Instrumentelle Ganganalyse
Eine vielseitige diagnostische Methode zur Therapieentscheidung und Verlaufskontrolle bei komplexen Gangstörungen ist die instrumentelle dreidimensionale markerbasierte Ganganalyse. Typische Patienten für eine Ganganalyse sind Patienten mit Zerebralparese oder sonstigen neurologischen und orthopädischen Pathologien. Es können neben Zeit-Raum-Parametern wie Ganggeschwindigkeit, Schrittlänge, Schrittdauer und Schrittfrequenz auch Gelenkwinkelstellungen beim Gehen (Kinematik), deren Momente und Leistungen (Kinetik) sowie Muskelaktivitäten (mittels Elektromyographie) erfasst werden. Eine klinische Indikation mit gezielter Fragestellung wird meist bereits in der ärztlichen Sprechstunde festgelegt. Beim Besuch im Ganglabor folgen dann Datenerhebung, Datenauswertung und Berichtgebung (Abb. 1).
Funktionelle Auswirkungen von Orthesen und Schuhen
Eine häufig auftretende Fragestellung bei der Überweisung von Patienten für eine Ganganalyse bezieht sich auf den Einfluss einer Orthese für die untere Extremität und/oder von Schuhen auf das Gangbild. Es handelt sich dann in der Regel um Fuß- oder Unterschenkelorthesen sowie um Schuhe mit oder ohne personenspezifische Schuhzurichtung. Die instrumentelle dreidimensionale Ganganalyse ermöglicht eine qualitative Beurteilung des Bewegungsablaufs durch eine quantitative Bestimmung von Gelenkbewegungen (Kinematik) und den dabei wirkenden Kräften und Gelenkmomenten (Kinetik) 1. Es lässt sich damit der biomechanische Einfluss verschiedener Beinorthesen und/oder Schuhe auf den Bewegungsapparat beurteilen. Obwohl die funktionellen Auswirkungen von Fuß- oder Unterschenkelorthesen und/ oder Schuhen auf das Gangbild gut zu erfassen sind, gibt es auch Fehlerquellen bei Datenaufnahme, ‑auswertung und ‑interpretation. Diese werden im Folgenden beschrieben.
Fehlerquellen in der Kinematik
Zur Bestimmung der dreidimensionalen Gelenkwinkelstellungen während des Gehens werden Marker (d. h. kleine reflektierende Kugeln) an definierten Stellen mit doppelseitigem Klebeband auf der Haut befestigt (nur bei markerbasierten Systemen), wie im ersten Bild von Abbildung 1 gezeigt wird. Die tatsächlichen Gelenkmittelpunkte liegen allerdings innerhalb des Körpers und sind daher nur indirekt mittels Marker von außen zu bestimmen. Es muss deshalb bei der korrekten Platzierung der Marker mit größter Sorgfalt gearbeitet werden (Abb. 2). Eine Annahme bei der Kinematikberechnung besteht unter anderem darin, dass die durch Marker definierten Körpersegmente in sich starr sind.
Hier entsteht ein Problem, wenn über den Knochen und Gelenken viel Gewebe liegt (Muskeln, subkutanes Gewebe, Haut), zum Beispiel bei Personen mit Übergewicht. Das Palpieren bestimmter anatomischer Punkte sowie das Ertasten der Knochen ist dadurch erschwert. Darüber hinaus bewegen sich die auf der Haut befestigten Marker verstärkt relativ zum knöchernen Skelett, und die als starre Körper betrachteten Körpersegmente verhalten sich dabei nicht wirklich starr. Die Bestimmung der Körpersegmente und der Gelenkmittelpunkte wird ungenauer und somit auch die Datenerhebung und die daraus folgenden Kinematik- und Kinetikberechnungen 2.
Eine ähnliche Situation entsteht beim Tragen von Fuß- oder Unterschenkelorthesen und/oder Schuhen. Es ist meist nicht möglich, die Marker im Bereich des Hilfsmittels direkt auf die Haut zu kleben. Sie werden stattdessen auf den Schuhen oder Orthesen befestigt. Damit entsteht eine gewisse Messungenauigkeit bei der Bestimmung der Gelenkmittelpunkte und der Bewegungsachsen. Die zwei größten Fehlerquellen bei allen Ganganalysen mit Orthesen und/oder Schuhen sind allerdings einerseits die Position bzw. die Bewegung des Fußes in der Orthese oder dem Schuh und andererseits die Bewegungen zwischen Orthese und Schuh. In der Regel wird über die Markerplatzierung die Bewegung des Schuhs und/oder der Orthese und nicht des Fußes zum angrenzenden Körpersegment bestimmt. Wenn Schuh und/oder Orthese nicht richtig passen, ist die Bewegungsanalyse fehlerhaft. Dies ist deutlich in Abbildung 3 und 4 ersichtlich: Der offensichtliche Fehler in Abbildung 4 ist zu vermeiden, wenn beim Patienten Orthesen und Schuhe als Einheit betrachtet werden können. Das Gesamtkonzept muss stimmen und als Einheit funktionieren.
