Bestim­mung von Kraft, Beweg­lich­keit und Gleich­ge­wicht nach Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tät – Vor­stel­lung eines neu­ar­ti­gen Diagnostikgeräts

St. John, D. Weizel, K. Orlowski, K.-U. Mrkor, J. Edelmann-Nusser, K. Witte
In einem Kooperationsprojekt wurde ein multifunktionales Diagnostikgerät für Patienten mit Amputationen der unteren Extremitäten entwickelt. Es ermöglicht eine datenbasierte Erfassung der Kraftfähigkeiten der hüftumgebenden Muskulatur, der Beweglichkeit des Stumpfes sowie der Gleichgewichtsfähigkeit mit Prothese. Durch spezielle Software-Module können die Messwerte visualisiert und analysiert werden. 22 Patienten mit einer Oberschenkelamputation wurden im Diagnostikgerät untersucht, um das Gerät in Bezug auf seine praktische Anwendbarkeit zu evaluieren und um charakteristische Leistungsparameter pro Mobilitätsgrad zu erheben. Die Ergebnisse zeigen Tendenzen, um eine Unterscheidung der einzelnen Mobilitätsgrade basierend auf Messparametern zu ermöglichen, und könnten dadurch helfen, die Einteilung in die Mobilitätsgrade bei Menschen mit Amputation einer unteren Extremität zu objektivieren.

Ein­lei­ung

Eine Ampu­ta­ti­on ist defi­niert als die voll­stän­di­ge oder teil­wei­se Ent­fer­nung eines Kör­per­teils. Dabei sind die unte­ren Extre­mi­tä­ten mit ca. 56.000 Ampu­ta­tio­nen pro Jahr deut­lich häu­fi­ger betrof­fen als die obe­ren 1. Ein Drit­tel der Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tä­ten ent­fällt auf die soge­nann­ten Major-Ampu­ta­tio­nen, die alle Ampu­ta­ti­ons­hö­hen ober­halb der Knö­chel­re­gi­on ein­schlie­ßen, vor allem trans­fe­mo­ra­le und trans­ti­bia­le Ampu­ta­tio­nen. Ins­be­son­de­re bei den Major-Ampu­ta­tio­nen bedeu­tet der irrever­si­ble Ver­lust der Extre­mi­tät einen mas­si­ven Ein­schnitt ins Leben und führt neben der hohen psy­chi­schen Belas­tung zu einer Stö­rung der kör­per­li­chen Inte­gri­tät. Denn abhän­gig von der Ampu­ta­ti­ons­hö­he wer­den dabei wich­ti­ge Mus­kel­grup­pen ope­ra­tiv ver­kürzt oder voll­stän­dig ent­fernt, was mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­cen induziert.

So führt etwa der par­ti­el­le Ver­lust der Haupt­mus­kel­grup­pen des Ober­schen­kels dazu, dass sich der Stumpf von Men­schen mit Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on in einer unna­tür­li­chen Abduktions‑, Fle­xi­ons- und nach außen rotier­ten Stel­lung aus­rich­tet 2. Infol­ge der Ver­än­de­rung der Hebel­ver­hält­nis­se inner­halb des Stump­fes kommt es zu Ein­schrän­kun­gen des Bewe­gungs­um­fangs und der Kraftfähigkeiten.

Ein wei­te­res Pro­blem ist die Atro­phie der nicht bean­spruch­ten Stumpf­mus­ku­la­tur, wel­che die Pass­fä­hig­keit des Schaf­tes beein­flusst und somit nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf die Hal­tung und das Gang­mus­ter her­vor­ruft. Sekun­där­schä­den wie chro­ni­sche Rücken­schmer­zen kön­nen dadurch ver­stärkt wer­den und die Lebens­qua­li­tät beträcht­lich min­dern 3. Die­se Pro­ble­ma­ti­ken ver­deut­li­chen die Rele­vanz von Maß­nah­men, um mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­cen und damit ein­her­ge­hen­de Fol­ge­schä­den für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen zu minimieren.

