Einleitung
Bei der Versorgung von Patienten mit Prothesen für die obere Extremität hat die Funktion in der Regel einen hohen Stellenwert, an dem sich die aktuelle technische Entwicklung messen lassen muss. Die verwendeten Passteile spielen dabei eine große Rolle. Aber sosehr aktuelle Passteile auch dem natürlichen Vorbild der Hand nacheifern, wenn es um Griffgeometrien oder Griffgeschwindigkeit geht – dem direkten Vergleich mit der natürlichen Hand halten sie weiterhin nicht stand. Und obwohl es vielgelenkige Greifkomponenten zur Abbildung unterschiedlicher Griffmuster und Prothesenhände mit relativ hohen Geschwindigkeiten für schnelle Reaktionszeiten gibt, bleiben diese doch nur Werkzeuge, die nicht die gleiche Stabilität, Flexibilität und Feinmotorik, geschweige denn Sensibilität aufweisen wie eine natürliche Hand. Dennoch: All das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um nützliche Werkzeuge handelt, die Patienten ein hohes Maß an Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Teilhabe ermöglichen.
Der technische Aufwand, durch eine weitgehende Miniaturisierung der Bauteile ein hohes Maß an Funktionalität bei annähernd physiologischen Dimensionen zu erzielen, darf selbstverständlich gewürdigt werden. Eine Marktanalyse gibt aber schnell Aufschluss darüber, dass diese Optionen technisch-mechanisch bedingt nur in bestimmten Größen zur Verfügung stehen und damit nicht oder nicht hinreichend imstande sind, die realen Bedürfnisse von Menschen mit Amputation abzudecken.
In diesem Kontext gibt es eine Zielgruppe, die nicht oder nur unzureichend durch industriell gefertigte Komponenten berücksichtigt wird: Kinder. Dabei haben insbesondere Kinder einen hohen Funktionsanspruch und wollen in kompromissloser Weise von einer prothetischen Versorgung profitieren. Myoelektrische Prothesen sind der anerkannte Stand der Technik zur Sicherstellung von Selbstständigkeit und Teilhabe 1. Bei der Versorgung von Kindern mit derartigen Konzepten existieren aber keine Lösungen, die stabil, kräftig und hochfunktionell genug sind, um deren speziellen Anforderungen Rechnung zu tragen. Auf dem deutschen Markt steht faktisch nur ein einziges dezidiertes Kinder-System zur Verfügung, das tatsächlich bei Kindern ab dem Vorschulalter angewendet werden kann. Mit Ausnahme eines aktualisierten Elektromotors und neuer Steuerungseinheiten sowie Akkus wird das System im Kern seit über dreißig Jahren im Prinzip unverändert hergestellt (Abb. 1). Keine der aktuellen Entwicklungen hat dabei die Greiffunktion verbessert; diese Kinderhand bildet lediglich einen Dreipunktgriff mit eingeschränkter Griffgeometrie ab. Zwar bietet sie durchaus einen Funktionsvorteil im Sinne einer aktiven Greiffunktion, des Haltens von Gegenständen und bimanueller Tätigkeiten, lässt aber Geschwindigkeit, Kraft und Adaptivität vermissen. Aspekte wie fehlende Wasserdichtigkeit und nur bedingte mechanische Belastbarkeit kommen erschwerend hinzu.
Spannungsfeld der Bedürfnisse
Während Erwachsene nach einer eingehenden fachlichen Beratung häufig in der Lage sind, Vor- und Nachteile einzelner Systeme für ihre jeweilige Alltagsanwendung in reflektierter Weise abzuwägen, und dabei auch bereit sind, Kompromisse zu schließen, ist die Compliance bei Kindern in hohem Maße davon abhängig, wie gezielt ihre Bedürfnisse adressiert und die Einschränkungen in der Komponentenauswahl durch möglichst kompromisslose Schaftkonstruktionen und hochgradig individuelle Sonderlösungen kompensiert werden. Dies schließt auch besondere kosmetische Anforderungen nicht aus.
