen. Aus­ge­stat­tet mit Sprung­ge­lenks-Exo­ske­let­ten lie­fen die Proband:innen auf einem Lauf­band. Auf einem Touch­screen konn­ten die Teilnehmer:innen belie­bi­ge Punk­te aus­wäh­len. Dadurch wur­den sowohl die Stär­ke der Unter­stüt­zung als auch der Zeit­punkt der maxi­ma­len Unter­stüt­zung ver­än­dert, also zwei Para­me­ter, die steu­ern, wie sich die Unter­stüt­zung anfühlt. Die Aus­wahl der Punk­te hat dann zu einer bestimm­ten, indi­vi­du­el­len Ein­stel­lung geführt. Wir haben den Proband:innen – das war sozu­sa­gen ein klei­ner Trick – ganz bewusst nicht gesagt, wie das Map­ping zwi­schen Punk­ten auf dem Tablet und Ein­stel­lun­gen aus­sieht und zwi­schen den ein­zel­nen Durch­gän­gen die Ach­sen, also Stär­ke und Zeit­punkt, ver­tauscht oder gedreht, damit sie nicht immer auf die glei­chen Punk­te kli­cken wie bei den vor­he­ri­gen Durch­gän­gen. Wir haben wenig Anwei­sun­gen gege­ben. Es ging dar­um, dass sich die Proband:innen aus­pro­bie­ren kön­nen, aus dem Gefühl her­aus entscheiden.

Unter­schied­li­che Vorlieben

OT: Wel­che Ergeb­nis­se lie­fer­te die Studie?

Remy: Das wohl wich­tigs­te Ergeb­nis für uns: Es hat funk­tio­niert (lacht). Inner­halb von durch­schnitt­lich 1:45 Minu­ten sind die Nutzer:innen auf eine Ein­stel­lung gekom­men. Und das haben sie sehr ver­läss­lich gemacht. Die Abwei­chun­gen zwi­schen den ver­schie­de­nen Durch­gän­gen waren mini­mal. Es wur­de zudem deut­lich, dass die Nutzer:innen unter­schied­li­che Vor­lie­ben haben. Man­che woll­ten viel Unter­stüt­zung, man­che fast gar kei­ne. Es zeig­ten sich auch Unter­schie­de zwi­schen den bei­den Grup­pen. Die­je­ni­gen, die schon Erfah­rung mit Exo­ske­let­ten hat­ten, woll­ten mehr Unter­stüt­zung als die­je­ni­gen ohne Vor­er­fah­rung. Was sich eben­falls her­aus­stell­te: Gegen Ende hin woll­ten die Nutzer:innen mehr Unter­stüt­zung. Vor­lie­be ist also etwas, das dyna­misch ist, sich mit der Zeit ver­än­dert. Die Haupt­er­geb­nis­se waren also kurz gesagt: Es funk­tio­niert, es funk­tio­niert schnell und ver­läss­lich und es erscheint not­wen­dig, weil es indi­vi­du­el­le Unter­schie­de gibt.

OT: Gab es Überraschungen?

Remy: Als Wis­sen­schaft­ler hat es mich über­rascht, dass es so gut funk­tio­niert. Denn auch wir – wie vie­le ande­re Wissenschaftler:innen – haben gedacht, dass wir immer objek­ti­ve, mess­ba­re Kri­te­ri­en brau­chen und haben lan­ge igno­riert, die Betrof­fe­nen als Daten­quel­le nut­zen zu kön­nen. Wir waren uns unsi­cher, ob sie ver­läss­li­che Infor­ma­tio­nen lie­fern. Im Nach­hin­ein scheint es logisch, aber es hät­ten vie­le unter­schied­li­che Ergeb­nis­se her­aus­kom­men kön­nen, zum Bei­spiel, dass die Nutzer:innen bei jedem Durch­gang ande­re Ein­stel­lun­gen aus­wäh­len. Mich hat wirk­lich über­rascht, wie ziel­stre­big und prä­zi­se die Teilnehmer:innen die für sie pas­sen­de Ein­stel­lung gefun­den haben. Was mich auch gewun­dert hat: Nahe­zu alle, also 23 von 24 Per­so­nen, woll­ten Unter­stüt­zung. Und das ist nicht selbst­ver­ständ­lich. Gera­de wenn man noch nie in einem Exo­ske­lett gestan­den hat, liegt es nahe, das Sys­tem kom­plett aus­zu­schal­ten, weil sich das Gehen dann gewohnt und somit am bes­ten anfühlt. Und es gab noch eine wei­te­re Über­ra­schung: Man könn­te den­ken, Exo­ske­let­te unter­lie­gen den glei­chen Trends wie der Mensch selbst. Wir wis­sen: Je schnel­ler jemand läuft, des­to mehr müs­sen die Waden­mus­keln arbei­ten. Heißt, wenn der Mensch nicht mehr einen Meter pro Sekun­de läuft, son­dern sich auf 1,4 Meter pro Sekun­de stei­gert, braucht er 15 Pro­zent mehr Dreh­mo­ment, der Mus­kel macht also 15 Pro­zent mehr. Wir haben erwar­tet, dass das Glei­che für Exo­ske­let­te gilt, also dass die Nutzer:innen 15 Pro­zent mehr Dreh­mo­ment vom Exo­ske­lett wol­len. Woll­ten sie aber nicht. Hier liegt der Wert bei nur 6,5 Pro­zent. Das ist bemer­kens­wert. Denn es wür­de leich­ter fal­len zu sagen: Wir ver­su­chen den mensch­li­chen Kör­per zu repli­zie­ren, also ein Gerät zu ent­wi­ckeln, das genau das Glei­che wie die­ser macht. Die Mög­lich­keit, die Bio­me­cha­nik zu imi­tie­ren, wird grund­sätz­lich gern her­an­ge­zo­gen. Doch hier haben wir gese­hen: Das ist nicht der opti­ma­le Ansatz.

