Er kam, ähnlich wie viele andere Referent:innen, trotz der 120 Extrasekunden in Zeitnot mit seinem Vortrag. 15 Minuten Redezeit pro Referent:in mit einer anschließenden Diskussionsrunde aller Vortragenden am Ende eines Themenblocks hatten die Organisatoren im gut gefüllten Tagesprogramm eingeplant. Diese Viertelstunde – so eine Lehre aus der Veranstaltung – war aber oft zu kurz für die inhaltlich gut vorbereiteten Vorträge. So musste Dr. Hömme an der ein oder anderen Stelle die Referent:innen dazu aufrufen, die Vorträge nicht zu sehr zu überziehen.
Trotz der weitestgehend aufgehobenen Pandemieeinschränkungen hatten sich die Organisatoren erneut für ein rein digitales Konzept entschieden. Dr. Hömme erklärte, dass die Entscheidung vor allem auf zwei Faktoren beruht habe. Einerseits konnten die Seminarteilnehmenden so flexibler ihre Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen planen und brauchten keinen Reisestress auf sich zu nehmen und andererseits wurden dank der digitalen Variante deutschlandweit namhafte Referent:innen gewonnen, die ebenfalls wegen der größeren zeitlichen Flexibilität schneller ihre Zusagen gaben.
Hochwertige Versorgung beflügelt Wahrnehmung
Der Auftakt gehörte, wie bereits erwähnt, Dr. Bertolt Meyer. Als einer der Keynote-Speaker der OTWorld 2022 war er sicherlich einigen Teilnehmenden bekannt. In seinem Vortrag ging Meyer unter anderem auf sein Selbstverständnis als Prothesenträger ein. Er sei „Kunde“ und möchte auch so in einem Sanitätshaus behandelt werden. „Ich bin nicht krank“, lautete eine weitere Aussage Meyers, die darauf abzielt, dass er von seinem Orthopädietechniker vor allem eine Dienstleistung erwarte, bei der der Servicegedanke im Vordergrund stehe. Neben seiner persönlichen Erfahrung berichtete Meyer von einer seiner Studien, bei der es um die Wahrnehmung von Menschen mit bionischen Prothesen geht. Laut Meyer kann man die Wahrnehmung auf die vier Faktoren warm, kalt, inkompetent und kompetent reduzieren. Bänker seien zum Beispiel in der Betrachtung emotional kalt, aber zeitgleich auch kompetent. Bei Menschen mit Amputationen und einer normalen oder ausbleibenden Prothesenversorgung werde den Betroffenen zwar eine emotionale Wärme zugeschrieben, die Kompetenz aber abgesprochen. „Das sind die klassischen ‚Behindis’“,so Meyer überspitzt. Mit einer bionischen Prothesenversorgung würde das wahrgenommene Bild des Menschen mit Handicap allerdings schlagartig zu warm und kompetent – nahe der Wahrnehmung von einem Menschen ohne Behinderung – wechseln. Prof. Meyer kritisierte zudem, dass der Fokus in Deutschland zu sehr auf einen technischen Behinderungsausgleich gelegt werde. Dabei spielen hochwertige und moderne Versorgungen, die auch optisch ansprechend sind, eine große Rolle dabei, wie die Prothesenträger:innen wahrgenommen werden.