Die zuverlässigste Quelle für die Bedürfnisse des Kindes ist dabei das Kind selbst. Nicht die Eltern und Betreuer und auch nicht der Orthopädietechniker wissen, welche konkreten Anforderungen an die Hilfsmittelversorgung bestehen. Das Kind muss daher als selbstständige Person betrachtet und seinen Wünschen Gehör geschenkt werden. Dabei müssen auch die bestehenden Funktionen der vorhandenen oder verbliebenen Extremitäten berücksichtigt werden. Denn nicht selten sind Kinder in der Lage, mit Hilfe ihres Stumpfes Aufgaben schnell, gezielt und geschickt zu lösen, während eine Prothesenversorgung durch ihr Gewicht, die mangelnde Geschwindigkeit und Adaptivität und den Verlust des Tastsinns im Einzelfall hinderlich sein kann (Abb. 2). Zwar kann eine funktionelle myoelektrische Versorgung in das tägliche Spielen, Basteln, selbstständiges Ankleiden oder Essen zielführend integriert werden, jedoch muss die Entscheidung für die Nutzung einer Prothese beim Kind selbst liegen. Dieses sollte daher möglichst selbstständig seine funktionellen Defizite benennen und die erarbeitete Lösung darauf eingehen. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Überversorgung oder eine Überforderung vermieden werden, denn sollte selbst die aufwendigste elektrische Prothese – beispielsweise zur Ermöglichung des Radfahrens – als hinderlich wahrgenommen werden, so kann davon ausgegangen werden, dass das Kind den Aufwand des Anlegens der Prothese zumindest für kurze Fahrtstrecken scheuen und die Prothese somit nicht anlegen wird.
Unbenommen davon bleibt bei der Versorgung die Forderung, Kinder zwar kindgerecht, aber ebenso gründlich wie Erwachsene über die Möglichkeiten der Prothese aufzuklären, ihnen damit Chancen zu eröffnen und Angebote zu unterbreiten, ohne dabei jedoch „Horrorszenarien“ in Bezug auf reduzierte Teilhabe, Spätfolgen oder ähnlich Einschüchterndes aufzubauen. Die Entscheidung für die Nutzung einer Prothese obliegt schließlich genauso in letzter Konsequenz demjenigen, der die Prothese tragen soll – dem Kind. Dies soll jedoch nicht als Pflichtentbindung der Fachleute aus Orthopädie-Technik, Therapie und Medizin verstanden werden. Vielmehr soll es aufzeigen, wie komplex sich der Werdegang einer prothetischen Versorgung gestalten kann und wie wichtig es ist, sich dabei mit dem Patienten – also dem Kind – auseinanderzusetzen. Nicht die Fachlichkeit der Versorgung wird am Ende im Vordergrund stehen, sondern der reale Nutzen der Prothese im Alltag. Dies ist ein häufig langwieriger Prozess, den das Versorgungsteam fachlich versiert und empathisch begleiten muss – macht doch die Betroffenheit selbst einen Patienten eben nicht automatisch zum „Fachmann“ und obliegt die versorgungsseitige Entscheidung über die zweckmäßige und wirtschaftliche Ausführung in letzter Konsequenz dem Kompetenzteam aus Orthopädietechniker, verordnendem Arzt und Therapeuten 2.
Insbesondere bei der Versorgung von Kindern müssen darüber hinaus auch deren Eltern berücksichtigt werden. Sie dienen als Schnittstelle, „Dolmetscher“ und Motivator und haben selbst viele Fragen, Ängste und Ideen, die beantwortet, ernst genommen und diskutiert werden müssen. Sie sind unter Umständen auch gute Beobachter und erkennen funktionelle Defizite, die man ansprechen, verifizieren und in der Planung adressieren kann.
YouTube, Google & Co.
