Bio­me­cha­ni­scher Nut­zen eines frei beweg­li­chen Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem Extensionsanschlag

D. Böhle, D. Sabbagh, J. Fior, R. Gentz
Ganzbeinorthesen (KAFOs) mit frei beweglichen Systemkniegelenken werden häufig bei Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen eingesetzt, um Sicherheit und Stabilität beim Stehen und Gehen zu erzielen. In solchen Orthesengelenken kommen Extensionsanschläge (EA) zum Einsatz, um einer pathologischen Hyperextension des Knies vorzubeugen. Der dynamische EA ermöglicht durch den einstellbaren Widerstand der ventralen Federeinheit eine kontrollierte Knieextension, ohne den Patienten in seinem Bewegungsumfang einzuschränken. Der Artikel erläutert zunächst den biomechanischen Mehrwert dieses neuartigen Funktionselementes und vermittelt sodann die Ergebnisse einer Fallstudie, in der ermittelt werden konnte, dass eine KAFO mit dynamischem EA im Vergleich zum statischen EA die Gelenkkinematik verbessert.

Ein­lei­tung

Sys­tem­knie­ge­len­ke wer­den nach ihren Funk­tio­nen unter­teilt: Es gibt frei beweg­li­che Sys­tem­knie­ge­len­ke, auto­ma­ti­sche Sys­tem­knie­ge­len­ke (Stand­pha­sen­si­che­rungs­ge­len­ke) und gesperr­te Sys­tem­knie­ge­len­ke. Bei der Her­stel­lung indi­vi­du­el­ler KAFOs wer­den haupt­säch­lich frei beweg­li­che Sys­tem­knie­ge­len­ke ein­ge­setzt. Die­se kön­nen dar­über hin­aus ohne oder mit inte­grier­ter Rück­ver­la­ge­rung kon­zi­piert wer­den. Die Wirk­prin­zi­pi­en die­ser bei­den Gelenk­funk­tio­nen unter­schei­den sich in weni­gen, für den Pati­en­ten jedoch äußerst rele­van­ten Merk­ma­len, wes­halb im Fol­gen­den genau­er auf sie ein­ge­gan­gen wird.

Ein­satz­zweck frei beweg­li­cher Sys­tem­knie­ge­len­ke ohne Rückverlagerung

Frei beweg­li­che Sys­tem­knie­ge­len­ke ohne Rück­ver­la­ge­rung las­sen sowohl in der Stand­pha­se als auch in der Schwung­pha­se eine unge­hin­der­te Bewe­gung zu. Sie sta­bi­li­sie­ren und füh­ren das ana­to­mi­sche Knie­ge­lenk seit­lich im Bewe­gungs­ab­lauf. Die mecha­ni­sche Knie­ach­se wird kon­gru­ent zur ana­to­mi­schen Kom­pro­miss­ach­se nach Niet­ert 1 posi­tio­niert (Abb. 1a). Dadurch ver­rin­gern sich die Ver­schie­bun­gen zwi­schen Bein und Orthe­se auf ein Mini­mum; das Hilfs­mit­tel trägt sich kom­for­ta­bel und ist scho­nend in der Anwen­dung. Die­se Art von Sys­tem­ge­lenk wird für Pati­en­ten emp­foh­len, die über aus­rei­chend Mus­kel­kraft ver­fü­gen, um dem Knief­le­xi­ons­mo­ment in „loa­ding respon­se“ ent­ge­gen­zu­wir­ken. Die Knie­si­che­rung erfolgt rein muskulär.

