Gesucht, gefun­den – Über­nah­me im Sanitätshaus

Drei klassische Wege führen zur Übernahme von Sanitätshäusern: Ein Familienmitglied folgt den Spuren der Elterngeneration, ein Betriebsangehöriger wagt den Sprung in die Selbstständigkeit oder ein Filialist erweitert seine Marktanteile. Im Falle der Übernahme des 1995 von Orthopädietechnik-Meister Walter Borchard gegründeten Sanitätshauses Borchard in Lahnstein durch das Sanitätshaus Thönnissen in Koblenz zum 2. November 2021 geht es um den vierten, selteneren Weg: die Einigung zweier kleinerer Häuser. Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichtet Thönnissen-Geschäftsführer Alexander Müller über seine frischen Übernahme-Erfahrungen.

Den Grund­stein für die Thön­nis­sen-Grup­pe, einen Fami­li­en­be­trieb in drit­ter Gene­ra­ti­on, leg­ten vor 75 Jah­ren die Groß­el­tern der heu­ti­gen 100-pro­zen­ti­gen Gesell­schaf­te­rin Corin­ne Kraus. Seit drei Jah­ren lei­tet der 44-jäh­ri­ge Alex­an­der Mül­ler als Geschäfts­füh­rer das Sani­täts­haus Thön­nis­sen mit 28 Beschäftigten.

OT: Hat­ten Sie bereits vor den Gesprä­chen mit Wal­ter Bor­chard über eine Betriebs­über­nah­me nachgedacht?

Alex­an­der Mül­ler: Tat­säch­lich tru­gen wir uns bereits vor den Ver­hand­lun­gen mit dem Gedan­ken an den Kauf eines OT-Betrie­bes. Das Sani­täts­haus Thön­nis­sen ist bereits 75 Jah­re in Koblenz auf dem Markt. In und um Koblenz ist der Wett­be­werb stark ver­tre­ten. Um Thön­nis­sen fit für die Zukunft
zu machen, woll­ten wir daher den guten Namen unse­res Hau­ses über die Regi­on hin­aus­tra­gen. Um mir einen Über­blick über den Markt zu ver­schaf­fen, war ich zunächst auf ver­schie­de­nen Platt­for­men im Inter­net unterwegs.

OT: Wie kamen die Gesprä­che zur Über­nah­me des Sani­täts­hau­ses Bor­chard in Gang?

Mül­ler: Auf der Platt­form Nexxt Chan­ge* fand ich vor knapp zwei Jah­ren eine inter­es­san­te Anzei­ge, die genau zu unse­rem stra­te­gi­schen Ziel pass­te: Ein OT-Betrieb in Lahn­stein such­te eine Nach­fol­ge­lö­sung. Im Febru­ar 2020 hat­te ich erst­mals Kon­takt mit Wal­ter Bor­chard. Wir waren uns bei­de einig, dass die Che­mie stim­men müss­te, um eine Über­nah­me zu ver­han­deln und umzu­set­zen. Des­halb tra­fen wir uns im Mai per­sön­lich, um zu sehen, ob unse­re Che­mie funk­tio­niert und um uns über Ziel­set­zun­gen bei­der Sei­ten aus­zu­tau­schen. Nach dem Tref­fen hat­ten bei­de Sei­ten das Gefühl: passt!

Bera­ter und Anwäl­te ver­stär­ken Verhandlungsteams

OT: Wel­che pro­fes­sio­nel­le Unter­stüt­zung haben Sie sich für Ver­hand­lung und Umset­zung dazu geholt?

Mül­ler: Wal­ter Bor­chard hat­te von Anfang an einen Unter­neh­mens­be­ra­ter an sei­ner Sei­te. Wir setz­ten zunächst auf die Unter­stüt­zung unse­rer Steu­er­kanz­lei PKF Eger­mann, Balin­gen. Im Lau­fe der Ver­hand­lun­gen haben wir zusätz­lich eine Fach­an­wäl­tin für Arbeits­recht sowie einen Fach­an­walt für Gesell­schaf­ter­recht hinzugezogen.

OT: War­um zogen Sie die­se Fachanwält:innen hinzu?