In diesen vernetzten Zeiten gibt es viele Ideen und mediale Eindrücke zum Thema Armprothesen, die bewertet und im Versorgungsteam besprochen werden sollten. Nicht alles, was in den Medien gezeigt wird, ist in der Realität so, wie es dort erscheint; nicht jede Hoffnung, die dort geweckt wird, ist in der Realität und im Einzelfall wie dort suggeriert umzusetzen. Somit gewinnt die Aufklärung im Sinne der Umsetzbarkeit und Nachhaltigkeit unter Berücksichtigung regulatorischer Anforderungen an Bedeutung. Bei elterlicher Unsicherheit und Selbstzweifeln sollte sich daher auch der Orthopädietechniker der Aufgabe annehmen, diese zu analysieren, ggf. zu zerstreuen und darzulegen, dass das Kind eine eigene starke Persönlichkeit aufbauen und sein Leben ungeachtet aller Umstände selbstbestimmt führen kann. Hilfsmittel sollen dabei das sein, was sie sind – eine Hilfe und ein Werkzeug.
Versorgungsstufen je nach Alter
Altersabhängig sind Kinder mehr oder weniger imstande, ihre Bedürfnisse zu artikulieren; manchmal entbehren dabei einzelne Eindrücke vermeintlicher Defizite einer realen Grundlage. Jedes Kind hat seine individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit, und nicht immer gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen zeitlichen Abweichungen von Entwicklungsschritten in Bezug auf Lehrbuch-Statistiken und dem Fehlen physiologischer Strukturen.
Insbesondere die ersten Versorgungen können in einem Alter stattfinden, in dem die Eltern allein die Entscheidung treffen, eine Hilfsmittelversorgung zu initiieren. Dabei muss diese zunächst als Angebot gegenüber dem Kind betrachtet werden, mit dessen Hilfe zwanglos die ersten Eindrücke zur Nutzung einer Hilfsmittelversorgung vermittelt werden können. Während eine erste Habitusprothese bereits Kleinkindern demonstriert, wie hilfreich eine Hilfsmittelversorgung zum Abstützen oder als Gegenhalt sein kann, und die Körperwahrnehmung hinsichtlich der Prothesennutzung, aber auch der Eigenwahrnehmung selbst stärkt, hat der Ablauf des Versorgungsprozesses bei Kindern einen anderen Stellenwert als bei Erwachsenen: Je nachdem, wie kooperativ das Kind bereits beim Gipsabdruck und den Anproben ist und wie sehr alle Beteiligten möglicherweise bestehende Ängste ernst nehmen, kann diese Versorgung nicht nur positive, sondern auch negative Eindrücke manifestieren.
Es ist also darauf zu achten, dass eine Versorgung mit einer Prothese nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Kindes durchgeführt wird, um nicht im späteren Verlauf eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber hilfreichen Versorgungen zu provozieren. Wie Kooperation seitens der Kinder ausgedrückt wird, ist dabei leider nicht immer gut einzuordnen – bekanntermaßen folgen nicht alle Kinder den vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf Geduld, Kommunikation oder das Erkennen von Kausalzusammenhängen, die sich Erwachsene wünschen (Abb. 3).
Im Folgenden werden die wichtigsten Stufen einer Versorgung von Kindern mit einer Armprothese idealtypisch vorgestellt. Dazu zählen die Schritte Erstversorgung, Versorgung ab zwei Jahren sowie Versorgung ab vier Jahren.
Erstversorgung
Die Empfehlung zur ersten Versorgung sieht je nach Entwicklungsstand des Kindes den Beginn etwa um die Vollendung des ersten Lebensjahres vor. Zuvor hat das Kind genügend Zeit gehabt, eigene Körpererfahrungen und seinen Tastsinn auszubilden 3. Um diesen Zeitpunkt herum ist das Kind zudem in der Lage, frei zu sitzen und sich aufzurichten, sodass es vom Hebel und Gegenhalt der Prothese funktionell profitieren kann. Eine solche sogenannte Habitusprothese wird auch als „Patschhand“ bezeichnet, die deutlich mehr Funktionen aufweist, als es der althergebrachte Begriff vermuten lässt (Abb. 4). Aufgrund des hohen Wachstumspotenzials in dieser Phase ist eine vergleichsweise schnelle, unkomplizierte und nachpassbare Versorgungslösung empfehlenswert. Hochflexible Thermoplastschäfte berücksichtigen dies. Zwar steht diese Lösung anderen Materialien in Sachen Elastizität funktionell nach, jedoch überwiegen die Vorteile hinsichtlich Nachpassbarkeit und beschleunigter Fertigungszeiten, die eine längere Nutzbarkeit der Versorgung sicherstellen.