Moti­va­ti­on zum Projekt

Das Feh­len eines spe­zia­li­sier­ten Unter­su­chungs­ge­räts zur Erfas­sung und Doku­men­ta­ti­on des momen­ta­nen Leis­tungs­stands eines Men­schen mit Ampu­ta­ti­on und des­sen Ver­än­de­run­gen über die Zeit war ein Moti­va­ti­ons­fak­tor für die Pro­jekt­idee zur Ent­wick­lung eines mul­ti­funk­tio­na­len Dia­gnos­tik­ge­räts für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tä­ten. Mit Hil­fe die­ses Geräts soll­te sen­sor­ba­siert eine Ana­ly­se der Kraft der hüft­um­ge­ben­den Mus­ku­la­tur und der Stumpf­mus­ku­la­tur durch­führ­bar sowie eine Ana­ly­se der Beweg­lich­keit des Stump­fes und der Gleich­ge­wichts­fä­hig­keit mit Pro­the­se mög­lich sein.

Ein wei­te­res Ziel des Pro­jek­tes war es, auf der Basis der auf die­se Wei­se erho­be­nen objek­ti­ven Mess­pa­ra­me­ter die Ein­stu­fung von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tä­ten in eine der Mobi­li­täts­klas­sen zu unter­stüt­zen. Es wer­den fünf Mobi­li­täts­gra­de (MG) unter­schie­den, die das nach der Ampu­ta­ti­on vor­aus­sicht­lich zu errei­chen­de Akti­vi­täts­ni­veau beschrei­ben. Sie sind wie folgt klassifiziert:

  • MG 0 (nicht gehfähig),
  • MG 1 (Innen­be­reichs­ge­her),
  • MG 2 (ein­ge­schränk­ter Außenbereichsgeher),
  • MG 3 (unein­ge­schränk­ter Außenbereichsgeher),
  • MG 4 (unein­ge­schränk­ter Außen­be­reichs­ge­her mit beson­ders hohen Ansprü­chen) 4.

Die Ein­ord­nung in die Mobi­li­täts­gra­de ist sehr wich­tig, da sie in hohem Maße die Pro­the­sen­ver­sor­gung (Pro­the­sen­schäf­te, Schaft­sys­te­me, Pass­tei­le) bestimmt. In Deutsch­land wer­den zur Fest­stel­lung des Mobi­li­täts­gra­des häu­fig Fra­ge­bö­gen wie der “Pro­fil­erhe­bungs­bo­gen für die Ver­sor­gung mit Bein­pro­the­sen” ver­wen­det, in dem neben Art und Umfang der Ampu­ta­ti­on die Fähig­kei­ten der Pati­en­ten sub­jek­tiv vom Arzt oder vom Ortho­pä­die­tech­ni­ker bewer­tet wer­den. Als objek­ti­ver Para­me­ter wird dabei nur die Bewe­gungs­am­pli­tu­de im Hüft­ge­lenk erfasst; wei­te­re objek­ti­ve Bewer­tungs­kri­te­ri­en feh­len. Für die all­täg­li­che Mobi­li­tät und das Gang­mus­ter von Men­schen mit einer Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on haben aber sowohl die Gleich­ge­wichts­fä­hig­keit als auch die Beweg­lich­keit des Stump­fes und die Kraft der Hüft­mus­ku­la­tur eine gro­ße Bedeu­tung 5. Daher besteht das Ziel des hier vor­ge­stell­ten Pro­jekts dar­in, mit Hil­fe des Dia­gnos­tik­ge­rä­tes Leis­tungs­pa­ra­me­ter der Kraft­fä­hig­keit und der Beweg­lich­keit der ampu­tier­ten Sei­te sowie die Gleich­ge­wichts­fä­hig­keit bezüg­lich bei­der Bei­ne zu quan­ti­fi­zie­ren und die Ein­tei­lung in die Mobi­li­täts­gra­de somit auf objek­ti­ve und mess­ba­re Kri­te­ri­en zu stützen.