Mül­ler: Einen Fach­an­walt für Gesell­schaf­ter­recht benö­tig­ten wir für die Aus­ar­bei­tung und For­mu­lie­run­gen für den Kauf­ver­trag, um kei­ne Feh­ler in der Haf­tungs­über­nah­me oder bei Garan­tien für bei­de Sei­ten ein­zu­bau­en. Zudem woll­ten wir die acht Mitarbeiter:innen des Sani­täts­hau­ses über­neh­men bzw. ihnen das Ange­bot machen, dass wir sie wei­ter beschäf­ti­gen, daher die Fach­an­wäl­tin für Arbeits­recht. Das war auch Wal­ter Bor­chard wich­tig. Nach 26 Jah­ren leg­te er Wert dar­auf, dass sei­ne Mitarbeiter:innen eine Per­spek­ti­ve haben. Zum Glück haben sich alle für eine Wei­ter­be­schäf­ti­gung ent­schie­den. Außer­dem war es Wal­ter Bor­chard wich­tig, dass der Stand­ort mit sei­nem guten Namen – also die Tra­di­ti­on des Hau­ses – erhal­ten bleibt. Des­halb haben wir beschlos­sen, dass die Mar­ke Bor­chard nicht ver­schwin­det. Zumin­dest in den kom­men­den Jah­ren wird der Mar­ken­auf­tritt bei­de Namen beinhalten.

Per­so­nal und Stand­ort von Bedeutung

OT: Wor­auf haben Sie bei der Über­nah­me beson­ders viel Wert gelegt?

Mül­ler: Für uns waren die bei­den Kri­te­ri­en Wei­ter­be­schäf­ti­gung des Per­so­nals und Wei­ter­füh­rung des Stand­or­tes ent­schei­dend. Gleich­zei­tig war es Teil der Lebens­pla­nung von Wal­ter Bor­chard, zum 31.12.2021 einen neu­en Lebens­ab­schnitt zu begin­nen. Damit das funk­tio­niert, hat er etwa zwei Jah­re vor dem geplan­ten Ter­min mit der Suche nach einer Nach­fol­ge begon­nen. Die­sen Zeit­rah­men braucht
man auch, zumin­dest haben wir den gebraucht.

OT: Wo lie­gen Risi­ken bzw. Fall­stri­cke bei der Über­nah­me von ande­ren Betrieben?

Mül­ler: In der Unru­he. Wenn sie früh Ver­hand­lun­gen füh­ren, ist das größ­te Risi­ko, dass etwas dar­über durch­dringt. Sol­che Gerüch­te füh­ren zu Unru­he bei Mitarbeiter:innen, Kund:innen und Lieferant:innen. Es muss gelin­gen, dis­kret und ver­trau­ens­voll bis zur Unter­schrift mit­ein­an­der zu spre­chen, ohne dass Drit­te etwas erfah­ren. Den­noch ist es wich­tig, die Mitarbeiter:innen früh­zei­tig mit ins Boot zu holen. Anfang Sep­tem­ber, also zwei Mona­te vor der geplan­ten Schlüs­sel­über­ga­be, haben wir alle Mitarbeiter:innen über die Über­nah­me infor­miert. Das ist die wahr­schein­lich größ­te Her­aus­for­de­rung: Die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem Per­so­nal nicht zu früh und den­noch recht­zei­tig zu starten.

Lang­wie­ri­ger Übergangsprozess

OT: Wie haben Sie den Über­ga­be-/Über­nah­me-Pro­zess gestaltet?

Mül­ler: Wir haben uns dar­auf geei­nigt, dass alle zum Zeit­punkt der Über­ga­be offe­nen Auf­trä­ge über Thön­nis­sen abge­rech­net wer­den. Dazu muss­ten wir eine gan­ze Rei­he von Regu­la­ri­en beach­ten, wie die Präqualizierung für das über­nom­me­ne Haus klä­ren oder in die bestehen­den Kas­sen­ver­trä­ge ein­stei­gen. Das sind aber alles Din­ge, die erfah­re­ne Sani­täts­haus-Mana­ger rela­tiv schnell erle­di­gen kön­nen. Kom­pli­zier­ter ist die Imple­men­tie­rung unse­rer IT. Dafür wer­den wir etwa drei Mona­te inklu­si­ve der Schu­lung des Per­so­nals für unse­re Sys­te­me benö­ti­gen. Zum 1. Janu­ar 2022 soll­te das aber abge­schlos­sen sein. Um den Pro­zess zu erleich­tern, arbei­tet eine unse­rer Thön­nis­sen-Mit­ar­bei­te­rin­nen, Esther Ber­nard, seit Anfang Sep­tem­ber in Lahn­stein. Sie ist bereits seit 20 Jah­ren unter ande­rem als Exper­tin für Kom­pres­si­ons­be­klei­dung für uns im Ein­satz. Par­al­lel unter­stützt Wal­ter Bor­chard das Zusam­men­wach­sen noch eini­ge Mona­te als fach­li­cher Lei­ter der Werk­statt. Ins­ge­samt rech­ne ich mit einem Jahr, bis wir alle – per­sön­lich wie tech­nisch – eine Ein­heit bilden.