Ein­satz­zweck frei beweg­li­cher Sys­tem­knie­ge­len­ke mit Rückverlagerung

Funk­tio­na­le Abwei­chun­gen durch gerin­ge mus­ku­lä­re Ein­schrän­kun­gen der knie­stre­cken­den Mus­kel­grup­pen kön­nen durch eine Rück­ver­la­ge­rung der mecha­ni­schen Knie­ge­lenk­ach­se in einem frei beweg­li­chen Sys­tem­knie­ge­lenk kom­pen­siert wer­den. Die­se mecha­ni­sche Knie­ach­se wird nicht kon­gru­ent zur ana­to­mi­schen Kom­pro­miss­ach­se, son­dern dahin­ter posi­tio­niert (Abb. 1b). Durch die Inkon­gru­enz der Gelenk­ach­sen wird das Knie pas­siv gesi­chert 2. Um dem Fle­xi­ons­mo­ment in „loa­ding respon­se“ ent­ge­gen­zu­wir­ken, unter­stützt die Orthe­se durch die Rück­ver­la­ge­rung des mecha­ni­schen Knie­ge­lenk­dreh­punk­tes die nicht voll funk­ti­ons­fä­hi­ge Mus­ku­la­tur. Die Knie­si­che­rung erfolgt durch eine Kom­bi­na­ti­on aus Mus­kel­kraft und Gelenk­funk­ti­on; die aus der Gelenk­kon­struk­ti­on resul­tie­ren­de Rück­ver­la­ge­rung des Dreh­punk­tes sorgt dafür, dass trotz­dem eine mit­ti­ge Aus­rich­tung der Sys­te­man­ker bzw. ‑schie­nen am Unter- und Ober­schen­kel mög­lich ist.

Exten­si­ons­an­schlä­ge frei beweg­li­cher Systemkniegelenke

Im Fol­gen­den wird zunächst grund­le­gend die bio­me­cha­ni­sche Funk­ti­on eines Exten­si­ons­an­schla­ges in einer KAFO erläu­tert. Dar­auf auf­bau­end wer­den zwei Exten­si­ons­an­schlags­ty­pen vorgestellt.

Funk­ti­on des Extensionsanschlages

Der Exten­si­ons­an­schlag (EA) defi­niert die maxi­ma­le Exten­si­on des Knies. Bei einem gesun­den Men­schen wer­den Knief­le­xi­on und ‑exten­si­on mus­ku­lär kon­trol­liert. Ist die knie­si­chern­de Mus­ku­la­tur ein­ge­schränkt, kann es zu einer Über­las­tung des ana­to­mi­schen Band­ap­pa­ra­tes im Knie kom­men. Bei knie­über­grei­fen­den orthe­ti­schen Ver­sor­gun­gen soll­te daher ein Funk­ti­ons­ele­ment ver­wen­det wer­den, das die Knie­ex­ten­si­on begrenzt, um eine patho­lo­gi­sche Hyper­ex­ten­si­on des Knies zu ver­hin­dern 3. Der EA wird beim Gehen mit einer KAFO in den Gang­pha­sen erreicht, in denen der Boden­re­ak­ti­ons­kraft­vek­tor vor dem mecha­ni­schen Dreh­punkt des Sys­tem­knie­ge­len­kes ver­läuft. In der Stand­pha­se ist dies bei „initi­al cont­act“, „mid stance“ und „ter­mi­nal stance“ der Fall. Neben der Ver­mei­dung einer patho­lo­gi­schen Hyper­ex­ten­si­on in der Stand­pha­se begrenzt der EA außer­dem das Vor­schwin­gen des Unter­schen­kels am Ende der Schwung­pha­se in „ter­mi­nal swing“.

Exten­si­ons­an­schlags­ty­pen

Frei beweg­li­che Sys­tem­knie­ge­len­ke sind mit unter­schied­li­chen Arten von EA ver­füg­bar. Modu­la­re Sys­tem­knie­ge­len­ke ermög­li­chen die Anpas­sung der Gelenk­funk­ti­on indi­vi­du­ell nach den Bedürf­nis­sen des Pati­en­ten. Die Begren­zung des Knie­win­kels in Exten­si­ons­rich­tung kann durch unter­schied­li­che Anschlags­ty­pen erfol­gen. Die­se las­sen sich in zwei Funk­ti­ons­grup­pen ein­tei­len: sta­ti­scher und dyna­mi­scher Exten­si­ons­an­schlag. Auf die­se bei­den Vari­an­ten wird im Fol­gen­den genau­er eingegangen.