Das mul­ti­funk­tio­na­le Diagnostikgerät

In einem Koope­ra­ti­ons­pro­jekt mit der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Bran­den­burg, dem Ortho­pä­die­tech­nik-Her­stel­ler Guen­ther Bio­nics GmbH und dem Sport­ge­rä­te­her­stel­ler Erhard Peu­ker GmbH wur­de die Idee für das mul­ti­funk­tio­na­le Dia­gnos­tik­ge­rät für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tä­ten umge­setzt und zwei Pro­to­ty­pen des Gerä­tes kon­stru­iert und gefer­tigt. In Abbil­dung 1 ist der zweite,-optimierte Pro­to­typ des Dia­gnos­tik­ge­räts dar­ge­stellt. Bei der Kon­zep­ti­on wur­de dar­auf geach­tet, dass die Pati­en­ten kom­for­ta­bel und gestützt im Gerät ste­hen kön­nen. Rea­li­siert wur­de dies mit Hil­fe einer ver­schieb­ba­ren und gepols­ter­ten Becken­hal­te­rung. Die um 270° rotier­ba­re Boden­plat­te ermög­licht eine Kraft­dia­gnos­tik der hüft­um­ge­ben­den Mus­ku­la­tur, ohne dass die Pati­en­ten die Posi­ti­on im Gerät wech­seln müs­sen. Zur Ent­las­tung des Stand­beins in den Pau­sen zwi­schen den Unter­su­chun­gen wur­de ein schwenk­ba­rer Sitz in das Gerät inte­griert. Per Bild­schirm erhält der Pati­ent am Ende der Mes­sung ein Ergeb­nis über den jewei­li­gen Ver­such. Bei der Kraft­ana­ly­se besteht hier­bei auch die Mög­lich­keit eines Live-Feed­backs über die aktu­ell erzeug­ten Kräf­te wäh­rend der Messung.

Um Beweg­lich­keit, Kraft­fä­hig­keit und Gleich­ge­wichts­fä­hig­keit von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen zu quan­ti­fi­zie­ren, wur­de das Gerät mit einer ent­spre­chen­den Sen­so­rik aus­ge­stat­tet. Die Daten wer­den durch spe­zi­ell dafür kon­zi­pier­te Soft­ware­mo­du­le erfasst und visua­li­siert. Mit Hil­fe eines Beschleu­ni­gungs­sen­sors (Plux Wire­less Bio­si­gnals S. A., Lis­sa­bon, Por­tu­gal), der am Stumpf fixiert ist, wird der Bewe­gungs­um­fang der Hüf­te gemes­sen (Abb. 2). Die Kraft­fä­hig­keit des Stump­fes wird durch einen im Kabel­zug ver­bau­ten Kraft­auf­neh­mer des Typs “U9B” (Hot­tin­ger Bald­win Mess­tech­nik GmbH, Darm­stadt, Deutsch­land) bestimmt. Es ist mög­lich, die iso­me­tri­sche Maxi­mal­kraft der hüft­um­ge­ben­den Mus­ku­la­tur sowie die dyna­mi­sche Kraft­aus­dau­er zu mes­sen. Mit Hil­fe der in der dreh­ba­ren Boden­plat­te ein­ge­las­se­nen ein­di­men­sio­na­len Kraft­mess­plat­te (Plux Wire­less Bio­si­gnals S. A., Lis­sa­bon, Por­tu­gal) kön­nen sta­ti­sche und dyna­mi­sche Gleich­ge­wichts­pa­ra­me­ter erho­ben sowie die Gewichts­ver­tei­lung zwi­schen Pro­the­sen­sei­te und erhal­te­ner Sei­te ermit­telt wer­den. Die ein­zel­nen Mess­ver­fah­ren bezüg­lich Beweg­lich­keit, Maxi­mal­kraft und Gleich­ge­wicht wur­den in Eva­lu­ie­rungs­stu­di­en auf die Haupt­gü­te­kri­te­ri­en getes­tet und als vali­de und relia­bel bestätigt.