OT: Wie waren die ers­ten Reak­tio­nen der Borchard-Kund:innen nach der Über­nah­me am 2. November?

Mül­ler: Die Reak­tio­nen waren durch­weg posi­tiv. Nach dem Mot­to: „Da bleibt ja alles, wie es ist.“ Es gibt aber auch Kund:innen unse­res Koblen­zer Stamm­hau­ses, die sich freu­en, ab jetzt eine Alter­na­ti­ve in Lahn­stein zu haben, da das näher zu ihrem Wohn­ort liegt als Koblenz.

OT: Haben Sie wei­te­re Ausbaupläne?

Mül­ler: Aber ja! Wir kön­nen uns gut vor­stel­len, Betrie­be mit Schwer­punk­ten zu über­neh­men, die bei uns bis­her nicht so stark aus­ge­prägt waren.

Ver­stän­di­gung dank exter­ner Vermittlung

OT: Haben Sie Tipps für Unternehmer:innen zum The­ma Nachfolge?

Mül­ler: Wir sind sehr gut damit gefah­ren, ein Pro­jekt­team für die Über­nah­me zu erstel­len. Hier­zu gehör­ten inter­ne Mitarbeiter:innen eben­so wie exter­ne Berater:innen. Als Geschäftsführer:in oder Inhaber:in kön­nen Sie die damit ver­bun­de­nen viel­fäl­ti­gen Auf­ga­ben gar nicht neben dem Tages­ge­schäft leis­ten. Jedes Detail, das Sie nicht auf dem Schirm haben, führt zu Ver­zö­ge­run­gen. Da braucht es ein Team. Außer­dem kann ich nur das Hin­zu­zie­hen von Coa­ches für die inter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on emp­feh­len. Schon unab­hän­gig von Expan­si­ons­plä­nen betreu­en uns zwei exter­ne Coa­ches – mit psy­cho­lo­gi­schem Hin­ter­grund – bei der inter­nen Kom­mu­ni­ka­ti­on. Unse­re Mitarbeiter:innen kön­nen sich mit beruichen wie per­sön­li­chen The­men ver­trau­ens­voll an sie wen­den. Die Coa­ches ver­mit­teln mir dann die Fra­gen oder Pro­ble­me, ohne die Gren­ze der Ver­trau­lich­keit zu über­schrei­ten, sodass ich die jewei­li­gen Posi­tio­nen bes­ser ver­ste­hen kann. Das hilft auch mir unge­mein. So kön­nen wir Konikte früh­zei­tig lösen oder sogar ganz ver­mei­den. Das ist ein her­vor­ra­gen­des Instru­ment auch in Bezug auf die oben bereits erwähn­te recht­zei­ti­ge, aber nicht zu frü­he Kom­mu­ni­ka­ti­on von Übernahmen.

OT: Ihre Ver­hand­lun­gen fan­den par­al­lel zur Coro­na-Pan­de­mie statt. Inwie­weit hat Sie das beeinflusst?

Mül­ler: Die Coro­na-Pan­de­mie hat uns natür­lich stark beschäf­tigt und die Fra­ge auf­ge­wor­fen, ob es rich­tig ist, ein Invest­ment zu täti­gen oder lie­ber Geld für die Unwäg­bar­kei­ten der Pan­de­mie zurück­zu­stel­len. Zum Glück waren wir trotz der pan­de­misch-beding­ten Unsi­cher­hei­ten mutig genug, den Über­nah­me­pro­zess vor­an­zu­trei­ben und ihn zum Abschluss zu bringen.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

*Nexxt-change.org ist eine Inter­net­platt­form des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft und Ener­gie, der KfW Ban­ken­grup­pe, des Deut­schen Indus­trie- und Han­dels­kam­mer­ta­ges, des Zen­tral­ver­bands des Deut­schen Hand­werks, des Bun­des­ver­bands der Deut­schen Volks­ban­ken und Raiff­ei­sen­ban­ken und des Deut­schen Spar­kas­sen- und Giro­ver­bands in Zusam­men­ar­beit mit den Part­nern der Akti­on „nexxt“. Zu den Regio­nal­part­nern gehö­ren u. a. die Indus­trie- und Han­dels­kam­mern sowie die Hand­werks­kam­mern des Zen­tral­ver­ban­des des Deut­schen Handwerks.

Betriebs­über­ga­be: Was Arno Esch­bach über den lan­gen Weg vom Ent­schluss, die Esch­bach Ortho­pä­die Schuh­tech­nik abzu­ge­ben, bis zur end­gül­ti­gen Über­ga­be berich­tet, lesen Sie hier.

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