Einleitung: Der menschliche Gang als Referenz
Die Physiologie des menschlichen Ganges ist die Referenz zur Beurteilung der Versorgungsqualität. Ebenso lassen sich von der Physiologie des Ganges Funktionen ableiten, die es grundsätzlich zu erfüllen gilt. Um das Thema zu strukturieren, ist es sinnvoll, den menschlichen Gang auf seine wesentlichen Funktionen zu reduzieren. Der Gangzyklus mit den 8 Gangphasen nach RLANRC 1 erfüllt diese Anforderungen.
Abgeleitet von der Stand- und Schwungphase des Ganges ergeben sich drei Hauptaufgabenfelder: die Gewichtsübernahme, der Einbeinstand sowie die Schwungbein-Vorwärtsbewegung. Abbildung 1 zeigt, wie die einzelnen Gangphasen zuzuordnen
sind.
Näher betrachtet zeigt sich, dass die Gewichtsübernahme eine der schwierigsten Aufgaben darstellt: Es muss die Stabilität der Extremität bei gleichzeitiger Stoßdämpfung und möglichst optimaler Ausnutzung des Schwunges von der initialen Standphase bis hin zur Stoßdämpfungsphase gegeben sein. Das heißt, die plötzlich wirkenden Kräfte müssen kontrolliert und reguliert werden.
Der Einbeinstand vom Beginn der mittleren Standphase bis zur terminalen Standphase erfordert höchste Sicherheit der lasttragenden Extremität und des Rumpfes sowie die Erhaltung der Fortbewegung.
Die Schwungbein-Vorwärtsbewegung findet statt von der Vorschwungphase bis zur terminalen Schwungphase. Hier bestehen die Anforderungen im Wesentlichen darin, Bodenfreiheit des Fußes und ein freies Vor- und Durchschwingen der Extremität zu gewährleisten 2. Daraus ergeben sich folgende Anforderungen an ein Fußpassteil:
- „Sicherheit”; Stabilität der Extremität muss gewährleistet werden durch:
- die Wiederherstellung der Bodenunterstützungsfläche
- die Wiederherstellung von Vor- und Rückfußhebel
- Stoßdämpfung
- Erhaltung der Fortbewegung, Energierückgabe
- Multiaxialität
- Dorsalextension in Schwungphase
Weitere, grundsätzliche Anforderungen:
- Wiederherstellung des kosmetischen Erscheinungsbildes
- Anpassbarkeit an verschiedene Absatzhöhen
Auswahlkriterien für Fußpassteile
Die vom versorgenden Orthopädie-Techniker durchzuführende Zustandserhebung liefert wertvolle Erkenntnisse über die Anforderungen an ein Fußpassteil, um eine Vorauswahl treffen zu können. Folgende Parameter sind als Basisinformation zu erheben:
- Aktivitätsgrad
- Körpergewicht
- Fußseite
- Fußlänge/-größe
Mit diesen Kriterien lässt sich eine Fußauswahl treffen, die korrekt in Bezug auf die Belastbarkeit des Fußpassteiles ist. Über die Eigenschaften des Fußpassteiles sagt dies jedoch noch nichts aus. Ein spezifischeres Anforderungsprofil muss erstellt werden, wobei auch die individuelle Alltagssituation des Prothesenträgers genau analysiert werden muss. Dazu zählen Aspekte wie:
- Amputationshöhe (Wie viele Gelenke müssen prothetisch ersetzt werden?)
- Stumpfsituation (Stumpflänge, Endbelastbarkeit, Haut)
- Begleiterkrankungen
- häusliches Umfeld/Topografie am Wohnort (Treppen, Schrägen, Garten usw.)
- private Faktoren (Kinder, zu pflegende Angehörige, Sport usw.)
- berufliche Situation/Arbeitsplatz (Traglasten, stehende Tätigkeit, häufige Richtungswechsel beim Laufen usw.).
Beispiele
- Die Beschaffenheit eines empfindlichen Stumpfes oder eine Arthrose in höheren Gelenken der Extremität kann eine zusätzliche Dämpfungseinheit erfordern.
- Die Arbeitstätigkeit erfolgt überwiegend stehend und gehend auf kurzen Distanzen mit häufigen Abbremsphasen und Richtungswechseln. Hier kann ein Rotationselement auf Dauer eine Entlastung des Stumpfes bewirken.