Sta­ti­scher Extensionsanschlag

Der sta­ti­sche EA limi­tiert die maxi­ma­le Knie­ex­ten­si­on auf einen fest­ge­leg­ten star­ren Win­kel. Daher ist eine wei­te­re Exten­si­ons­be­we­gung über die­se fest­ge­leg­te Anschlags­po­si­ti­on hin­aus nicht mög­lich, wodurch der Bewe­gungs­um­fang des Knies in Exten­si­ons­rich­tung ein­ge­schränkt wird. Bei vie­len Orthe­sen­ge­len­ken ist der EA aus­tausch­bar, sodass sich der Knie­win­kel der Orthe­se anpas­sen lässt. Die aus­tausch­ba­ren EA wer­den in Abstu­fun­gen von 5° oder 10° ange­bo­ten. Weit­aus genau­er las­sen sich Sys­tem­knie­ge­len­ke mit stu­fen­los jus­tier­ba­ren EAs ein­stel­len, die eine Jus­tie­rung des Knie­win­kels im Bereich von 0° Knie­ex­ten­si­on bis 20° Knief­le­xi­on ermöglichen.

Dyna­mi­scher Extensionsanschlag

Der dyna­mi­sche EA limi­tiert die Knie­ex­ten­si­on gegen den federn­den Wider­stand einer ven­tra­len Feder­ein­heit. Die auf die­se Wei­se ermög­lich­te Exten­si­ons­be­we­gung geht über den stu­fen­los ein­stell­ba­ren Knie­win­kel des Orthe­sen­ge­len­kes hin­aus (z. B. von 5° Knief­le­xi­on in Rich­tung 0° Knie­ex­ten­si­on). Über aus­tausch­ba­re Feder­ein­hei­ten las­sen sich Feder­stär­ke und maxi­ma­le Bewe­gungs­frei­heit indi­vi­du­ell ein­stel­len. Zudem ist es mög­lich, die Bewe­gungs­frei­heit des Feder­we­ges über eine Bewe­gungs­li­mi­tie­rungs­schrau­be stu­fen­los zu begren­zen, ohne dass der Pati­ent dafür die Orthe­se able­gen muss.

Dyna­mi­scher Exten­si­ons­an­schlag in einer KAFO

Das über­ge­ord­ne­te Ziel einer orthe­ti­schen Ver­sor­gung ist die Wie­der­her­stel­lung des phy­sio­lo­gi­schen Ste­hens und Gehens – in jedem Fall soll­te aber eine Ver­bes­se­rung des Gang­bil­des erreicht wer­den. Um die­ses Ziel best­mög­lich zu errei­chen, soll­te eine moder­ne KAFO den Bewe­gungs­um­fang der betrof­fe­nen Gelen­ke so wenig wie mög­lich ein­schrän­ken 4. Die­se Vor­aus­set­zung wird durch die zusätz­li­che Bewe­gungs­frei­heit des dyna­mi­schen EA erfüllt. Im Fol­gen­den wer­den Ein­stell­bar­keit und bio­me­cha­ni­scher Nut­zen des dyna­mi­schen EA näher erläutert.

Ein­stell­bar­keit der Gelenkwinkel

Der ver­sor­gen­de Ortho­pä­die­tech­ni­ker defi­niert über den Grund­auf­bau der Orthe­se, in wel­chem Knie­win­kel der EA erreicht wer­den soll. Dabei hat sich ein Auf­bau mit 5° Knief­le­xi­on und 5° Tibia­vor­nei­gung bewährt 5. Die­se leich­te Knief­le­xi­on ori­en­tiert sich an den phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln beim Gehen und bewirkt im Ver­gleich zu einem gera­den Auf­bau der Orthe­se ein wesent­lich dyna­mi­sche­res Gehen. Der EA beschreibt somit den Knie­win­kel und die Tibia­vor­nei­gung am Über­gang von „mid stance“ zu „ter­mi­nal stance“. Die stu­fen­lo­se Jus­tier­bar­keit des in die­sem Arti­kel vor­ge­stell­ten Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem EA ist die idea­le Ergän­zung zu einem Sys­tem­knö­chel­ge­lenk mit stu­fen­los jus­tier­ba­rem dyna­mi­schem Dor­sal­an­schlag. So kann die Knief­le­xi­on ent­spre­chend der ein­ge­stell­ten Tibia­vor­nei­gung ange­passt bzw. gegen­jus­tiert wer­den (Abb. 2).