OT: Wie erklä­ren Sie sich das?

Remy: Eine mög­li­che Erklä­rung ist, dass der Kör­per natür­lich Gren­zen hat. Bio­me­cha­nisch bedingt ist es am bes­ten, wenn der Mensch mög­lichst viel Bewe­gung aus dem Sprung­ge­lenk erzeugt. Wären hier aber zu vie­le Mus­keln, hät­te das auch wie­der Nach­tei­le. An vor­an­ge­gan­ge­ne Stu­di­en, bei denen Per­so­nen durch Exo­ske­let­te am Sprung­ge­lenk unter­stützt wur­den, sind wir ursprüng­lich mit der Erwar­tung her­an­ge­gan­gen: Wenn das Exo­ske­lett Unter­stüt­zung bringt, dann fährt der Mensch sein Sprung­ge­lenk her­un­ter. Was aber her­aus­kam, ist, dass der Mensch sein Sprung­ge­lenk anschal­tet, aber den Bei­trag an der Hüf­te her­un­ter­fährt. Und zwar weil das der effi­zi­en­te­re Ansatz ist. Das ist also eine mög­li­che Erklä­rung für das Ergeb­nis unse­rer Stu­die: Der mensch­li­che Kör­per kann nicht immer all das, was er möch­te. Es gibt vie­le ande­re Rah­men­be­din­gun­gen wie die Gewichts­ver­tei­lung, die Durch­blu­tung, die gewähr­leis­tet sein muss, und die Gelen­ke, die die Belas­tung aus­hal­ten müs­sen. Es ist aber auch mög­lich, dass der Mensch bei höhe­ren Geschwin­dig­kei­ten ande­re Prio­ri­tä­ten setzt und z. B. Sta­bi­li­tät höher bewertet.

Mensch steht im Mittelpunkt

OT: An der Stu­die haben nur Proband:innen ohne kör­per­li­che Ein­schrän­kun­gen teil­ge­nom­men. Sind die Ergeb­nis­se auch auf Men­schen mit Ein­schrän­kun­gen übertragbar?

Remy: Ich glau­be schon. Es geht bei dem Ansatz ja um die Fra­ge, ob der Mensch in der Lage ist, Unter­schie­de zu spü­ren, ein­zu­ord­nen und dar­aus Schlüs­se zu zie­hen. Das kann jemand, der eine Behin­de­rung hat genau­so gut.

OT: Wel­che Vor­tei­le bringt die Selbst­jus­tie­rung von Exo­ske­let­ten für die Nutzer:innen und die Ver­sor­ger mit sich?

Remy: Es gibt vie­le Vor­tei­le, ein­fach dadurch, dass man den Men­schen in den Mit­tel­punkt stellt. Es braucht kei­ne Expert:innen für die Ein­stel­lung, die Nutzer:innen kön­nen die Ein­stel­lung jeden Tag und in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen – wie bei­spiels­wei­se auf der Arbeit oder zu Hau­se – ändern. Das erleich­tert die Arbeit der Expert:innen aus Ärz­te­schaft, The­ra­pie und Hand­werk. Sie unter­stüt­zen durch ihren Blick von außen zwar nach wie vor. Was aber weg­fällt, ist der Feed­back Cycle.