- Ist eine Versorgung mit gesperrtem oder fixiertem Kniegelenk erforderlich (ob Prothese oder Orthoprothese), so kann ein Fußpassteil durch passive oder aktive Dorsalextension die Bodenfreiheit verbessern, Ausgleichsbewegungen und das Sturzrisiko verringern.
Sicherheit
Unter dem Stichwort Sicherheit lassen sich viele Aspekte vereinen, jedoch ist einer davon hervorzuheben und muss primär berücksichtigt werden: die Wiederherstellung der Bodenunterstützungsfläche. Der Stand wäre nur einbeinig möglich, wenn die amputierte Seite nicht adäquat bis zum Boden verlängert und somit unterstützt wird. Auch im Zweibeinstand ist es günstig, den Körperschwerpunkt über einer großen Fläche austarieren zu können (Abb. 2). Während des Ganges, im Einbeinstand, ist zum einen die Größe, zum anderen die Lage dieser Fläche relevant.
Wie viel Bodenunterstützungsfläche sollte ein Prothesenfuß bieten? So viel Fläche, wie der menschliche Fuß bietet, d. h. die volle Fußlänge und die volle Fußbreite. Günstig ist es hierbei, wenn der Prothesenfuß, z. B. mit einer Carbonfeder, einen langen Hebel bis in die Fußspitze bietet und so die maximale Länge des Fußes nutzt (Abb. 3). Das Gleiche gilt für den Fersenbereich. Allerdings führt dies auch zu einem Problem: Das Durchschwingen wird erschwert, der Prothesenfuß kann hängenbleiben. Abhilfe schafft ein integriertes, adaptives Knöchelteil, welches den Prothesenfuß in einer Dorsalextension hält, um das Durchschwingen zu erleichtern.
Geschäumte Füße mit festem Innenkern bieten eine weniger effektive Bodenunterstützungsfläche, da die weicheren Bereiche der Ferse und des Vorfußes unter Belastung nachgeben (Abb. 4).
Dieser Effekt kann gewünscht sein, wenn die Abrollung erleichtert werden soll, allerdings mit dem Nachteil geringerer Sicherheit. Kritisch ist das Schaummaterial unter dem Aspekt Alterung zu sehen. Die Eigenschaften des Materials ändern sich mit der Alterung meist hin zu weniger Steifigkeit. So verringert sich bei einem gealterten Schaummaterial des Prothesenfußes auch der Widerstand im Vorfußbereich.
Die Breite der effektiven Bodenunterstützungsfläche spielt eine wichtige Rolle, im Besonderen, wenn sich der Prothesenträger im Einbeinstand befindet. Hier wird der Körperschwerpunkt nur in der Fläche eines Fußes unterstützt. Oft berichten Prothesenträger bei sehr schmalen Fußkonstruktionen von einem unsicheren Ganggefühl, da seitliche Kippmomente entstehen.
Wichtig sind die Widerstände des Prothesenfußes gegen eine Bewegung in Richtung Dorsalextension bzw. Plantarflexion. Interessanterweise verhält sich eine geringe Steifigkeit des Prothesenfußes analog zur übermäßigen Dorsalextension oder Plantarflexion des Prothesenfußes. Ein Beispiel: Wenn der Widerstand gegen die Dorsalextension zu schwach ausfällt, kippt der Prothesenfuß erst in eine stärkere Dorsalextension, bevor der Moment der einsetzenden Kniestreckung erreicht wird. Es kann kein suffizientes kniestreckendes Moment entstehen, trotz langen Vorfußhebels und korrekten Prothesenaufbaus. Dieses Defizit kann im Stehen zum Teil kompensiert werden 3, im Gang zeigen sich jedoch stärkere Auswirkungen.
Nicht zu vernachlässigen ist die Multiaxialität eines Prothesenfußes. Oft wird dieser Aspekt nur im Zusammenhang mit unebenen Untergründen als vorteilhaft bewertet. Dabei gibt es beim Abrollen des gesunden Fußes eine deutliche Bewegung zwischen der Inversion und der Eversion von mindestens 10°, abhängig von der Fußaußenrotation 4. Der Prothesenträger wird auch auf ebenen Untergründen sicherer laufen, wenn der Prothesenfuß Bewegung zulässt. Seitliche Kippmomente werden verringert, das vollflächige Aufliegen des Fußes verbessert 5. Allerdings muss der Bewegungsumfang durch einen gewissen Widerstand begrenzt sein, bestenfalls gibt es einen progressiven
Anstieg des Widerstandes bis zum „festen Anschlag“.