Bio­me­cha­ni­scher Nutzen

Durch die im Ver­gleich zum sta­ti­schen EA grö­ße­re Bewe­gungs­frei­heit in Rich­tung Knie­ex­ten­si­on ermög­licht der dyna­mi­sche EA bei kor­rek­ter Ein­stel­lung des Knie­win­kels und adäqua­ter Aus­wahl der Feder­stär­ke dem Pati­en­ten eine kon­trol­lier­te und phy­sio­lo­gi­sche Bewe­gungs­frei­heit – sowohl im Ste­hen als auch im Gehen. Dazu im Einzelnen:

Ste­hen

Ein aus­ba­lan­cier­tes Gleich­ge­wicht sorgt für ein siche­res Ste­hen des Pati­en­ten. Im Stand wird durch die leich­te Hyper­ex­ten­si­on des Knie- und Hüft­ge­len­kes ana­to­misch eine pas­si­ve Sta­bi­li­tät erzeugt. Die­se phy­sio­lo­gi­sche Hyper­ex­ten­si­on führt zur Knie­si­che­rung, da der Boden­re­ak­ti­ons­kraft­vek­tor in die­ser Posi­ti­on hin­ter der Hüft- und vor der Knie­ge­lenk­sach­se ver­läuft. Die ent­ge­gen­ge­setz­ten Kräf­te in Form der liga­men­tä­ren Span­nung des hin­te­ren Kreuz­ban­des und des Liga­men­tum ili­o­fe­mo­ra­le sta­bi­li­sie­ren dabei das Knie nach dor­sal und das Hüft­ge­lenk nach ven­tral 6. Die­ser ana­to­mi­sche knie­si­chern­de Effekt wird durch die Rück­ver­la­ge­rung der mecha­ni­schen Knie­ach­se des Sys­tem­knie­ge­len­kes erhöht. Aus­ge­hend von der im Grund­auf­bau der Orthe­se berück­sich­tig­ten Knief­le­xi­on (Abb. 3a) kann das Knie gegen den Wider­stand der ven­tra­len Feder­ein­heit wei­ter exten­die­ren (Abb. 3b), was sich posi­tiv auf Stand­si­cher­heit und Tra­ge­kom­fort aus­wirkt. Orthe­tisch ver­sorg­te Pati­en­ten pro­fi­tie­ren also bereits im Ste­hen von der Funk­ti­on des dyna­mi­schen EA.

Die beschrie­be­ne knie­si­chern­de Funk­ti­on ist jedoch nur mög­lich, wenn das dyna­mi­sche Sys­tem­knie­ge­lenk mit einem dyna­mi­schen Sys­tem­knö­chel­ge­lenk kom­bi­niert wird, das eine Bewe­gungs­frei­heit in Plant­ar­fle­xi­on zulässt. Damit das Knie aus der leich­ten Fle­xi­on her­aus wei­ter exten­die­ren kann, ist im obe­ren Sprung­ge­lenk eine Plant­ar­fle­xi­ons­be­we­gung erfor­der­lich. Die­se wird durch die Fer­sen­kipp­he­bel­funk­ti­on des Sys­tem­knö­chel­ge­len­kes ermöglicht.