Tradition im Handwerk wird digitalisiert
Einen gedanklichen Sprung von der Psychologie zum Handwerk mussten die Zuhörer:innen machen, als Rafael Olkusznik, Referent Technologietransfer/Digitalisierung bei der Landes-Gewerbeförderungsstelle des nordrhein-westfälischen Handwerks, den digitalen Staffelstab übernahm. Er zeigte anhand eines Schmieds, wie sich in den vergangenen Jahren der Wandel im Handwerk rapide beschleunigte. Außerdem warb er darum, die Digitalisierung als Bereicherung für das Handwerk zu verstehen – sozusagen das Beste aus zwei Welten. Olkusznik machte klar, dass er einzelne Berufsgruppen durch die Digitalisierung vor dem Aus sieht – Handwerker:innen würden nicht dazu gehören. „Manuelle Tätigkeiten werden noch lange Zeit nicht durch Maschinen ersetzt werden“, ist sich Olkusznik sicher. Wie Handwerk und Digitalisierung miteinander harmonieren, das stellte Olkusznik mit einigen Beispielen aus verschiedenen Gewerken vor. Sein Fazit: „Unser Leben ist digital geworden. Es erfordert neues Wissen. Es erfordert Lern- und Einrichtungszeit und es kostet. Aber: Es vereinfacht vieles, es macht uns flexibler und eröffnet neue Möglichkeiten. Vor allem im Handwerk.“
Fachkräftemangel mit Digitalisierung begegnen
Einen Blick über den Tellerrand der deutschen Orthopädie-Technik bot Makram Tebbi. Der gebürtige Stuttgarter, der 2009 zunächst nach Saudi-Arabien ging und seit 2017 in Qatar erfolgreich arbeitet, gewährte einen Einblick in seine Werkstatt. Denn: Tebbi musste sich schon frühzeitig Gedanken machen, wie er den Mangel an qualifizierten Fachkräften mit innovativen Lösungen wettmacht. Sein Ansatz in Qatar ist es, konsequent auf die Digitalisierung zu setzen. Da der Ausbildungsstandard vor Ort nicht definiert ist und die Arbeitskräfte mit einem sehr heterogenen Wissensstand versorgen, musste Tebbi eine Lösung finden, wie einerseits alle auf einen Wissensstand gehoben werden, wie Versorgung durchgeführt wird, und gleichzeitig eine Dokumentation entsteht. Er entschied sich für ein System namens Elam. Jeder Arbeitsplatz wird mit diesem System ausgestattet. So können die Techniker den Auftrag und die Versorgung sehen und welche Schritte sie vornehmen müssen. Hilfs- und Erklärvideos sorgen dafür, dass die Techniker die einzelnen Arbeitsschritte noch einmal vor Augen geführt bekommen. Außerdem wird gleichzeitig dokumentiert, welcher Techniker welche Versorgung erledigt. Der Vorteil dieser Arbeitsstationen liegt auf der Hand: Auch Arbeitskräfte mit weniger guter Ausbildung können dank des Systems Teilarbeiten übernehmen und so zu einer erfolgreichen Versorgung beitragen.
Etwas mehr werkstatttauglich war beispielsweise der Beitrag von Alexander Krieger, Entwicklungsingenieur, Häussler Technische Orthopädie. Krieger stellte Scanhilfen zur digitalen Scanerstellung im Versorgungsalltag vor. Praxisnah und detailliert wurden die Vorteile der Scanhilfen gegenüber den Nachteilen dargestellt. Vor allem der modulare Aufbau der Scanhilfen und die damit verbundene Flexibilität waren ein Vorteil des vorgestellten Models ebenso wie das integrierte Targettracking und die flexible Funktionsstellung.
Datenschutz im Blick behalten
Dr. Bernhard Hofmann, Dr. Hofmann & Collegen, Darmstadt, gab einen Einblick darin, was die Europäische Medizinprodukte-Verordnung (MDR) für die Additive Fertigung in der Orthopädie-Technik bedeutet. „Was in den Regularien nicht als Kriterium auftaucht, ist das Herstellungsverfahren. Die gute Nachricht ist also: Orthesen und Prothesen aus Additiver Fertigung können genauso Medizinprodukte sein wie die, die in anderen Verfahren hergestellt werden“, erläuterte Hofmann. Vor dem Hintergrund, dass bei Sonderanfertigungen die Zulassungsvoraussetzungen einfacher sind, stellte Hofmann