OT: In OT-Betrieben stehen die Frauen nicht am Herd, sondern am Verkaufstresen – trifft dieses Klischee auch auf Ihr Haus zu?
Petra Menkel: Keineswegs! In unserer Orthopädie-Technik arbeiten sechs Frauen und vier Männer, und zwar unter der Leitung einer OT-Meisterin. Die Orthopädieschuhtechnik-Werkstatt mit zwei Männern wird von einem OST-Meister geleitet. Eine Bandagistin hat die Leitung unserer Sanitätshausabteilung mit sechs Frauen und zwei Männern inne. Selbst in unserer Geschäftsleitung sind mit Stephan Schildhauer und mir als geschäftsführende Gesellschafter beide Geschlechter am Start.
Angleichung der Gehälter
OT: In Deutschland speist sich ein Großteil des Selbstwertgefühls über die Höhe des monatlichen Einkommens. Entsteht damit nicht automatisch ein Graben zwischen Werkstatt und Verkauf?
Menkel: Bis vor einigen Jahren traf das zu. Inzwischen hat sich viel geändert. Das Lohnniveau der Sanitätshausfachverkäufer:innen hat sich mit rund 2.200 bis 2.800 Euro pro Monat dem der Werkstattmitarbeiter:innen angeglichen. Bei den Auszubildenden gibt es allerdings noch immer Unterschiede. Die Sanitätshausmitarbeiter:innen sind traditionell den Industrie- und Handelskammern angegliedert und in der Bezahlung in der Kategorie Einzelhandelskaufmann/-frau eingeordnet. Im ersten Ausbildungsjahr verdienen sie daher monatlich schon um die 1.000 Euro, während OT- und OST-Auszubildende den Handwerkskammern zugeordnet sind. Mit rund 500 Euro Monatslohn im ersten Jahr trifft auf sie die im Handwerk noch immer schlecht bezahlte Ausbildungsvergütung zu. Berufspolitisch versuchen wir über den Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und die Landesinnungen daran etwas zu ändern. Gemeinsam arbeiten wir an einer Erhöhung der Gehälter für Auszubildende. Es muss aber auch bezahlbar bleiben, denn die Ausbildung von Handwerker:innen braucht viel Engagement und Zeit der Werkstattkolleg:innen. In den ersten Monaten werden handwerkliche Grundkenntnisse vermittelt und erst danach geht es in die auftragsbezogene Arbeit, wo auch unterstützend gearbeitet wird.
OT: Wie kam es zur Angleichung der Gehälter?
Menkel: Im Wesentlichen hat das zwei Gründe. Zum einen wechseln immer mehr Menschen aus Pflegeberufen in Sanitätshäuser. Diese wollen natürlich mit dem Wechsel keine Lohneinbußen verbinden. Zweitens hat sich der Beruf der Sanitätshausfachverkäufer:innen verändert. Diese sind zunehmend hoch qualifiziert, zum Beispiel lymphologisch geschult, sie kennen die gesamte Angebotsbandbreite der Hersteller und vor allem ihre Grenzen. Denn zur Qualifikation gehört es zu wissen, wann eine Sonderversorgung durch einen Kollegen oder Kollegin aus der Werkstatt notwendig ist. Natürlich reicht es nicht, einmal einen Weiterbildungskurs zu absolvieren. Die Betriebe müssen beständig an der Qualifizierung ihrer Mitarbeiter:innen dranbleiben. In zahlreichen Verträgen der letzten Jahre mit den Krankenkassen ist es sogar vertraglich gefordert, dass die ausführenden Mitarbeiter:innen ihre Kenntnisse alle drei Jahre nachweislich auffrischen müssen. Das Thema Qualifizierung nimmt in den Verhandlungen mit den Krankenkassen einen immer größeren Raum ein. Das stärkt die Wertschätzung von Geschäftsleitung und Werkstatt gegenüber den Sanitätshausfachverkäufer:innen und deren Selbstbewusstsein.
Zukunft liegt in der Qualität
OT: Unterstützen Sie die berufspolitische Forderung nach mehr transparenter Qualität in Werkstatt und Sanitätshaus?
Menkel: Absolut! Vor etwa fünf oder sechs Jahren haben der BIV-OT und die Landesinnungen ein Umdenken auf den Weg gebracht. Unser gemeinsames Credo ist: „Wir liefern Qualität – deshalb wollen wir auch gut bezahlt werden.“ Damit verbunden ist eine ständige messbare Qualifizierung unserer Arbeit und Mitarbeiter:innen, ob im Sanitätshaus oder in der Werkstatt. Ich fürchte, das haben noch nicht alle in der Branche verstanden. Nehmen Sie die Kolleg:innen, die etwa Einlagenversorgungen nach einem von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommenen Abdruck fertigen und dann an Patient:innen schicken. Auch die gibt es! Als Innungen können wir rechtlich nicht dagegen vorgehen. Aber die Krankenkassen könnten es, wenn sie es denn wollten. Hier müssten wir sogar einen engeren Schulterschluss mit den Krankenkassen suchen. Oder nehmen sie die Barmer Ersatzkasse, die mit ihrer sogenannten Online-Einlagenversorgung aus meiner Sicht einen Testballon gestartet hat, um zukünftig auch bei weiteren Hilfsmitteln auf Qualität und deren Bezahlung zu verzichten. Das ist der falsche Weg. Ich bin überzeugt, dass allein in der nachweisbaren Qualität unserer individuellen Beratungsleistung und Hilfsmittelerstellung bzw. ‑anpassung unsere Zukunft liegt. Standardversorgungen aus der Schachtel werden Algorithmen bald besser können als wir. Da können wir logistisch nicht mithalten.