Gehen

Der dyna­mi­sche EA limi­tiert die Knie­ex­ten­si­on nach dem Vor­bild des phy­sio­lo­gi­schen Gang­bil­des. Der phy­sio­lo­gi­sche Knie­win­kel­ver­lauf im Gehen (Abb. 4) ver­deut­licht den bio­me­cha­ni­schen Nut­zen des dyna­mi­schen EA, der die voll­stän­di­ge Knie­ex­ten­si­on ermög­licht. In der Stand­pha­se, genau­er gesagt in „ter­mi­nal stance“ (TSt), ist für vie­le Pati­en­ten eine voll­stän­di­ge Knie­ex­ten­si­on phy­sio­lo­gisch 7. Das Knie­ge­lenk kann hier­bei sogar leicht hyper­ex­ten­die­ren. Dane­ben zeigt sich kurz vor Ende der Schwung­pha­se in „ter­mi­nal swing“ (TSw) eine Knie­ex­ten­si­on, die indi­vi­du­ell bis zu 3° Hyper­ex­ten­si­on beträgt. Beim anschlie­ßen­den „initi­al cont­act“ (IC) ist das Knie exten­diert oder eben­falls leicht hyper­ex­ten­diert 7. Die genaue Betrach­tung der Knie­ki­ne­ma­tik ver­deut­licht, dass nur dann ein Gehen mit phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln erzielt wer­den kann, wenn die Bewe­gungs­frei­heit durch die Funk­ti­ons­ele­men­te der Orthe­se so wenig wie mög­lich ein­ge­schränkt wird. Vor die­sem Hin­ter­grund wird der bio­me­cha­ni­sche Nut­zen des dyna­mi­schen EA durch die Bewe­gungs­frei­heit der ven­tra­len Feder­ein­heit deut­lich. Neben dem bio­me­cha­ni­schen Vor­teil wirkt sich der gedämpf­te wei­che Anschlag der ven­tra­len Feder­ein­heit posi­tiv auf den Tra­ge­kom­fort der Orthe­se aus.

Fall­stu­die

Zur Quan­ti­fi­zie­rung des beschrie­be­nen bio­me­cha­ni­schen Nut­zens eines dyna­mi­schen EA in einer KAFO wur­de eine Fall­stu­die durch­ge­führt. Dabei wur­de die Hüft‑, Knie- und Knö­chel­ki­ne­ma­tik eines gesun­den Pro­ban­den mess­tech­nisch in der Sagit­tal­ebe­ne beim Ste­hen und Gehen mit einer KAFO ermit­telt. Es soll­te über­prüft wer­den, ob ein dyna­mi­scher EA eine grö­ße­re Bewe­gungs­frei­heit in Rich­tung Knie­ex­ten­si­on ermög­licht als ein sta­ti­scher EA und somit das Ste­hen und Gehen beeinflusst.

Metho­den

Die Ana­ly­se wur­de an einem gesun­den 31-jäh­ri­gen männ­li­chen Pro­ban­den (180 cm, 80 kg) durch­ge­führt. Als Prüfor­the­se wur­de eine indi­vi­du­el­le KAFO in Faser­ver­bund­tech­nik für das lin­ke Bein her­ge­stellt, in der ein Sys­tem­knö­chel­ge­lenk mit dyna­mi­schem Dor­sal- und Plant­ar­an­schlag sowie ein rück­ver­la­ger­tes frei beweg­li­ches Sys­tem­knie­ge­lenk mit dyna­mi­schem EA ver­ar­bei­tet ist. Über die Bewe­gungs­li­mi­tie­rungs­schrau­be des Gelen­kes konn­te die ven­tra­le Feder­wir­kung maxi­mal blo­ckiert wer­den, wodurch ein funk­tio­nell sta­ti­scher EA gene­riert wur­de. Dies ermög­lich­te den Ver­gleich zwi­schen sta­ti­schem und dyna­mi­schem EA anhand der­sel­ben Orthese.

Der Grund­auf­bau der Orthe­se erfolg­te – wie im Kapi­tel „Ein­stell­bar­keit der Gelenk­win­kel“ beschrie­ben – in leich­ter Knief­le­xi­on von ca. 5° sowie mit einer phy­sio­lo­gi­schen Tibia­vor­nei­gung von eben­falls ca. 5° (Abb. 5). Die Aus­wahl der Feder­stär­ken der dyna­mi­schen Knie- und Knö­chel­ge­len­ke wur­de mit Hil­fe eines Orthe­sen-Kon­fi­gu­ra­tors 8 unter Berück­sich­ti­gung der pro­ban­den­spe­zi­fi­schen Daten berech­net. Die gewähl­te dor­sa­le und ven­tra­le Feder­ein­heit des Sys­tem­knö­chel­ge­len­kes ermög­licht eine maxi­ma­le Bewe­gungs­frei­heit von 10°, wäh­rend die der ven­tra­len Feder­ein­heit des Sys­tem­knie­ge­len­kes 9° beträgt. Mit Hil­fe eines video­ba­sier­ten 2D-Gang­ana­ly­se­sys­tems wur­de jeweils eine Stand- und Gang­ana­ly­se mit sta­ti­schem und dyna­mi­schem EA durch­ge­führt. Die Win­kel­mes­sung erfolg­te durch eine Soft­ware mit­tels Ver­fol­gung ana­to­mi­scher Refe­renz­punk­te, die mit reflek­tie­ren­den Mar­kern bestückt waren.

