Wert­dis­kus­si­on statt Preisdebatte

Das deutsche Gesundheitssystem braucht einen Restart – mit weniger Bürokratie, mehr Mitbestimmung der Patient:innen, besserer Koordination und Kooperation. So könnte das Resümee des Branchenpolitischen Forums am ersten Tag der OTWorld lauten, das den Finger gleich in mehrere Wunden legte. Und eine der größten hieß: Digitalisierung.

Am Diens­tag war Mur­mel­tier­tag. Die unto­ten The­men der Gesund­heits­bran­che tauch­ten aus ihren Kis­ten auf: über­bor­den­de Büro­kra­tie, nur schlep­pen­de bzw. teil­wei­se funk­tio­nie­ren­de Digi­ta­li­sie­rung, kaum Mit­spra­che für Patient:innen bei gesund­heits­po­li­ti­schen Rich­tungs­ent­schei­dun­gen, zu wenig Ver­sor­gungs­for­schung … Unter dem Mot­to „Ver­ant­wor­tung“ brach­te das Bran­chen­po­li­ti­sche Forum und in per­so­na Mode­ra­tor und Jour­na­list Hen­ning Quanz all die­se Wie­der­gän­ger auf den Tisch, die nicht nur die Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger seit Jah­ren plagen.

Anzei­ge

Intrans­pa­renz im System

„Wir geben der­zeit mehr Geld aus, als wir ein­neh­men“, erklär­te Rai­ner Sbrzes­ny, Refe­rent im Arbeits­stab der Pati­en­ten­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung, der aus Ber­lin zum Podi­um „Qua­li­täts­ge­si­cher­te und fach­ge­rech­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung in Deutsch­land: Wer steht in der Ver­ant­wor­tung?“ zuge­schal­tet war. Man gehe an die Reser­ven – und die sei­en auch bald ver­braucht. Des­halb müs­se sich die Ver­sor­gung von der Men­gen- hin zur Pati­en­ten­zen­trie­rung bewe­gen. So wür­den zum Bei­spiel 30 Pro­zent der ver­schrie­be­nen Medi­ka­men­te gar nicht ein­ge­nom­men – ein wahn­sin­ni­ges Ein­spar­po­ten­zi­al. Zudem gebe es vie­le Stel­len, wo die Pati­en­ten­sicht eine Rol­le spie­len könn­te, wie Sbrzes­ny sag­te. Auch der Koali­ti­ons­ver­trag der aktu­el­len Bun­des­re­gie­rung for­dert ja, die Pati­en­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen zu stär­ken. Fra­gen wie „Von wem bekom­me ich was, wer hat die bes­te Qua­li­tät?“ sei­en für die Patient:innen nur schwer zu beant­wor­ten: „Wir haben ein sehr intrans­pa­ren­tes Sys­tem.“ „Unfass­bar“ bei­spiels­wei­se, dass bis dato kei­ne Daten über bar­rie­re­freie Arzt­pra­xen in Deutsch­land vor­ge­le­gen hät­ten. Ziel müs­se sein, „unnö­ti­ge Such­be­we­gun­gen“ zu  ver­rin­gern, so Sbrzes­ny. Mehr Ver­zah­nung bei der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung müs­se kom­men, hieß es eben­falls sei­tens Car­la Mey­er­hoff-Grien­ber­ger, Refe­rats­lei­te­rin beim Spit­zen­ver­band Bund der Kran­ken­kas­sen, Fach­ge­biet Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Bei 28 Mil­lio­nen Hilfs­mit­tel­ver­ord­nun­gen pro Jahr gebe es zwar Mög­lich­kei­ten des Büro­kra­tie­ab­baus, so Mey­er­hoff-Grien­ber­ger. Aber bei nur vier Pro­zent Anteil an den Gesamt­aus­ga­ben der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung sei­en mone­tä­re Ein­spa­run­gen kein beson­ders gro­ßer Hebel in der Gesamt­rech­nung: „Wir wol­len auch kei­ne Qua­li­täts­ver­lus­te und kei­ne Versorgungslücken.“

