Gesell­schaft nicht aus inklu­si­ver Ver­ant­wor­tung entlassen

Eine bionische Prothese, dessen Handgelenk sich um 360 Grad drehen lässt – „Das ist nicht besonders nützlich, zeigt aber, dass man sich nicht dauerhaft mit den Grenzen der Biologie auseinandersetzen muss“. Wer Prof. Dr. Bertolt Meyer nicht bei der Eröffnungsfeier am Dienstagnachmittag kennengelernt hatte, bekam auch bei seiner Keynote am Mittwoch einen humorigen Einblick darin, was die extrem fortschrittlichen Hilfsmittel heutzutage können, „was bis vor wenigen Jahren als absolute Science-Fiction gegolten hätte“, wie der Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität (TU) Chemnitz in seinen Vortrag „Digitalisierung: Chancen und Risiken für Menschen mit Beeinträchtigungen“ einleitete.

Der „tech­no­lo­gi­sche Psy­cho­lo­ge“, wie ihn Kon­gress­prä­si­dent Dr.-Ing. Mer­kur Ali­mus­aj mit einem Augen­zwin­kern cha­rak­te­ri­sier­te, stell­te dem Audi­to­ri­um die Ergeb­nis­se sei­ner Stu­die aus dem Chem­nit­zer DFG-Son­der­for­schungs­be­reich Hybrid Socie­ties (DFG = Deut­sche For­schungs­ge­mein­schaft, Anm. d. Red.) vor – auf sei­ne typisch fri­sche, direk­te und selbst­iro­ni­sche Art.

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„Was macht das gan­ze High-Tech mit den net­ten Behin­dis?“ war denn auch sei­ne salopp for­mu­lier­te Kern­fra­ge­stel­lung, sprich: Wel­che Ste­reo­ty­pen gibt es gegen­über Träger:innen bio­ni­scher Pro­the­sen? Ver­bun­den mit dem dif­fe­ren­zier­ten, kri­ti­schen Blick­win­kel: Wel­che zwei Sei­ten der Medail­le gehen mit der Digi­ta­li­sie­rung für Men­schen mit Beein­träch­ti­gun­gen einher?

Anhand eines sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Modells erläu­ter­te der Psy­cho­lo­ge, der in sei­ner Key­note als Trä­ger einer High­tech-Pro­the­sen­hand glei­cher­ma­ßen auch als Anwen­der und Pati­ent zu den OTWorld-Besucher:innen sprach, dass Men­schen mit Behin­de­rung gemäß des Ste­reo­typs gute Absich­ten, aber Inkom­pe­tenz unter­stellt wer­den. Wie der Wis­sen­schaft­ler auch am eige­nen Leib erlebt hat, wenn Kell­ner anbie­ten, ihm das Fleisch zu schnei­den. „Ich erle­be das als Unver­schämt­heit. Ich habe eine Hand, die kos­tet über 50.000 Euro. Ich kann mein Fleisch sel­ber schnei­den. Ste­he ich dann aber in der U‑Bahn, in der einen Hand ein Han­dy, die ande­re Hand am Hal­te­griff, dann wird aus einem ‚du Armer‘ ein ‚oh krass‘.“ Mit­hil­fe des moder­nen Hilfs­mit­tels wer­de der Ste­reo­typ kom­pen­siert. „Auf ein­mal wird einem mit posi­ti­vem Inter­es­se begeg­net. Man ist dann ‚cool und behin­dert‘. Tech­nik strahlt Kom­pe­tenz aus. Ich wür­de mir wün­schen, das wür­de auch ohne 50.000 Euro gehen.“

Neben der Gefahr, einen neu­en Ste­reo­typ – den bedroh­li­chen Cyborg – zu gene­rie­ren, sen­si­bi­li­sier­te Mey­er eben­so dafür, sich nicht auf tech­ni­sche Lösun­gen für den behin­der­ten Kör­per zu ver­en­gen. Der selek­ti­ve Blick auf den rein tech­ni­schen Dis­kurs neh­me die nicht­be­hin­der­te Mehr­heits­ge­sell­schaft aus der Ver­ant­wor­tung und las­se die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­be Bar­rie­re­frei­heit aus dem Blick gera­ten. „Alle pro­fi­tie­ren von Bar­rie­re­frei­heit im öffent­li­chen Raum“, lau­te­te Mey­ers Schlussplädoyer.

„Wir dür­fen nicht nur die Tech­nik sehen, son­dern auch das The­ma Inklu­si­on dahin­ter“, war auch der „zen­tra­le Lern­ef­fekt“ für Kon­gress­prä­si­dent Mer­kur Ali­mus­aj, der sich so begeis­tert von der Key­note zeig­te, dass er „mit dem Pro­to­koll brach“ und für das Audi­to­ri­um eine Fra­ge­run­de eröff­ne­te. Und viel­leicht dür­fen sich die OTWorld-Besucher:innen 2024 auf einen Nach­schlag freu­en? „Laden Sie mich nächs­tes Mal wie­der ein, dann zei­ge ich Ihnen ein Video“, schwärm­te Ber­tolt Mey­er von sei­ner in die­ser Woche ange­lau­fe­nen Stu­die, in der gesun­de Men­schen mit­hil­fe von VR-Bril­len zu vir­tu­el­len Pro­the­sen­trä­gern werden.

 

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