Unter­su­chungs­ab­lauf

Um poten­zi­ell cha­rak­te­ris­ti­sche Leis­tungs­gren­zen für die ein­zel­nen Mobi­li­tätgra­de zu bestim­men, wur­den in den ein­zel­nen Mess­ver­fah­ren zahl­rei­che Para­me­ter erho­ben. Abbil­dung 3 ver­an­schau­licht den Ablauf einer Mes­sung mit einem Pati­en­ten mit Amputation.

Da im Ergeb­nis­teil auf­grund der Viel­zahl von Para­me­tern nur eini­ge Mess­grö­ßen (iso­me­tri­sche Maxi­mal­kraft­mes­sung, Beweg­lich­keits­mes­sung und Gewichts­ver­tei­lungs­mes­sung) dar­ge­stellt wer­den kön­nen, wer­den auch nur die­se Mess­ver­fah­ren im Detail erläu­tert. Die iso­me­tri­sche Maxi­mal­kraft­mes­sung in Hüft­fle­xi­on, ‑exten­si­on, ‑abduk­ti­on und ‑adduk­ti­on wur­de ste­hend in Neu­tral-Null-Stel­lung des Hüft­ge­lenks durch­ge­führt. Um den Ober­schen­kel­stumpf wur­de so distal wie mög­lich eine Schlau­fe gelegt und die­se mit einem Zug­seil zu einem Gewicht­s­turm ver­bun­den. Der im Zug­seil inte­grier­te Kraft­auf­neh­mer ermit­tel­te die in der iso­me­tri­schen Kon­trak­ti­on erbrach­ten Kräf­te. Auf­grund die­ses Mess­auf­baus konn­ten nur Pati­en­ten mit einer Stumpf­län­ge von min­des­tens 20 cm ver­mes­sen wer­den. Pro Bewe­gungs­rich­tung (Exten­si­on, Fle­xi­on, Abduk­ti­on und Adduk­ti­on) wur­den nach jeweils einem Vor­test drei Haupt­ver­su­che durch­ge­führt. Der erreich­te Kraft­wert des Vor­tests wur­de zunächst als Schwell­wert auf dem Bild­schirm visua­li­siert und soll­te in den Haupt­mes­sun­gen über­schrit­ten wer­den. Die Pro­ban­den konn­ten wäh­rend der Mes­sung ihre aktu­el­len Kraft­wer­te live auf dem Bild­schirm ver­fol­gen. Nach jedem Ver­such erhiel­ten die Pati­en­ten ein direk­tes Feed­back über ihre Kraft­mes­sung (Abb. 2b). Der Schwell­wert wur­de nach Über­schrei­ten des vor­he­ri­gen Schwell­wer­tes neu ange­passt, um so zu gewähr­leis­ten, dass inner­halb der drei Haupt­ver­su­che der maxi­mal mög­li­che Kraft­wert erreicht wur­de. Die Distanz zwi­schen dem Tro­chan­ter major und dem Kraft­an­griffs­punkt (Mit­te der Schlau­fe) dien­te nähe­rungs­wei­se als Hebel­arm, sodass die maxi­mal erzeug­ten Dreh­mo­men­te (Kraft mal Hebel) berech­net wer­den konn­ten, womit eine Ver­gleich­bar­keit in Bezug auf die Posi­tio­nie­rung der Schlau­fe erzeugt wur­de. Für die Beweg­lich­keits­mes­sung wur­de der Beschleu­ni­gungs­sen­sor am dista­len Ende des Ober­schen­kel­stumpfs late­ral platziert.

Aus der Neu­tral-Null-Stel­lung des Hüft­ge­lenks führ­ten die Pati­en­ten den Stumpf lang­sam und so weit wie mög­lich in die Bewe­gungs­rich­tun­gen Exten­si­on, Fle­xi­on, Adduk­ti­on und Abduk­ti­on. Bei der Beweg­lich­keits­mes­sung wur­de auf ein Live-Feed­back ver­zich­tet, damit die Bewe­gungs­aus­füh­rung nicht durch eine Selbst­kor­rek­tur sei­tens der Pati­en­ten unsau­ber wur­de. Des Wei­te­ren unter­stütz­te die Becken­hal­te­rung des Dia­gnos­tik­ge­räts die Pati­en­ten dabei, kom­pen­sa­to­ri­sche Aus­gleichs­be­we­gun­gen zu ver­mei­den. Aus drei Ver­su­chen wur­de jeweils der maxi­ma­le Bewe­gungs­win­kel ermit­telt. Zur Beur­tei­lung der Gewichts­ver­tei­lung zwi­schen Pro­the­sen­sei­te und erhal­te­ner Sei­te stan­den die Pati­en­ten mit jeweils einem Fuß auf der Kraft­mess­plat­te, sodass die Belas­tun­gen pro Sei­te erho­ben wer­den konnten.