Bei einer Ganganalyse sind auch die personenspezifischen Anpassungen der orthopädischen Hilfsmittel oder Schuhe zu berücksichtigen. Wenn entweder am Schuh oder an der Orthese eine Sohlen- oder Fersenerhöhung vorhanden ist, so ist es wichtig, dies bei der Markerplatzierung zu berücksichtigen. Abbildung 5a zeigt am linken Schuh im Vergleich zum rechten Schuh eine Schuhsohlenerhöhung von 3,7 cm. Die Fußsohle im Schuh ist damit 3,7 cm weiter vom Boden entfernt. Für dieses spezifische Fallbeispiel werden die Fußmarker, die bei diesem Modell die Fußsohle und nicht die Schuhsohle darstellen sollen, ebenfalls um 3,7 cm erhöht; ähnlich bei einer Fersenerhöhung von 7,5 cm an der Orthese in Abbildung 5b. Um die Fußsohle durch Marker darzustellen, wird der Fersenmarker (Symbolisierung des Fersenbeins) so auf der Orthese platziert, dass dessen Erhöhung mittels der gleichen Distanz wiedergegeben wird. In den resultierenden kinematischen Gangkurven (Abb. 6) ist dann sowohl barfuß als auch mit Orthesen und Schuhen eine Fußstellung in Plantarflexion während des gesamten Gangzyklus wahrzunehmen.
Folgende drei weitere Punkte sind bei der kinematischen Datenaufnahme mit Beinorthesen und/oder Schuhen zusätzlich zu berücksichtigen:
- Falls Marker auf Stoff oder Kleidung geklebt werden müssen, die die Haut bedecken (z. B. ein Patient mit niedrigen Straßenschuhen und Socken), so ist es empfehlenswert, zunächst den Stoff (z. B. Socken) an der Markerposition mit doppelseitigem Klebeband auf der Haut zu befestigen. In einem nächsten Schritt kann dann der Marker auf den fixierten Stoff (Socken) geklebt werden. Auf diese Weise können weitestgehend die Bewegungen des Stoffs und somit des Markers relativ zur Haut eliminiert werden.
- Falls ein Patient Schuhe mit reflektierendem Material trägt (wie bei Sportschuhen, aber auch bei Kinderschuhen und Stabilschuhen heute allgemein üblich), müssen diese Teile abgedeckt werden, z. B. mit Kreppband, um Reflexionen und Markervertauschungen bei der Aufnahme zu vermeiden.
- Für bestimmte biomechanische Modelle werden klinische Messwerte benötigt, die helfen, die Gelenkmittelpunkte zu berechnen, etwa beim weit verbreiteten Plug-in-Gait-Modell, bei dem die Knöchelbreite zur Bestimmung des Sprunggelenkmittelpunkts gemessen wird 3. Falls Schuhe oder Orthesen die Fußknöchel verdecken, werden die Marker anstatt auf der Haut auf den Schuhen oder Orthesen befestigt. In diesen Fall muss die Knöchelbreite neu ermittelt werden.
Fehlerquellen in der Kinetik
Die Gangkinetik verbindet die mit einer Kraftmessplatte ermittelten Bodenreaktionskräfte und die mit dem optischen System („motion capture“) gewonnenen kinematischen Daten der Bewegung. Aufgrund einer bekannten Kinematik der einzelnen als starr angenommenen Körpersegmente kann man unter der Annahme bekannter Massen und Massenträgheitsmomente mittels der inversen Dynamik die Momente zwischen den Körpersegmenten berechnen. Diese Massenträgheitsmomente und die Massenverteilung in Bezug auf die Drehachse verändern sich jedoch durch das zusätzliche Gewicht der Orthese und/oder des Schuhs. Sowohl bei der klinischen Ganganalyse als auch in der Wissenschaft ist es allgemein akzeptiert, bei einem Vergleich zwischen Barfußgehen und Gehen mit Orthesen und Schuhen keine Anpassung der anthropometrischen Daten des Fuß- oder/und Unterschenkelsegments vorzunehmen. Diese Entscheidung ist sicherlich gerechtfertigt, wie die Studie von Dillon et al. zeigt 4. In der Standphase gibt es kaum Unterschiede in den Moment- und Leistungsdaten mit und ohne Orthese, weil das Eigengewicht von Fuß und Orthese/Schuh sowie der veränderte Segmentschwerpunkt und das Trägheitsmoment im Vergleich zur Bodenreaktionskraft sehr klein sind 5. In der Schwungphase sind jedoch Änderungen der kinetischen Daten in Knie und Hüfte zwischen Barfußgehen und Gehen mit Orthesen vorhanden, da hier die großen externen Kräfte der Bodenreaktionskraft fehlen.