Mit bei­den Anschlags­ty­pen wur­den zuerst drei Auf­nah­men im Ste­hen und direkt im Anschluss drei voll­stän­di­ge Dop­pel­schrit­te auf­ge­zeich­net, aus denen die Ver­läu­fe von Hüft‑, Knie- und Knö­chel­win­kel ermit­telt wur­den. Wäh­rend des Funk­ti­ons­wech­sels nach den Auf­nah­men mit dem sta­ti­schen EA wur­de die Orthe­se nicht abge­legt, um Mess­feh­ler gering zu hal­ten. Durch das Her­aus­dre­hen der Bewe­gungs­li­mi­tie­rungs­schrau­be des Sys­tem­knie­ge­len­kes stand dem Pro­ban­den für die Auf­nah­men mit dem dyna­mi­schen EA die vol­le Bewe­gungs­frei­heit der ven­tra­len Feder­ein­heit zur Verfügung.

Für die Aus­wer­tung der Mes­sun­gen im Ste­hen wur­den von Hüft‑, Knie- und Knö­chel­win­kel aus allen drei Mes­sun­gen jeweils der Mit­tel­wert und die Stan­dard­ab­wei­chung für bei­de Anschlags­ty­pen berech­net. Beim Gehen wur­de der Dop­pel­schritt auf signi­fi­kan­te Unter­schie­de zwi­schen sta­ti­schem und dyna­mi­schem EA in den fol­gen­den Punk­ten überprüft:

  1. kom­plet­ter Bewe­gungs­um­fang („ran­ge of moti­on“ = ROM) von Hüf­te, Knie und Knöchel;
  2. maxi­ma­le Hüf­tex­ten­si­on (in „pre swing“), maxi­ma­le Knie­ex­ten­si­on (in „initi­al cont­act“, „ter­mi­nal stance“ und „ter­mi­nal swing“) und maxi­ma­le Plant­ar­fle­xi­on (in „loa­ding respon­se“ und „initi­al swing“).

Die Über­prü­fung der sta­tis­ti­schen Unter­schie­de fand mit Hil­fe des Wil­coxon-Rang­sum­men­tests (α = 0,20) statt.

Ergeb­nis­se

Ste­hen

Im Ver­gleich zum sta­ti­schen EA lie­gen mit dyna­mi­schem EA im Stand signi­fi­kan­te Erhö­hun­gen von Hüf­tex­ten­si­on (3°) und Knie­ex­ten­si­on (4°) vor. Die damit ein­her­ge­hen­de Erhö­hung der Plant­ar­fle­xi­on von 2° weist aller­dings kei­ne sta­tis­ti­sche Signi­fi­kanz auf (Tab. 1).

Gehen

Bei Ver­wen­dung des dyna­mi­schen EA zeigt sich im Ver­gleich zum sta­ti­schen EA eine erhöh­te ROM des sagit­ta­len Hüft- (2°) und Knie­win­kels (3°). Außer­dem sind die Hüf­tex­ten­si­on in „pre swing“ und die Knie­ex­ten­si­on in „initi­al cont­act“, „ter­mi­nal stance“ und „ter­mi­nal swing“ um jeweils 3° signi­fi­kant erhöht. Die Plant­ar­fle­xi­on des Knö­chel­ge­len­kes in „initi­al swing“ ist mit dem dyna­mi­schen EA im Ver­gleich zum sta­ti­schen EA eben­falls um 2° erhöht (Tab. 2, Abb. 6).