Stoßdämpfung
Fußpassteile können durch ihre jeweilige Konstruktion oder durch separate, eingebaute Bauteile eine Stoßdämpfung zulassen. Auch besteht die Möglichkeit, einzelne Stoßdämpfungseinheiten modular zu ergänzen. Physiologisch wird eine Stoßdämpfung zum großen Teil durch eine kontrollierte Flexion der Gelenke durch exzentrische Muskelarbeit unter Last erreicht. Außerdem entsteht eine Stoßdämpfung durch kontrollierte Valgisierung des Calcaneus unter Last. Für einen Prothesenfuß bedeutet das: Er muss die Plantarflexion unter Last kontrolliert zulassen, und der Fersenbereich muss eine stoßdämpfende Funktion aufweisen.
Grundsätzlich besteht Bedarf an einer suffizienten Stoßdämpfung. Während beim langsamen Gehen die Bodenreaktionskraft ungefähr dem Körpergewicht entspricht, so kann beim Laufen diese Kraft auf mehr als das Doppelte des Körpergewichtes ansteigen. Dementsprechend ist eine Möglichkeit zur individuellen Anpassung funktionell sinnvoll. Ist die Ferse des Prothesenfußes beispielsweise zu weich, so gibt es keine suffiziente Dämpfung des Stoßes, und der Patient sinkt zu stark im Fersenbereich ein. Dadurch entsteht ein früher Vollfußkontakt, und das weitere Abrollen wird erschwert. Ist die Ferse zu fest, gibt es ebenfalls eine unzureichende Dämpfung und einen schnellen Vorschub des Unterschenkels in die mittlere Standphase. Daraus folgt eine Knieinstabilität, gerade in einer Gangphase, in der Sicherheit elementar ist. Oft kann der Prothesenträger dies durch Muskelarbeit kompensieren, allerdings entsteht dadurch ein höherer metabolischer Umsatz. Letztendlich begünstigt eine nicht korrekt abgestimmte Stoßdämpfung den sogenannten „Doppelschlag” im Kniegelenk.
Erhaltung der Fortbewegung
Eine energiesparende Fortbewegung ist grundsätzlich anzustreben. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, den Bewegungsablauf so harmonisch wie möglich zu gestalten, die generierte Vorwärtsbewegung weitgehend beizubehalten und diese nicht durch Fehlbewegungen zu stören. Diese Aspekte kommen bereits bei der initialen Standphase zum Tragen. Eine passende Fersendämpfung (nicht zu weich) und ein suffizienter Rückfußhebel werden eine erste Abrollung des Fußes über die Ferse zulassen. Die hinter dem prothetischen Knöchelgelenk verlaufende Bodenreaktionskraftlinie bewirkt zusammen mit dem Fersenkipphebel („heel rocker”) eine Plantarflexion des Fußes und eine Vorwärtsbewegung des Unterschenkels 6. Ist die Ferse zu weich, tritt ein zu früher Vollfußkontakt ein und bremst die weitere Abrollung aus. In der Regel weist ein Carbonfederfuß in dieser Gangphase eine Vorspannung der Fersen- und Hauptfeder auf. Beide Federn bewirken durch ihre Vorspannung eine Vorwärtsbewegung des Unterschenkels nach anterior und somit die nötige Tibiaprogression. Wenn der Vorfußbereich den Boden berührt, findet die weitere Abrollbewegung im prothetischen Knöchelgelenk statt, als sogenannter „ankle rocker”. Bis zur Entspannung begünstigen Fersen- und Hauptfeder eine Tibiaprogression bis in die mittlere Standphase hinein.