Unter­such­te Patienten

An den bei­den Mess-Stand­or­ten in Bran­den­burg und Mag­de­burg konn­ten ins­ge­samt 22 Pati­en­ten mit einer Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on für die Unter­su­chung akqui­riert wer­den (Tab. 1). Auf­grund der limi­tier­ten Pati­en­ten­zah­len in den unte­ren bei­den Mobi­li­täts­gra­den wur­den die­se Grup­pen in der Ana­ly­se zu einer Grup­pe zusam­men­ge­fasst (MG 1/2).

Ergeb­nis­se der Untersuchungen

In Abbil­dung 4 sind die Unter­schie­de in der Maxi­mal­kraft der unter­such­ten Bewe­gungs­rich­tun­gen der Hüf­te zwi­schen den MG-Grup­pen visua­li­siert. Dar­ge­stellt sind die Mit­tel­wer­te der maxi­mal erreich­ten Dreh­mo­men­te. Um die Grup­pen ver­glei­chen zu kön­nen, wur­den die­se Wer­te durch die Kör­per­mas­se (in Kilo­gramm) divi­diert. Es fällt auf, dass die Grup­pe MG 4 im Ver­gleich zu den ande­ren bei­den Grup­pen in allen Bewe­gungs­rich­tun­gen die größ­ten Dreh­mo­men­te erzeugt. Zwi­schen den Grup­pen MG 1/2 und MG 3 sind Unter­schie­de im Dreh­mo­ment nur in Exten­si­on und Abduk­ti­on zu erkennen.

Bei der Beweg­lich­keits­un­ter­su­chung des Stump­fes zeig­ten die Pati­en­ten aus MG 4 vor allem in Hüft­fle­xi­on und ‑abduk­ti­on den größ­ten Bewe­gungs­um­fang (Abb. 5). Die Grup­pen­un­ter­schie­de zwi­schen MG 1/2 und MG 3 bezüg­lich Hüf­tex­ten­si­on und ‑adduk­ti­on waren dage­gen nur mar­gi­nal. Die Ergeb­nis­se der Unter­su­chung der Gewichts­ver­tei­lung sind in Abbil­dung 6 dar­ge­stellt. Ide­al wäre eine sym­me­tri­sche Gewichts­ver­tei­lung zwi­schen der Pro­the­sen­sei­te (50 %) und der erhal­te­nen Sei­te (50 %). In der Grup­pe MG 1/2 wird die erhal­te­ne Sei­te um bis zu 20 % mehr belas­tet als die Pro­the­sen­sei­te. In Grup­pe MG 3 liegt die Mehr­be­las­tung der erhal­te­nen Sei­te bei nur noch 10 %, und in Grup­pe MG 4 ist die Belas­tung fast sym­me­trisch auf bei­de Bei­ne ver­teilt. Es ist erkenn­bar, dass die Abwei­chung von der idea­len Gewichts­ver­tei­lung mit stei­gen­dem Mobi­li­täts­grad klei­ner wird.