OT: Nehmen Sie Unterschiede in der Arbeitskultur von Werkstatt und Sanitätshaus sowie von Handwerk und Verkauf wahr?
Menkel: Der Ton in der Werkstatt ist direkter. Hier ärgert sich der eine oder andere der Mitarbeiter:innen lautstark, wenn die eigene Arbeit oder die von Kolleg:innen nicht zufriedenstellend ist. Im Sanitätshaus geht es dagegen leiser zu.
OT: Wie nehmen Sie den Ton untereinander wahr?
Menkel: Der Ton untereinander hat sich in den letzten Jahren verändert. Gab es früher ein Herabblicken auf die Mitarbeitenden in den Sanitätshäusern, findet heute ein Dialog auf Augenhöhe zwischen Werkstatt und Verkauf statt. Dazu hat nicht nur die zunehmende Qualifizierung geführt. Zusätzlich wirken sich hier die Erfahrungen aus der Corona-Zeit aus. In der Hochzeit der Pandemie blieb das Sanitätshaus geschlossen, in der zweiten Phase war das Sanitätshaus nur halbtags geöffnet und die Mitarbeiter:innen in Kurzarbeit.
Gleichzeitig ging die Arbeit in der Werkstatt auf Hochtouren weiter. Das führte durchaus zu Konflikten. Parallel haben die Werkstattmitarbeiter:innen aber auch hautnah gespürt, wie wichtig der Verkauf ist. Denn ohne das Personal im Sanitätshaus ist die Gewinnung von Kund:innen sehr schwer. Damit hat die Pandemie ebenfalls zu mehr Wertschätzung seitens der Werkstatt für das Sanitätshaus geführt.
Verständnis und Unterstützung
OT: Wie überbrücken Sie Konflikte innerhalb des Betriebes?
Menkel: Im Falle von Corona haben wir viele Gespräche geführt und alle Seiten ermuntert, sich in die Schuhe des jeweils anderen zu stellen. Techniker:innen, die einen gewissen Neid auf die Freizeit der verkürzt arbeitenden Angestellten äußerten, haben wir etwa verdeutlicht, welche Vorteile die Werkstatt im normalen Alltag bietet. Wer hier angestellt ist, kann morgens gleitend zur Arbeit erscheinen und kann am Freitag ab 13 Uhr gehen. Sanitätshausmitarbeiter:innen müssen hingegen fünf Tage die Woche von 9 bis 18 Uhr im Laden stehen. Solche Prozesse für ein gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Unterstützung begleiten wir aktiv. So sorgen wir grundsätzlich dafür, dass jeder Auszubildende in der jeweils anderen Welt Station macht. Nur durch eigenes Erleben lernt man, dass beispielsweise nicht jeder dem Stress an der Verkaufstheke gewachsen ist, wenn fünf Menschen gleichzeitig mit einem Rezept in der Hand bedient werden wollen. Umgekehrt wird einem erst in der Werkstatt bewusst, wie kompliziert und langwierig etwa die Anfertigung einer individuellen Orthese ist. Diese Form der gegenseitigen Sensibilisierung muss weitgehend über die Betriebe erfolgen. Zum Glück wird seit einiger Zeit von den Gesell:innen in der Prüfung auch ein Beratungsgespräch mit Versorgungsbeispiel aus dem klassischen Sanitätshausbereich wie der Kompressions- oder Einlagenversorgung gefordert. Bei uns verbringen die OT Lehrlinge drei Monate innerhalb der Ausbildung im Sanitätshaus.
OT: Was sollte sich in den verschiedenen Ausbildungsgängen und vielleicht sogar schon in den allgemeinbildenden Schulen ändern, um bereits hier gegenseitige Wertschätzung zu vermitteln?
Menkel: Hier braucht es einen viel engeren Schulterschluss mit der Bildungspolitik in Bund und Ländern. Ich würde mir wünschen, dass schon in den Grundschulen und spätestens in den weiterführenden Schulen vermittelt wird, dass man auch etwas wert ist, wenn man kein Abitur hat oder ein Handwerk gelernt hat. Viel zu lange haben wir als Gesellschaft gefordert, jeder und jede müsste Abitur und Studium aufweisen, um anerkannt zu werden. Das ist eine katastrophale Entwicklung, deren Ergebnisse mit und nach Corona erst für viele sichtbar werden, weil sie keine Handwerker:innen mehr auf die Schnelle bekommen. Wir alle müssen als Gesellschaft den Handwerksberufen wieder mehr Wert zubilligen und hier das Ruder schnell rumreißen. Einen Teil können wir OT Innungen dazu beitragen, indem wir aufzeigen, wie glücklich uns unser Beruf am Menschen macht und dass es viel sinnstiftender ist, anderen zu helfen, als nur an den Kontostand zu denken.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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