Der „technologische Psychologe“, wie ihn Kongresspräsident Dr.-Ing. Merkur Alimusaj mit einem Augenzwinkern charakterisierte, stellte dem Auditorium die Ergebnisse seiner Studie aus dem Chemnitzer DFG-Sonderforschungsbereich Hybrid Societies (DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft, Anm. d. Red.) vor – auf seine typisch frische, direkte und selbstironische Art.
„Was macht das ganze High-Tech mit den netten Behindis?“ war denn auch seine salopp formulierte Kernfragestellung, sprich: Welche Stereotypen gibt es gegenüber Träger:innen bionischer Prothesen? Verbunden mit dem differenzierten, kritischen Blickwinkel: Welche zwei Seiten der Medaille gehen mit der Digitalisierung für Menschen mit Beeinträchtigungen einher?
Anhand eines sozialpsychologischen Modells erläuterte der Psychologe, der in seiner Keynote als Träger einer Hightech-Prothesenhand gleichermaßen auch als Anwender und Patient zu den OTWorld-Besucher:innen sprach, dass Menschen mit Behinderung gemäß des Stereotyps gute Absichten, aber Inkompetenz unterstellt werden. Wie der Wissenschaftler auch am eigenen Leib erlebt hat, wenn Kellner anbieten, ihm das Fleisch zu schneiden. „Ich erlebe das als Unverschämtheit. Ich habe eine Hand, die kostet über 50.000 Euro. Ich kann mein Fleisch selber schneiden. Stehe ich dann aber in der U‑Bahn, in der einen Hand ein Handy, die andere Hand am Haltegriff, dann wird aus einem ‚du Armer‘ ein ‚oh krass‘.“ Mithilfe des modernen Hilfsmittels werde der Stereotyp kompensiert. „Auf einmal wird einem mit positivem Interesse begegnet. Man ist dann ‚cool und behindert‘. Technik strahlt Kompetenz aus. Ich würde mir wünschen, das würde auch ohne 50.000 Euro gehen.“
Neben der Gefahr, einen neuen Stereotyp – den bedrohlichen Cyborg – zu generieren, sensibilisierte Meyer ebenso dafür, sich nicht auf technische Lösungen für den behinderten Körper zu verengen. Der selektive Blick auf den rein technischen Diskurs nehme die nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft aus der Verantwortung und lasse die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Barrierefreiheit aus dem Blick geraten. „Alle profitieren von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum“, lautete Meyers Schlussplädoyer.
„Wir dürfen nicht nur die Technik sehen, sondern auch das Thema Inklusion dahinter“, war auch der „zentrale Lerneffekt“ für Kongresspräsident Merkur Alimusaj, der sich so begeistert von der Keynote zeigte, dass er „mit dem Protokoll brach“ und für das Auditorium eine Fragerunde eröffnete. Und vielleicht dürfen sich die OTWorld-Besucher:innen 2024 auf einen Nachschlag freuen? „Laden Sie mich nächstes Mal wieder ein, dann zeige ich Ihnen ein Video“, schwärmte Bertolt Meyer von seiner in dieser Woche angelaufenen Studie, in der gesunde Menschen mithilfe von VR-Brillen zu virtuellen Prothesenträgern werden.
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