die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Produkte aus additiven Herstellungsverfahren noch als Sonderanfertigungen oder bereits als Serienprodukte gelten. Laut MDR und Medical Device Coordination Group (MDCG) muss für eine Sonderanfertigung eine schriftliche Verordnung für einen individuellen Patienten oder eine Patientin vorliegen – und das gelte unabhängig vom Herstellungsverfahren. Auch wenn ein individuelles Produkt gemäß einer schriftlichen Verordnung noch einmal als Folgeversorgung für denselben Patienten oder dieselbe Patientin gedruckt würde, handele es sich dabei ebenfalls um eine Sonderanfertigung. Hofmann empfahl zudem – da auch additive Fertigungsverfahren mit individuellen Gesundheitsdaten arbeiten –, die Anforderungen an den Datenschutz nicht aus dem Blick zu verlieren. „Ich möchte dringend anraten, dass Sie Rücksprache mit Ihrem Datenschutzbeauftragten halten.“
Nachhaltige Materialien
Mit branchenübergreifendem Blick bot Dr. Tobias Zehnder, Projektmanager Technologie bei Bayern Innovativ, Nürnberg, den Teilnehmenden mögliche Anknüpfungspunkte für den Einsatz nachhaltiger Materialien in der Orthopädie-Technik. Was macht die Additive Fertigung eigentlich nachhaltig? Laut Zehnder sind dabei folgende Aspekte besonders relevant: Das Material werde ressourcenschonend eingesetzt. Zudem ermögliche die dezentrale Produktion geringe Transportkosten und eine schnellere Lieferung, bediene den Trend zur Individualisierung und – das habe die Corona-Pandemie vor Augen geführt – erlaube den Aufbau resilienter Lieferketten. Damit verknüpft sei das Thema On-demand-Fertigung. Heißt, es werden nur dann Produkte gefertigt, wenn sie vom Kunden angefragt werden. Ein weiterer Aspekt: „Die Additive Fertigung bietet Designfreiheit“, betonte Zehnder. Eine nachhaltige Materialbasis zu schaffen sei möglich, indem bestehende Materialien durch Recycling in der Kreislaufwirtschaft behalten werden, zum Beispiel durch die Verarbeitung von „Ocean Plastic“ oder Abfällen aus der Industrie. Neben recyclebaren Kunststoffen wie TPU‑R und HIPS‑R sei es auch denkbar Metallabfälle zu recyclen. „Zurück zur Natur“ überschrieb Zehnder eine zweite Variante und meinte damit die Verwendung biobasierter Materialien. Eine Alternative zu Polyamid stellen zum Beispiel solche auf Basis von Rizinusbohnenöl dar. Auch mit Reststoffen wie Sägespänen oder Lignin experimentieren Firmen. Ebenso nannte Zehnder mit Miscanthus (Chinaschilf) und Krabbenschalen weitere denkbare Materialien. „Additive Fertigung bietet ein großes Potenzial für nachhaltige Produkte der Zukunft“, zeigte sich Zehnder überzeugt. Noch gebe es aber zu wenig Materialien zur Auswahl im Vergleich zu anderen Fertigungsprozessen. „Es müssen noch viele neue Materialien, die spezifisch auf einen Prozess angepasst sind, entwickelt werden“, so Zehnder und empfahl, dabei immer den Aspekt der Nachhaltigkeit mitzudenken.
„Die Multimaterialverarbeitung ist ein extrem spannendes Zukunftsfeld“
In der anschließenden Diskussionsrunde kam aus dem Teilnehmerkreis die Frage auf, welche Materialien grundsätzlich die spannendste Entwicklung vor sich haben. U. a. Kupfer hatte Prof. Dr.-Ing. Jan Sehrt, Ruhr-Universität Bochum, – auch im Hinblick auf die Energiewende – in seinem Vortrag bereits erwähnt. Lange habe er gedacht, dass mit Stahl nicht mehr viel zu holen sei. „Das ist aber so nicht wahr. Es gibt Systeme und Legierungen, die eine so hohe Festigung und Härte haben, dass sie ausschließlich über additive Verfahren herstellbar sind“, sagte Sehrt. Großes Potenzial sieht er vor allem in der hybriden Gestaltung: „Die Multimaterialverarbeitung ist ein extrem spannendes Zukunftsfeld, in dem viel geforscht wird.“