Dis­kus­si­on

Mit dem mul­ti­funk­tio­na­len Dia­gnos­tik­ge­rät wur­de ein neu­ar­ti­ges Gerät ent­wi­ckelt, das erst­ma­lig die sen­sor­ba­sier­te Erhe­bung der Leis­tungs­fä­hig­keit der unte­ren Extre­mi­tä­ten von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen erlaubt. Durch die beson­de­ren Funk­tio­nen (Becken­hal­te­rung, rotier­ba­re Boden­plat­te, schwenk­ba­rer Sitz zum Aus­ru­hen) ist das Gerät spe­zi­fisch auf die Bedürf­nis­se von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen zuge­schnit­ten und bie­tet eine kom­for­ta­ble und siche­re Mess­um­ge­bung. Es wur­den spe­zi­el­le Soft­ware-Modu­le kon­zi­piert und ent­wi­ckelt, um die auf­ge­nom­me­nen Daten zu ana­ly­sie­ren und im Live-Modus zu visua­li­sie­ren. Mit Hil­fe geeig­ne­ter Kraft‑, Beweg­lich­keits- und Gleich­ge­wichts­pa­ra­me­ter kann somit eine Ein­schät­zung des gegen­wär­ti­gen Leis­tungs­stan­des erfol­gen. In Zusam­men­ar­beit mit einem Phy­sio­the­ra­peu­ten kön­nen die­se Leis­tungs­pa­ra­me­ter hel­fen, mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­cen und Hal­tungs­feh­ler bei Pro­the­sen­trä­gern auf­zu­de­cken und somit die Basis für ein geziel­tes Trai­ning zu bil­den. Im stan­dar­di­sier­ten Mess-Set­ting kön­nen Ände­run­gen des Leis­tungs­stands doku­men­tiert und ver­gli­chen werden.

Sei­tens der unter­such­ten Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen gab es sehr posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen zum Dia­gnos­tik­ge­rät. Sie beschrie­ben die Mes­sung im Gerät vor allem auf­grund der das Stand­bein ent­las­ten­den Becken­hal­te­rung als ange­nehm und hoben die moti­vie­ren­de Wir­kung des direk­ten visu­el­len Feed­backs wäh­rend der Kraft­mes­sung her­vor. Die Nut­zer­ak­zep­tanz der Unter­su­chungs­lei­ter, die mit dem Dia­gnos­tik­ge­rät arbei­te­ten, wur­de eben­falls über­prüft. Die­se sahen vor allem in der objek­ti­ven Bestim­mung von Kraft, Beweg­lich­keit und Gleich­ge­wicht eine gro­ße bis sehr gro­ße Bedeut­sam­keit des Dia­gnos­tik­ge­räts für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen. Auch die gene­rel­le Hand­ha­bung des Geräts sowie die Benut­zer­freund­lich­keit der Soft­ware wur­den für alle drei Unter­su­chungs­va­ri­an­ten als gut bewer­tet. Schwie­rig­kei­ten sahen die Nut­zer nur dar­in, die Mes­sun­gen mit nur einem Unter­su­cher durch­zu­füh­ren, da neben der Bedie­nung des Mess-PCs auf die kor­rek­te Bewe­gungs­aus­füh­rung der Pati­en­ten geach­tet wer­den muss.