Der in diesem Fall zu schließende Kompromiss besteht aus einem möglicherweise reduzierten Bewegungsausmaß durch die zumeist unumgängliche Umgreifung des Olecranons durch weniger dehnbare Thermoplaste, die insbesondere in der Streckung einen früheren Anschlag bedingen als dehnbares HTV-Silikon. Diese Umgreifung kann bei Bedarf durch thermoplastische Verformung gedehnt und damit dem Wachstum ein Stück weit angepasst werden. Im Einzelfall ist abzuwägen, ob auch Konstruktionen mit HTV-Silikonen und eingearbeiteten Wachstumsarealen durch weiche Silikone mit größerer Dehnfähigkeit oder flexiblen Rahmenkonstruktionen dienlich sein können. Ziel sollte aber eine möglichst lange nachpassbare Umsetzung und Nutzung sein, ohne jedoch dabei dem funktionellen Aspekt einer anschmiegsamen Silikonlösung durch ein Maß an Rigidität derart nachzustehen, dass der Nutzen der Prothese anzuzweifeln wäre.
Versorgung ab zwei Jahren
Unabhängig von der Erstversorgung mit einer Patschhand kann ab einem Alter von etwa zwei Jahren eine Hilfsmittelversorgung mit primär funktionellem Charakter erfolgen. Dabei geht es weniger um physiologisch-ästhetische Aspekte als vielmehr um gezielte Unterstützung bei funktionellen Defiziten, die in diesem Alter bereits dem Kind selbst auffallen können oder die bestimmte altersentsprechende Aktivitäten erschweren oder sogar verhindern. Insbesondere Lenk- oder Besteckadaptionen (Abb. 5) können einen situativ gezielten Gebrauchsvorteil mit sich bringen, konzentrieren sich allein auf die möglichen Vorteile einer Hilfsmittelversorgung und vereinfachen die Anwendung und Nutzung ohne langwierige Anlegeprozesse, Gewichtsbelastung im Tagesverlauf oder Wärmestau außerhalb der Nutzungszeiten. Dies kann Ängste abbauen und allgemein Vertrauen zur Thematik der Hilfsmittelversorgung und zum zunächst als Fremdkörper empfundenen Hilfsmittel schaffen.
In der Vergangenheit bestanden gerade in der Diskussion mit ärztlichen Fachkollegen, im klinischen Alltag und zum Teil noch heute mit Gutachtern unterschiedlicher Institutionen Forderungen, den Wechsel zwischen Habitus- bzw. Patschhandprothese und funktioneller myoelektrischer Prothese über den Zwischenschritt einer traditionellen mechanischen Prothese zu durchlaufen, um die funktionelle Nutzung zu evaluieren. Diese Systeme benötigen aber ein Maß an Körperkraft und eine Wegverlängerung der Bandagenkomponente durch Kompensationsbewegungen des Rumpfes, die von Kindern typischerweise nicht oder nur schwerlich erzeugt werden können. Der Einsatz solcher Systeme scheitert daher häufig an der kindlichen physischen Struktur und Morphologie. Die Bandage, sofern nicht anderweitig erforderlich, schränkt zudem die Bewegungsfreiheit ein, und nicht zuletzt ist die Optik funktioneller mechanischer Komponenten im hiesigen Kulturkreis mit Stigmata und einer entsprechenden Abschreckungswirkung belegt. Da mechanische und myoelektrische Prothesen unter funktionellen und steuerungsseitigen Aspekten zudem kaum vergleichbar sind, ist der Wert einer solchen Evaluierung ohnehin zweifelhaft. Dieser Schritt wird daher nach heutigem Stand grundsätzlich nicht mehr empfohlen, um das Kind nicht unnötig zu verschrecken und überflüssige Umlernphasen zu vermeiden.