OT: Was bedeu­tet das für die Kostenträger?

Remy: Ver­mut­lich eine Kos­ten­re­duk­ti­on. Benö­ti­gen die Expert:innen bis­lang ein paar Stun­den, ist die Ein­stel­lung nun in rund 15 Minu­ten gemacht. Und: Man muss es nicht wie­der­holt machen und die Ein­stel­lung nach ein paar Wochen wie­der anpassen.

OT: Kann die Selbst­jus­tie­rung von Exo­ske­let­ten auch Nach­tei­le haben oder gibt es Grenzen?

Remy: Das ist eine Fra­ge der Inten­ti­on, hängt also davon ab, was man damit errei­chen möch­te. Wenn jemand eine blei­ben­de Behin­de­rung hat und es kei­ne Aus­sicht auf Bes­se­rung gibt, dann ist die­ses Ver­fah­ren opti­mal, da es die best­mög­li­che Unter­stüt­zung gibt. Anders ver­hält es sich bei Per­so­nen, die in Reha­bi­li­ta­ti­on sind und trai­nie­ren sol­len. Durch das Exo­ske­lett soll ihnen natür­lich gehol­fen wer­den zu lau­fen. Man möch­te ihnen aber auch nicht alles abneh­men, son­dern sie her­aus­for­dern. Des­we­gen stellt sich hier die Fra­ge: Wie viel Kon­trol­le möch­te man den Betrof­fe­nen geben und wann ist es sinn­voll, Ärzt:innen oder Techniker:innen hin­zu­zu­zie­hen, um die Patient:innen zu för­dern und auch zu fordern?

OT: Heißt, für die Nutzer:innen ist nicht immer das am bes­ten, was sie als am bes­ten empfinden?

Remy: Genau. Slack­ing (engl. „to slack off“ = nach­läs­sig wer­den,  Anm. d. Red.) heißt das Phä­no­men in der Bio­me­cha­nik. Der mensch­li­che Kör­per ist faul. Wir sind evo­lu­tio­när bedingt dar­auf aus­ge­rich­tet, uns mög­lichst wenig zu bewe­gen und wenig Ener­gie zu ver­brau­chen. Aber wenn es dar­um geht, Mus­kel­mas­se auf­zu­bau­en oder die Koor­di­na­ti­on zu trai­nie­ren, ist die­ser Mecha­nis­mus nicht hilf­reich. Es kann also Unter­schie­de geben zwi­schen dem, was die Nutzer:innen für gut befin­den und dem, was die Expert:innen für rich­tig halten.

Nutzer:innen als ver­läss­li­che Datenquelle

OT: Wel­che Schrit­te las­sen sich aus den Ergeb­nis­sen ableiten?

Remy: Wir kön­nen die Nutzer:innen in den Pro­zess mit­ein­be­zie­hen und sie als – und das ist das Stich­wort – ver­läss­li­che Daten­quel­le nutzen.

OT: Haben die Stu­di­en­ergeb­nis­se wei­te­re Fra­gen auf­ge­wor­fen, die in Fol­ge­stu­di­en beant­wor­tet wer­den könnten?

Remy: Uner­forscht ist noch, war­um Nutzer:innen bestimm­te Ein­stel­lun­gen wäh­len. Geht es dar­um, den Ener­gie­ver­brauch zu mini­mie­ren, geht es um den Kom­fort oder die Sta­bi­li­tät? Dafür könn­te in einem nächs­ten Schritt zum Bei­spiel eine Nut­zer­be­fra­gung durch­ge­führt wer­den. Auch könn­te unter­sucht wer­den, wie sich die­se Prä­fe­ren­zen auf ihren Ener­gie­ver­brauch, ihre Mus­kel­ak­ti­vi­tät und ihre Phy­sio­lo­gie auswirken.

OT: Für die Stu­die kamen Exo­ske­let­te für das Sprung­ge­lenk zum Ein­satz. Ist das Sys­tem auch auf wei­te­re Kör­per­be­rei­che anwendbar?

Remy: Ja, die Stu­die, die wir gemacht haben, ist unab­hän­gig vom Kör­per­teil. Es ist eher eine Fra­ge der Kom­ple­xi­tät. Am Sprung­ge­lenk gab es die zwei genann­ten Ein­stel­lungs­pa­ra­me­ter, die sich auf dem Tablet gut abbil­den lie­ßen. Bei einem Ganz­kör­per­ex­o­ske­lett gibt es aber viel­leicht dut­zen­de Para­me­ter, die berück­sich­tigt und abge­bil­det wer­den müssten.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

 

 

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