Wert­ba­siert denken

„Wir brau­chen eine value based medi­ci­ne“, for­der­te Prof. Dr. Joa­chim Kug­ler, Pro­fes­sor für Gesundheitswissenschaften/Public Health an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät (TU) Dres­den. Statt über Wer­te zu spre­chen wie den Zusatz­nut­zen, den die Ver­sor­gun­gen jeweils für die Patient:innen brin­gen, wer­de nur über Prei­se dis­ku­tiert. Er kri­ti­sier­te ein in Ein­zel­ab­rech­nun­gen auf­ge­split­ter­tes Ver­sor­gungs­sys­tem, das sel­ten fragt, wie es den Patient:innen eigent­lich geht. Mit „value based“ meint Prof. Kug­ler genau das: nach­zu­schau­en, wel­cher Wert an Gesund­heit bzw. Zufrie­den­heit bei den Patient:innen mit­hil­fe des aus­ge­ge­be­nen Gel­des eigent­lich geschaf­fen wur­de. Die „Krank­heit des deut­schen Gesund­heits­sys­tems“ lie­ge in der frag­men­tier­ten Ver­sor­gung, so Kug­ler. Je mehr Ein­zel­ab­rech­nun­gen, des­to mehr Büro­kra­tie. Hier brau­che es Ver­sor­gungs­teams als eine Art Gene­ral­un­ter­neh­mer­schaft. Zum Bei­spiel das Dia­be­tes­team, mit dem die Kran­ken­kas­se abrechne.

Trans­pa­renz und Kontrolle

Das Sys­tem brau­che Trans­pa­renz und Kon­trol­le, pflich­te­te eben­falls Andre­as Brand­horst bei, Lei­ter des Refe­rats 227 – Ver­trags­zahn­ärzt­li­che Ver­sor­gung, Heil­mit­tel­ver­sor­gung, Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, Ret­tungs­dienst im Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit. Seit mehr als 30 Jah­ren spie­le das The­ma Ver­net­zung eine Rol­le, man den­ke zum Bei­spiel an Ver­trä­ge zur inte­grier­ten Ver­sor­gung. Der Gesamt­cha­rak­ter des Sys­tems habe sich aber wenig geän­dert. „Die Hoff­nung, es gibt mehr Geld und dann wird das schon gemacht wer­den – die hat sich erle­digt.“ Alf Reu­ter, Prä­si­dent Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), nutz­te die Gele­gen­heit, um erneut auf die Büro­kra­tie hin­zu­wei­sen, die sei­ne Arbeit hemmt: „Ich habe zum Teil genau­so vie­le Leu­te in der Ver­wal­tung wie am Pati­en­ten.“ Bei 200 bis 250 Ver­trä­gen gel­te es den Über­blick zu behal­ten. Der Nut­zen sei­ner Arbeit indes ste­he außer Fra­ge: Er habe täg­lich „Auge in Auge“ mit den Patient:innen zu tun, so Reu­ter, beglei­ten so man­che über Jahr­zehn­te. „Wir sind ihre Pro­blem­lö­ser.“ Die Patient:innen wür­den mit den Füßen abstim­men: „Wenn das, was wir her­stel­len, kei­nen direk­ten Nut­zen hat, kom­men sie nicht mehr.“

Digi­ta­li­sie­rung – toter Tiger oder schnel­les Pferd?

Wei­ter­ge­dreht wur­de die Dis­kus­si­on um den Nut­zen des Geld­ein­sat­zes gewis­ser­ma­ßen in der zwei­ten Podi­ums­run­de des Tages „Mit Ver­ant­wor­tung die Zukunft gestal­ten: War­um tut sich Deutsch­land mit dem eRe­zept und der elek­tro­ni­schen Pati­en­ten­ak­te so schwer?“ 2003, woll­te die dama­li­ge Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­rin Ulla Schmidt eine elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te mit digi­ta­ler Pati­en­ten­ak­te ein­füh­ren. Fast 20 Jah­re spä­ter wird immer noch dar­an gewer­kelt. „Die digi­ta­le Wirk­lich­keit ist bit­ter“, kon­sta­tier­te denn auch Prof. Dr. Wolf­ram Mit­tel­mei­er, 1. Vor­sit­zen­der der Deut­schen Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung (DGIHV) e. V. und Kli­nik­di­rek­tor der ortho­pä­di­schen Kli­nik und Poli­kli­nik, Ros­tock. „Es fehlt an der Digi­ta­li­sie­rung in der Flä­che.“ Ein­fa­che Lösun­gen sei­en gefragt. Denn ein digi­ta­li­sier­ter Arzt­brief kön­ne so viel mehr als nur als PDF abge­spei­chert zu wer­den. Er kön­ne der Qua­li­täts­si­che­rung die­nen, Dop­pel­ver­ord­nun­gen ver­mei­den. „Bei Daten zur Medi­ka­ti­on könn­te eine Soft­ware auf Schreib­feh­ler hin­wei­sen. Denn eine Null zu viel kann töd­lich sein.“