Bei einigen Gelenkfußkonstruktionen lassen sich die Widerstände der Abrollung im Knöchelgelenk besser anpassen, z. B. durch verschiedene Puffer. Der Carbonfederfuß ist meist vorkonfiguriert. Wichtig ist ein harmonischer Übergang in der Bewegung zwischen Plantarflexion und Dorsalextension. Die weitere Abrollung ab der mittleren Standphase im Knöchelgelenk lässt den Unterschenkel nach vorne kippen; es findet eine Dorsalextension unter Last im Knöchelgelenk statt 7. Damit einhergehend wird die Vorfußfeder nun vorgespannt; nach Ablösen der Ferse findet die Abrollung als „forefoot rocker” statt, die Dorsalextension unter Last wird verstärkt. Zum einen wird ein Extensionsmoment im Kniegelenk generiert, zum anderen wird die Grundlage gelegt, um die Extremität aus der zurückliegenden Position in die Schwungphase zu beschleunigen. Hier ist die passende Härte der Vorfußfeder sowie die vorhandene, effektive Vorfußhebellänge entscheidend. Ebenso zeigt sich eine positive Wirkung des langen Vorfußhebels auf die Beckenbewegung. Es fällt am Ende der prothesenseitigen Standphase weniger stark ab. So ergibt sich ein geringerer Energieverbrauch und eine geringere Mehrbelastung der kontralateralen Seite.
Fußkonstruktionen
Der Markt bietet eine große Vielfalt an verschiedensten prothetischen Fußpassteilen. Daher muss der versorgende Techniker ein grundlegendes Verständnis der Konstruktionsprinzipien mitbringen, um entsprechende Eigenschaften ableiten zu können.
Nach BUFA werden Füße mit „echtem” Gelenk und solche ohne Gelenk unterschieden. Diese können jeweils eher energiespeichernd/-rückgebend oder eher energieabsorbierend sein. Teilweise sind adaptive Knöchelgelenke vorhanden. Außerdem wird die mögliche Beweglichkeit in 3 Ebenen angegeben (Abb. 5).
Ist eine Justierung des Fußpassteils nötig, so besteht häufig, je nach Hersteller und Modell, die Möglichkeit, das Fußpassteil individuell anzupassen, z. B.:
- Anpassen der Fersendämpfung (durch Austausch des Fersenkeils/Änderung des Luftdruckes)
- Anpassen der vertikalen Dämpfung (durch Austausch von Pufferelementen/Änderung des Luftdruckes)
- Anpassen der Vorfußsteifigkeit (durch Austausch von Elastomereinheiten)
- Anpassen des Dorsal-/Plantaranschlages (durch Puffer)
- Anpassen des Verhältnisses Vorfuß-/Rückfußhebel (durch eingebauten Verschiebeadapter).
Zu erwähnen bleibt noch, dass der versorgende Techniker nicht davor zurückschrecken darf, auch die Kategorie („Härtegrad”) des Fußes zu wechseln, gerade wenn das Körpergewicht im Grenzbereich einer Kategorie liegt. In der Regel besteht das Angebot, Prothesenfüße für einen gewissen Zeitraum zu testen. Außerdem muss der Prothesenträger das ausgewählte Fußpassteil unter realen Bedingungen im Alltag erproben können.
Fazit
Die erfolgreiche Anpassung eines prothetischen Fußpassteils wird in der Praxis von vielen Faktoren beeinflusst. Primär müssen die individuellen Bedürfnisse und Gegebenheiten des Patienten ermittelt werden und als Grundlage dienen. Das Wissen des versorgenden Technikers spielt eine wichtige Rolle, kann er doch die Aufgabe umsetzen, das passende Fußpassteil nach dem „Charakter” auszuwählen. Eine Bewertung der Versorgungsqualität kann nur mit Hintergrundwissen über den physiologischen Gang des Menschen sowie Wissen über Gangmuster des Amputierten erfolgen. Die Bewertung ist aussagekräftig, wenn die Erprobung des Fußpassteils unter alltäglichen Bedingungen stattfindet. Im Laufe der Versorgung wird eine individuelle Anpassung des Fußpassteils nötig sein, die in jedem Fall durchzuführen ist, um das momentane Versorgungsergebnis zu verbessern.
Der Autor:
Jan Becker
Orthopädie-Techniker-Meister (CPO‑G)
Fachlehrer für Transtibiale Prothetik
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
J.Becker@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Becker J. Auswahl prothetischer Fußpassteile unter Berücksichtigung biomechanischer Aspekte. Orthopädie Technik, 2014; 65 (6): 50–53
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- Perry J. Gait analysis: Normal and pathological function. Thorofare, NJ: Slack Inc., 1992
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