Mit den bei­den ent­wi­ckel­ten Pro­to­ty­pen des mul­ti­funk­tio­na­len Dia­gnos­tik­ge­rä­tes wur­den für die Erpro­bung umfang­rei­che Unter­su­chun­gen mit Men­schen mit einer Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on durch­ge­führt. Das Ziel war es, cha­rak­te­ris­ti­sche Para­me­ter für jeden Mobi­li­täts­grad zu bestim­men, um die Ein­tei­lung mit objek­ti­ven Daten zu stüt­zen. Die Ana­ly­se der ein­zel­nen Para­me­ter zeigt zumin­dest Ten­den­zen auf, die es ermög­li­chen, Men­schen mit Ampu­ta­ti­on hin­sicht­lich der ein­zel­nen Mobi­li­täts­gra­de basie­rend auf objek­ti­ven Mess­da­ten von­ein­an­der zu unter­schei­den. Bezüg­lich der Maxi­mal­kraft der hüft­um­ge­ben­den Mus­ku­la­tur und der Beweg­lich­keit des Stump­fes sowie hin­sicht­lich der Gewichts­ver­tei­lung waren vor allem für die Grup­pe mit MG 4 erkenn­ba­re Unter­schie­de gegen­über den ande­ren bei­den Grup­pen vor­han­den. Bei der Maxi­mal­kraft­mes­sung konn­ten aller­dings auch Unter­schie­de in Exten­si­on und Abduk­ti­on zwi­schen den Grup­pen MG 1/2 und MG 3 beob­ach­tet wer­den. Die Kraft der Abduk­to­ren ist von gro­ßer Rele­vanz, da schwa­che Hüft­ab­duk­to­ren, die im Ein­bein­stand das Becken nicht hori­zon­tal sta­bi­li­sie­ren kön­nen, zum Absin­ken des Beckens zur Gegen­sei­te und damit ein­her­ge­hend zum soge­nann­ten Duchen­ne-Hin­ken (“Ent­las­tungs­hin­ken”) füh­ren 6. Da schon eine gerin­ge Schwä­che der Hüft­ab­duk­to­ren Hal­tungs­feh­ler indu­ziert, ist es wich­tig, die mus­ku­lä­ren Defi­zi­te von Men­schen mit Ober­schen­kel- und Unter­schen­kel­am­pu­ta­ti­on zu detek­tie­ren und zu quan­ti­fi­zie­ren. Mit Hil­fe des hier vor­ge­stell­ten Dia­gnos­tik­ge­räts ist das mög­lich. Aller­dings las­sen sich die ermit­tel­ten Kraft­fä­hig­kei­ten anhand der erreich­ten maxi­ma­len Dreh­mo­men­te in den vier Bewe­gungs­rich­tun­gen der Hüf­te nur im Ver­gleich zu ande­ren Pati­en­ten bewer­ten. Um Aus­sa­gen zu täti­gen, wie mus­kel­kräf­tig die stumpf­um­ge­ben­de Mus­ku­la­tur ist, müss­ten Refe­renz­da­ten mit einer Viel­zahl von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen erho­ben wer­den. Eine Erhö­hung der Pati­en­ten­zahl wäre eben­so nötig, um kon­kre­te, cha­rak­te­ris­ti­sche Wer­te für die ein­zel­nen Mobi­li­täts­gra­de zu erfas­sen, sodass die­se Wer­te unter­stüt­zend zur Ein­tei­lung in die Mobi­li­täts­gra­de ver­wen­det wer­den kön­nen. In die­ser Stu­die konn­ten ins­be­son­de­re für die Mobi­li­täts­gra­de 1 und 2 noch nicht genü­gend Pati­en­ten ein­ge­schlos­sen wer­den. Grün­de kön­nen in der gerin­ge­ren Mobi­li­tät und Akti­vi­tät zu fin­den sein, die unter Umstän­den auch eine gerin­ge­re Moti­va­ti­on für sol­che Akti­vi­tä­ten zur Fol­ge haben könnten.

Fazit und Ausblick

Abschlie­ßend kann fest­ge­stellt wer­den, dass mit dem hier vor­ge­stell­ten Pro­jekt­er­geb­nis ein neu­ar­ti­ges mul­ti­funk­tio­na­les sen­sor­ba­sier­tes Dia­gnos­tik­ge­rät für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tät vor­liegt, mit dem Leis­tungs­pa­ra­me­ter bezüg­lich Kraft, Beweg­lich­keit und Gleich­ge­wicht erho­ben und ana­ly­siert wer­den kön­nen. Die­se objek­ti­ven Mess­grö­ßen kön­nen The­ra­peu­ten Auf­schluss über poten­zi­el­le Defi­zi­te von Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen ver­mit­teln und sind damit für die Redu­zie­rung von mus­ku­lä­ren Dys­ba­lan­cen, Hal­tungs­feh­lern und Schmer­zen­s­ehr wich­tig. Eben­falls kön­nen die­sePa­ra­me­ter die Ein­tei­lung in die Mobi­li­täts­gra­de ver­bes­sern, indem die­sub­jek­ti­ve Beur­tei­lung durch Fra­ge­bö­gen mit objek­ti­ven und für die Mobi­li­tät rele­van­ten Para­me­tern bezüg­lich Kraft­fä­hig­kei­ten, Beweg­lich­keit und Gleich­ge­wicht ergänzt wer­den. Im Aus­blick könn­te der Anwen­dungs­be­reich des Dia­gnos­tik­ge­räts auf­grund der Viel­zahl sei­ner Mess­mög­lich­kei­ten auf vie­le Krank­heits­bil­der der unte­ren Extre­mi­tä­ten – bei­spiels­wei­se Pati­en­ten mit einer Knie- oder Hüft­to­tal­en­do­pro­the­se – erwei­tert werden.