30.000 E‑Rezepte im Sommer

„Das deut­sche Gesund­heits­we­sen ist kein simp­les Gesund­heits­we­sen“, stellt der aus Ber­lin zuge­schal­te­te Vol­ker Miel­ke, Chief Trans­for­ma­ti­on Offi­cer der gema­tik GmbH, fest. Aber er sei opti­mis­tisch, auch im Hin­blick auf die im Koali­ti­ons­ver­trag gesetz­ten Schwer­punk­te. Er rech­ne damit, so Miel­ke, dass man im Som­mer die Ziel­mar­ke von 30.000 abge­rech­ne­ten E‑Rezepten errei­chen wer­de und dann in den wei­te­ren Roll-out star­ten kön­ne. Im Moment habe man in etwa über 10.000 geschafft. In den letz­ten Mona­ten habe man gelernt, wo man bes­ser wer­den kön­ne. In Zusam­men­ar­beit mit allen Betei­lig­ten gehe es weg von star­ren Spe­zi­fi­ka­tio­nen hin zu agi­lem Mit­ein­an­der mit deut­lich mehr Nut­zer­zen­trie­rung. „Die Nut­zer­per­spek­ti­ve stär­ker in den Vor­der­grund stel­len“, nennt Miel­ke das. Das deut­sche Gesund­heits­we­sen kön­ne sich „freu­en auf eine Infra­struk­tur, die sta­bi­ler ist, resi­li­en­ter, die mehr Fle­xi­bi­li­tät hat und ein hohes Sicher­heits­ni­veau, ohne starr zu sein.“

Sprint hin­le­gen

„Bis 2026 müs­sen wir einen Sprint hin­ge­legt haben“, betont BIV-OT-Spre­che­rin Kirs­ten Abel, Gene­ral­se­kre­tä­rin des Bünd­nis­ses „Wir ver­sor­gen Deutsch­land“, zu dem sich füh­ren­de Leis­tungs­er­brin­ger­or­ga­ni­sa­tio­nen zusam­men­ge­schlos­sen haben. Denn spä­tes­tens 2026 müs­sen die Hilfs­mit­tel­leis­tungs­er­brin­ger für das E‑Rezept gerüs­tet sein. „Ich fin­de es gut, dass es da Druck gibt und dass es eine Orga­ni­sa­ti­on gibt, die die Füh­rungs­rol­le inne­hat“, so Abel. Axel Sig­mund, Lei­ter Berufs­bil­dung, Digi­ta­li­sie­rung und For­schung bei BIV-OT, sieht die Ortho­pä­die­tech­ni­ker und Sani­täts­häu­ser für die­ses Datum gut auf­ge­stellt: „Der BIV-OT hat vor über zwei Jah­ren begon­nen, sich mit dem E‑Rezept für Hilfs­mit­tel zu beschäf­ti­gen.“ Dr. Jan Hel­mig, Bereichs­lei­tung Pro­jekt- & Pro­dukt­ma­nage­ment – Lei­tung Digi­ta­li­sie­rung, Opta Data Stif­tung & Co. KG unter­streicht: „Wir brau­chen eine grund­sätz­li­che Digi­ta­li­sie­rung bei den Betei­lig­ten vor Ort.“

Akte mit Mehrwert

Ein­fach machen, so könn­te man das Fazit der Run­de zusam­men­fas­sen. „Mehr­wert schaf­fen“, damit die Ver­si­cher­ten mit den Daten ihre Gesund­heit mana­gen kön­nen, wie Klaus Rupp, Lei­ter des Fach­be­reichs Ver­sor­gungs­ma­nage­ment der Tech­ni­ker Kran­ken­kas­se, mein­te. Bis­her habe man zu viel defi­niert. Die eige­ne digi­ta­le Akte habe schon über 300.000 Nut­zer, weil sie ein Gesund­heits­ma­nage­ment anbie­te. Die Ver­si­cher­ten müss­ten erle­ben, dass sie Arzt­brie­fe und Rezep­te hin­ter­le­gen könn­ten: „Mein Wunsch ist, dass wir zu ech­ten Anwen­dun­gen kommen.“

Cath­rin Günzel

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