Versorgung ab vier Jahren
Ab einem Alter von etwa vier Jahren – wiederum je nach dem persönlichen Entwicklungsstand – ist die Versorgung mit einer myoelektrischen Prothese erfolgversprechend (Abb. 6). Ab diesem Alter sind Kinder in der Lage, ihre Bedürfnisse besser zu formulieren und Außenstehenden zu vermitteln. Gleichzeitig sind sie empfänglich für Erläuterungen etwa von Technikern oder Therapeuten. Häufig wird der Wunsch nach einer aktiven funktionellen Versorgung von den Kindern selbst geäußert, was sich im Versorgungsverlauf positiv auswirken kann, da eventuelle Rückschläge aufgrund der intrinsischen Motivation häufig besser verarbeitet werden und mehr Durchhaltevermögen demonstriert wird. Selbstverständlich kann der Versorgungsbeginn im Einzelfall auch früher oder später – je nach der mentalen Reife der jeweiligen Patienten und den individuellen Erfordernissen – stattfinden. Es ist dabei jedoch empfehlenswert, dass eine Versorgung idealerweise vor dem Schuleintritt oder dem Wechsel auf die weiterführende Schule abgeschlossen sein sollte, damit die Prothese bereits sinnvoll in den Alltag integriert werden kann und die Lernphase nicht mit den Eindrücken einer neuen Umgebung, neuen Ansprechpartnern und neuen Anforderungen konkurrieren muss. Diese Empfehlung bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch anderweitig Erfolge erzielt werden können.
Schaftgestaltung
Der Schaftgestaltung als Schnittstelle zwischen Mensch und Technik muss bei Kindern besondere Aufmerksamkeit zukommen. Während man sich bei Patschprothesen und Alltagshilfen zumindest zu Beginn vergleichsweise einfacher Materialien und Konstruktionsweisen bedienen kann (aber nicht muss), ohne dabei negative Folgen in Kauf nehmen zu müssen, ist spätestens im Falle funktionellerer Prothesen eine kompromisslose Schaftgestaltung dringend indiziert. Diese beschränkt sich nicht länger auf vergleichsweise einfache Materialien, sondern nutzt das volle Spektrum technischer Möglichkeiten mit hochflexiblen Silikonen und Faserverbundmaterialien und berücksichtigt jede zielführende funktionelle Erwägung hinsichtlich Randverläufen und Be- und Entlastungszonen, statt primär das Stumpfvolumen zu betten. Insbesondere die im Vergleich zu Komponenten für Jugendliche oder Erwachsene funktionell eingeschränkten Passteile dürfen nicht zusätzlich durch Defizite der Schaftgestaltung beeinträchtigt werden. Wie auch bei der hochfunktionellen Versorgung Erwachsener ist bei der Schaftgestaltung auf ein maximales physiologisches Bewegungsausmaß und einen optimalen Halt und Schaftkomfort in allen Positionen und bei sämtlichen Aktivitäten zu achten – Aspekte, die sich im Grunde nur mit hochelastischen, aber stabilen Materialien wie hochtemperaturvernetzenden (HTV-)Silikonen angemessen umsetzen lassen.
Die klinische Erfahrung zeigt dabei, dass eine mittlere Nutzungsdauer von 18 bis 24 Monaten auch bei Kindern im Wachstum möglich ist und dass somit unter Berücksichtigung des hohen Funktionsanspruchs auch bei einer aufwendigen Silikonschaftversorgung das Wirtschaftlichkeitsgebot berücksichtigt wird – zumal eine solche in erheblichem Maße Gebrauchsvorteile gegenüber allen sonstigen Materialien der modernen Orthopädie-Technik bietet. Nicht alle Schaftsysteme sind dazu jedoch gleichermaßen geeignet:
- Systeme wie Roll-Liner, die auf ein hohes Maß an Kompression angewiesen sind, bieten bei der Versorgung der oberen Extremität unter Berücksichtigung des kindlichen Wachstums oft keine ausreichende Nutzungsdauer.
- Silikon-Schlupf- und ‑Vollkontaktschäfte hingegen können die Anforderungen in der Regel umfassend erfüllen.