Geför­dert wur­de das Pro­jekt durch das Zen­tra­le Inno­va­ti­ons­pro­gramm Mit­tel­stand (ZIM) des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft und Ener­gie (ZF4096303TS6: “Mul­ti­funk­tio­na­les Dia­gnos­tik­ge­rät für Pati­en­ten mit Amputationen”).

Für die Autoren:
Ste­fa­nie John, M. Sc.
Wis­sen­schaft­li­che Mitarbeiterin
Otto-von-Gue­ri­cke-Uni­ver­si­tät Magdeburg
Bereich Sport­wis­sen­schaft –
Struk­tur­be­reich Sport und Technik/ Bewegungswissenschaft
Uni­ver­si­täts­platz 2
39106 Mag­de­burg
stefanie.john@ovgu.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
John ST, Wei­zel D, Orlow­ski K, Mrkor K‑U, Edel­mann-Nus­ser J, Wit­te K. Bestim­mung von Kraft, Beweg­lich­keit und Gleich­ge­wicht nach Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tät – Vor­stel­lung eines neu­ar­ti­gen Dia­gnos­tik­ge­räts. Ortho­pä­die Tech­nik, 2020; 71 (7): 30–35

 

MG 1/2
MG 3
MG 4
Anzahl (n = 22)
4
6
12
Alter [Jah­re]
69,8 ± 13,1
63,5 ± 11,6
49,3 ± 12,3
Grö­ße [cm]
177,5 ± 14,1
174,8 ± 7,8
182,9 ± 7,0
Gewicht [kg]
88,5 ± 20,4
78,1 ± 10,9
91,9 ± 16,4
Post-Ampu­ta­ti­on [Jah­re]
33,0 ± 30,1
20,5 ± 13,8
13,0 ± 13,1
Tab. 1 Anthro­po­me­tri­sche Daten (Mit­tel­wer­te und Stan­dard­ab­wei­chun­gen) der Pro­ban­den der ein­zel­nen Mobi­li­täts­gra­de (MG).
  1. Spo­den M. Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tät in Deutsch­land – Regio­na­le Ana­ly­se mit Kran­ken­haus­ab­rech­nungs­da­ten von 2011 bis 2015. Das Gesund­heits­we­sen, 2019; 81 (5): 422–430
  2. Baum­gart­ner R. Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on. Ope­ra­ti­ve Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie, 2011; 23 (4): 296–305
  3. Was­ser JG, Vin­cent KR, Her­man DC, Vin­cent HK. Poten­ti­al lower extre­mi­ty ampu­ta­ti­on-indu­ced mecha­nisms of chro­nic low back pain: role for focu­sed resis­tance exer­cise. Disa­bi­li­ty and Reha­bi­li­ta­ti­on, 2019: 1–9. doi: 10.1080/09638288.2019.1610507 [online ahead of print] 
  4. Grei­temann B. Tech­ni­sche Ortho­pä­die: Pro­the­tik an der unte­ren Extre­mi­tät am Bei­spiel der Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on. Zeit­schrift für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie, 2017; 155 (6): 737–749
  5. Esquen­a­zi A, DiGi­a­co­mo R. Reha­bi­li­ta­ti­on after ampu­ta­ti­on. Jour­nal of the Ame­ri­can Podia­tric Medi­cal Asso­cia­ti­on, 2001; 91 (1): 13–22
  6. Mensch G, Kaphingst W. Phy­sio­the­ra­pie und Pro­the­tik nach Ampu­ta­ti­on der unte­ren Extre­mi­tät. Ber­lin, Hei­del­berg: Sprin­ger, 1998
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