Dis­kus­si­on

Der beschrie­be­ne bio­me­cha­ni­sche Nut­zen eines Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem EA konn­te sowohl im Ste­hen als auch im Gehen mess­tech­nisch quan­ti­fi­ziert wer­den. In bei­den Situa­tio­nen wur­de durch die zusätz­li­che Bewe­gungs­frei­heit der ven­tra­len Feder­ein­heit des Sys­tem­knie­ge­len­kes eine phy­sio­lo­gi­sche­re Knie­ex­ten­si­on erzielt als bei Ver­wen­dung des sta­ti­schen EA. Die erhöh­te Knie­ex­ten­si­on in „initi­al cont­act“, „ter­mi­nal stance“ und „ter­mi­nal swing“ ist die Grund­la­ge für die grö­ße­re Bewe­gungs­frei­heit des Knie­ge­len­kes. Die Mess­ergeb­nis­se zei­gen deut­lich, dass nach der ver­bes­ser­ten Knie­ex­ten­si­on in „ter­mi­nal stance“ auch eine Ver­grö­ße­rung der Hüft­stre­ckung in „pre swing“ sowie des „push off“ in „initi­al swing“ fol­gen. Die­se ste­hen zwar eher in indi­rek­tem Zusam­men­hang mit der Knie­ki­ne­ma­tik; aller­dings ist mög­lich, dass sich die ver­stärk­te Knie­stre­ckung durch eine Deh­nung der Plant­ar­flex­oren­ket­te auf die ande­ren Gelen­ke aus­ge­wirkt hat. Die Sum­me die­ser Ver­än­de­run­gen führt zu einer mess­ba­ren Ver­bes­se­rung des Gangbildes.

Bei den Mess­ergeb­nis­sen ist aller­dings zu berück­sich­ti­gen, dass die Gang­ana­ly­se bei einem gesun­den Pro­ban­den durch­ge­führt wur­de – mus­ku­lä­re Kom­pen­sa­tio­nen des Pro­ban­den könn­ten die Ergeb­nis­se beein­flusst haben. Eine Fall­se­rie von Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Gang­stö­run­gen könn­te den bio­me­cha­ni­schen Nut­zen eines Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem EA auf das patho­lo­gi­sche Gang­bild zei­gen. Zusätz­li­che Mes­sun­gen von räum­li­chen und zeit­li­chen Para­me­tern könn­ten Auf­schluss dar­über geben, ob die zusätz­li­che Bewe­gungs­frei­heit Ein­fluss auf Schritt­län­ge und Schritt­ge­schwin­dig­keit hat.

Fazit

Mit der Ver­wen­dung eines Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem EA in einer KAFO kann die Qua­li­tät ortho­pä­die­tech­ni­scher Ver­sor­gun­gen von Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gi­schen Geh­stö­run­gen wei­ter ver­bes­sert wer­den. Das Ste­hen und Gehen mit phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln kann durch den bio­me­cha­ni­schen Vor­teil die­ses Funk­ti­ons­ele­men­tes in einer KAFO opti­miert wer­den. Pati­en­ten pro­fi­tie­ren vom Zuge­winn der Bewe­gungs­frei­heit auf Knie­ebe­ne, und dem Ortho­pä­die­tech­ni­ker wird durch die umfang­rei­chen Ein­stell­mög­lich­kei­ten und die Modu­la­ri­tät des Sys­tem­knie­ge­len­kes die Arbeit mit dem Pati­en­ten ver­ein­facht. Die Orthe­se kann exakt auf das Sicher­heits­be­dürf­nis des Pati­en­ten abge­stimmt wer­den. Mit dem hoch­funk­tio­na­len dyna­mi­schen EA wird somit die Aus­wahl der auf dem Markt befind­li­chen Sys­tem­knie­ge­len­ke sinn­voll erweitert.

Für die Autoren:
David Böh­le, B. Eng.
Ortho­pä­die­tech­ni­ker
Tech­ni­scher Support
Fior & Gentz Gesell­schaft für Entwicklung
u. Ver­trieb von orthopädietechnischen
Sys­te­men mbH
Doret­te-von-Stern-Stra­ße 5
21337 Lüne­burg
david.boehle@fior-gentz.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Böh­le D, Sab­bagh D, Fior J, Gentz R. Bio­me­cha­ni­scher Nut­zen eines frei beweg­li­chen Sys­tem­knie­ge­len­kes mit dyna­mi­schem Exten­si­ons­an­schlag. Ortho­pä­die Tech­nik, 2021; 72 (11): 46–51
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