Sonstige Fehlerquellen
Die häufigsten Fehlerquellen beim Vergleich einer Ganganalyse mit Orthesen und/oder Schuhen mit dem Barfußgehen liegen wie dargestellt in den Berechnungen der Kinematik zur Bestimmung der Mittelpunkte und Bewegungsachsensysteme der Gelenke. Doch es gibt noch weitere Unterschiede in den Datenaufnahmen zwischen Barfußgehen und Gehen mit Beinorthesen. Mittels einer Oberflächen-Elektromyographie lässt sich die Aktivität einiger Muskeln der unteren Extremitäten bestimmen. Diese Muskeln, wie der M. tibialis anterior, der M. peroneus longus, der M. soleus oder der M. gastrocnemius, können dabei durch eine Unterschenkelorthese verdeckt sein. Eine Elektrodenplatzierung unter der Orthese ist jedoch in der Regel nicht möglich, und somit gibt es keinen Vergleich zwischen dem Gehen mit und ohne Orthese. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Ganggeschwindigkeit: Manche Patienten haben beim Gehen mit Orthesen und Schuhen eine höhere Ganggeschwindigkeit, wodurch wiederum die kinematischen, kinetischen und elektromyographischen Daten beeinflusst werden 6 7 8.
Klinik versus Wissenschaft
Die instrumentelle dreidimensionale Ganganalyse ist vielerorts eine klinische Untersuchungsmethode, die routinemäßig durchgeführt wird. Die beschriebenen Fehlerquellen, Einschränkungen und Anpassungen für eine Ganganalyse mit Orthesen und/oder Schuhen im Vergleich zu einer Barfuß-Analyse gelten generell sowohl für die klinische als auch für die wissenschaftliche Ganganalyse. Allerdings wird bei wissenschaftlichen Fragestellungen bezüglich der Auswirkungen von Orthesen und/oder Schuhen auf die Gangbiomechanik häufig mehr Aufwand betrieben. So werden z. B. spezielle Orthesen für wissenschaftliche Zwecke entwickelt 9. Auch werden Löcher in die Schuhe geschnitten, um die Fußmarker möglichst direkt auf der Haut platzieren 10 und somit die Kinematik möglichst genau messen zu können.
Fazit
Die Biomechanik des Gehens mit Orthesen und/oder Schuhen kann durch eine instrumentelle dreidimensionale markerbasierte Ganganalyse ermittelt werden. Dabei sind gewisse Überlegungen zu berücksichtigen: Marker auf den Orthesen und/oder Schuhen anstatt direkt auf der Haut führen zu Fehlern in der Kinematik. Weiter kann die Ungewissheit über Fußstellung und Fußbewegung in der Orthese respektive im Schuh zu unrealistischen Daten führen. Wo Orthesen die Haut bedecken, kann von den Muskeln keine Elektromyographie abgeleitet werden, und das Aktivitätsmuster bestimmter Muskeln fehlt. Zudem muss berücksichtigt werden, dass reflektierende Stellen am Schuh abgedeckt werden, um Reflexionen und Markervertauschungen bei der Aufnahme zu vermeiden. Wichtig ist auch zu wissen, dass die Ganggeschwindigkeit mit Orthesen und/oder Schuhen im Vergleich zum Barfußgehen verändert sein kann, wodurch bestimmte Gangparameter beeinflusst werden. Allerdings kann festgestellt werden, dass das Gewicht der Orthese und/oder des Schuhs sowie der geänderte Segmentmassenschwerpunkt für die Kinetik in der Standphase vernachlässigt werden können.
Die Autorin:
Dr. Jacqueline Romkes
Labor für Bewegungsuntersuchungen
Universitäts-Kinderspital beider Basel
CH-4031 Basel
j.romkes@unibas.ch
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Romkes J. Berücksichtigung von Orthesen und/oder Schuhen bei der Ganganalyse. Orthopädie Technik, 2015; 66 (12): 1–5
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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