Anhand von Patientenbeispielen präsentierte Maria Köhlitz, Sanitätshaus Klinz, Bernburg, die Vorzüge des FDM-Drucks in der Orthopädie-Technik, sowohl im Bereich der oberen als auch der unteren Extremitäten. Egal ob Fingerschiene, Handorthese, Unterschenkelprothese oder Schutzhelm – das Sanitätshaus nutzt dieses Verfahren zur Herstellung zahlreicher Versorgungen. Die Gründe liegen für Köhlitz auf der Hand. „Der Anschaffungspreis einer FDM-Maschine ist günstig. Man kann Bausätze ab wenigen hundert Euro erhalten. Bei qualitativ hochwertigen Druckern liegt man im vier- oder fünfstelligen Bereich. Und: Eine FDM-Maschine ist platzsparend. Die passt auf jeden Schreibtisch.“ Hervorzuheben sei auch die große Bandbreite an Materialien, deren Eigenschaften wie Farben, Festigkeit oder Hitzebeständigkeit je nach Bedarf ausgewählt werden können. Ebenfalls schätzt sie die Möglichkeit, Sofortversorgungen sowie Probeversorgungen durchzuführen. „Ich habe auch eine Zeitersparnis bei der Gipsmodellierung im Hinblick auf Spiegelung und Vervielfältigung.“ Die gute thermoplastische Verformbarkeit sowie die Biokompatibilität – gedruckt wird bei Klinz mit PLA – nannte sie als weitere Vorteile der Materialien. Denen gegenüber stellte Köhlitz einige Nachteile, wie die Notwendigkeit von Stützen – „Wie setze ich diese, sodass sie nicht in den Druckbereich reinkommen?“ – sowie die anisotropen, also richtungsabhängigen Eigenschaften. Köhlitz riet den Teilnehmenden dazu, sich im Vorfeld einer jeden Versorgung folgende Fragen zu stellen: Welches Hilfsmittel brauche ich? Welches Verfahren ist am besten geeignet? Und: Muss das Produkt überhaupt gedruckt werden oder kann es auch konventionell hergestellt werden? Für Köhlitz auch eine Frage der Wirtschaftlichkeit.
Ein Aspekt, der den Teilnehmenden nicht nur nach diesem Vortrag unter den Nägeln brannte: Gibt es bei der Kostenübernahme von 3D-gedruckten Produkten Probleme? Hier herrschte in der Runde Einigkeit – auch darüber, das klare Nein nicht weiterauszuführen.
Dr. Ann-Kathrin Hömme bilanzierte: „Wir haben uns in den zwei Tagen des Seminars auf den Weg durch die Digitale Fertigung gemacht. Dabei haben wir spannende Vorträge gehört und viele Einblicke in einzelne Aspekte der Digitalisierung erhalten. Im Auftakt haben wir uns mit den Einflüssen und den Folgen der Digitalisierung auf uns, unsere Psyche und unser Umfeld beschäftigt. Wir haben gesehen, was um uns herum in anderen Gewerken, aber auch direkt in unserem Fach Digitalisierung jetzt und heute bedeutet. Wir haben den Weg von den Grundlagen der Oberflächenerfassung, den zugehörigen Technologien und Positionierungshilfen bis hin zu zukünftigen Technologien bestritten und uns dann mit der digitalen Modellierung auseinandergesetzt. Uns wurden die verschiedenen Aspekte der Qualitätssicherung im Kontext der Digitalen Fertigung vorgestellt und im Themenblock ‚Materialien’ haben wir einen Eindruck von den additiven Verfahren, dem Thema Nachhaltigkeit und Materialien heute und morgen gewinnen können. Danach haben wir einen Einblick in aktuelle Projekte und Innovationen verschiedener OT-Unternehmen erhalten und praxisnahe Fragen diskutiert. Im letzten Seminarblock haben wir unseren Blick noch einmal auf andere Bereiche der Digitalen Fertigung gelenkt und Eindrücke von bedruckten Textilien bis hin zum Einsatz von biomechanischer Robotik gesammelt. Es waren zwei spannende Tage im Namen der Digitalen Fertigung mit 32 Referent:innen und über 80 Teilnehmer:innen. Ich freue mich, dass wir eine so spannende Mischung an Referent:innen und Vorträgen realisieren konnten. Aus unserer Sicht war es eine gelungene Veranstaltung.“ Neben Hömme waren Juliana Ditsche, Marianne Süßmuth und Martin Busse aus dem Bufa-Team an der erfolgreichen Umsetzung des Seminars beteiligt.
Heiko Cordes, Pia Engelbrecht
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