Folgende Konstruktionsmerkmale sollten dabei in Betracht gezogen werden:
- gezielte Elastizitäten,
- Berücksichtigung der Weichteilverformung in der Dynamik sowie
- geeignete Rahmenkonstruktionen.
Diese Aspekte sollten sogar noch detaillierter verfolgt werden als bei Erwachsenen, um das Wachstumspotenzial der jungen Trägerinnen und Träger der Prothesen besonders zu adressieren (Abb. 7).
Mittels der Schaftgestaltung muss zudem die Selbstständigkeit des Kindes unterstützt werden. Da dies das oberste Ziel der Gesamtversorgung ist, muss auch eine geeignete An- und Ausziehtechnik berücksichtigt werden, auch wenn insbesondere das Anziehen einer Prothese gerade bei den Kleinen und zu Beginn einer Versorgung Schwierigkeiten birgt. Demgegenüber sollte das eigenständige Ablegen im Bedarfsfall immer möglich sein.
Besondere Herausforderungen bei Kinderversorgungen
Auf technischer Seite stellen die Größendimensionen eine besondere Herausforderung dar. Diese grenzen die Auswahl der zur Verfügung stehenden Bauteile nochmals massiv auf sehr wenige elektromechanische oder allenfalls mechanische oder passive Produkte ein. Nicht selten genügen diese aber nicht den funktionellen, technischen oder physiologischen Anforderungen und erfordern individuelle Sonderlösungen und Zurichtungen. Dies schließt sowohl den Eigenbau von Komponenten als auch vereinzelte Modifikationen an Systemkomponenten mit ein, um das Versorgungsziel zu erreichen (Abb. 8). Natürlich sind regulatorische und haftungsrechtliche Fragen damit verbunden. Das Wissen darum, welche Komponenten in welchem Rahmen modifiziert werden können, ist bereits bei der Konzeption der Versorgung und der Aufklärung der Beteiligten von großer Bedeutung, wenn es um den zu erwartenden Grad der Zielerreichung hinsichtlich Funktion und Gestaltung geht. Das Gewicht spielt bei Kinderversorgungen ebenfalls eine große Rolle. Es ist so weit wie möglich zu reduzieren und Komponenten mit vergleichsweise hohen Massen – wenn möglich – im Sinne der hebelbedingten Belastung und Gewichtswahrnehmung möglichst nach proximal einzuplanen. Es ist daher im Einzelfall und trotz der funktionellen Vorteile besser, etwa auf eine Handgelenksbeweglichkeit (z. B. Flexion) zu verzichten, um das Gewicht zu reduzieren. Insbesondere myoelektrische Prothesen mit ihren Energieträgern sind zumeist kaum leichter zu konstruieren; hier ist also wie oben erwähnt vermehrt auf eine akkurate Platzierung der Komponenten in Körpernähe zu achten, um zumindest ungünstige Hebel zu reduzieren.
Gebrauchsschulung
Die mentale Reife, die Konzentrationsfähigkeit und die individuelle Geschwindigkeit von Kindern sind bei der Gebrauchsschulung ganz besonders zu berücksichtigen. Zudem sind individuelle Interessenlagen essentiell. Die Passform der Prothese in Aktion, also in der Dynamik, muss kritisch hinterfragt werden, denn mögliche Druckstellen werden nicht temporär toleriert. Eine adäquate und bequeme Passform entscheidet über die weitere Motivation der Träger einer Prothese. Die unterschiedlichen Phasen der Gebrauchsschulung müssen altersgerecht erfolgen. Dazu gehören die folgenden Aspekte:
- selbstständiges An- und Ablegen,
- wiederholende Übungen ohne und mit Gegenständen,
- alltagsbezogene Tätigkeiten sowie
- die dazugehörigen Erklärungen.
Die zu trainierenden Aktivitäten des alltäglichen Lebens müssen die tatsächliche Lebenssituation von Kindern widerspiegeln (siehe die Beispiele in Abb. 9). So kann durchaus die eigene Nase zum Einsatz kommen, um die Prothesenhand wiederholt zu schließen und zu öffnen, das Lieblingsstofftier wird für das Halten von Gegenständen genutzt, und es versteht sich von selbst, dass ein vierjähriges Kind eher Puppen ankleidet, bastelt und Bauklötze stapelt, als Wäsche zu bügeln und zu falten oder Akten zu lochen. Entsprechend sind die Trainingseinheiten auf eine spielerische Nutzung abzustimmen. Dabei kann es hilfreich sein, erste fehlerhafte Erfahrungen zunächst zuzulassen und anschließend durch gezielte Hilfestellung einen gemeinsamen Fortschritt zu erzielen. Dabei dürfen durchaus auch eigene Wege und Strategien der Kinder erarbeitet und zugelassen werden. Allerdings ist angesichts der unterschiedlichen Belastbarkeit und Motivation der Kinder oft mehr Geduld erforderlich als bei Erwachsenen. Dabei ist es nicht zielführend, Druck aufzubauen – ein Umstand, der auch mit den Eltern besprochen werden muss.
In dieser Phase der Versorgung zeigt sich erstmalig der funktionelle Nutzen der Prothese in einem größeren Rahmen. Ist dieser Nutzen für das Kind nicht ersichtlich und ist es auf keinem Weg zu einer Nutzung der Prothese zu motivieren, müssen das Versorgungskonzept und im Zweifel auch der Versorgungszeitpunkt hinterfragt werden. Die Testphase sollte daher stets ergebnisoffen sein. Deren Ziel ist es, nicht nur das technische Konzept zu evaluieren und ggf. zu modifizieren, sondern auch zu hinterfragen, ob eine Prothese im klassischen Sinne für den jeweiligen Patienten zum jeweiligen Entwicklungsstand überhaupt eine geeignete Lösung darstellt. Denn funktioniert eine wie auch immer geartete Versorgung nicht, so ist es nicht sinnvoll, diese bis zum Ende weiterzuverfolgen 4. Dies erzeugt unter Umständen nur Frustration und sinnlose Kosten. Im weiteren Versorgungsverlauf wird sich eine solche Negativerfahrung zumeist rächen, und die kleinen Patienten erinnern sich eher an die weniger positiven Aspekte als an die Möglichkeiten, die sich aus einer Prothesennutzung heraus für sie ergeben können. Dies ist sicher ein Verlust für alle Beteiligten, die sich zum Ziel gesetzt haben, Patienten ordnungsgemäß und nachhaltig zu versorgen.
Gestaltungskriterien
Je jünger Kinder sind, desto mehr Überzeugungsarbeit kann notwendig sein, um selbst bei intrinsischer Motivation zu Beginn eine langfristige Nutzung der Prothese und Ausdauer im Lernprozess zu fördern. Dabei kann es hilfreich sein, der Prothese etwas Spielerisches zu verleihen: Eine farbenfrohe Gestaltung im Sinne der Lieblingsvereinsfarben, ‑comicfigur oder ‑fernsehserie oder das Einarbeiten eines selbst erstellten oder zumindest selbst ausgewählten Motivs (Abb. 10) unterstützen einen selbstbewussten Umgang und eine persönliche Identifizierung mit der Prothesenversorgung – sicher Aspekte, die auch dem Ziel eines hinreichenden „Embodyments“ zuträglich sind, also der vollen Integration der Prothese ins Körperschema. Die Berücksichtigung der Gestaltungswünsche unterstreicht zudem auch gegenüber dem Kind, dass seine Bedürfnisse wahr- und ernst genommen werden – so wird es „seine“ Prothese und im besten Fall „seine“ Hand.
Dysmelie vs. Amputation
Im Falle einer Amputation unterliegt die Schaftgestaltung anderen Kriterien als bei einer angeborenen Fehlbildung. Das traumatisierte Gewebe, Vernarbungen oder Nervenstümpfe bedürfen dabei einer besonderen Berücksichtigung, während im Allgemeinen eine höhere Drucktoleranz gegenüber einer Weichteilkompression besteht. Zudem kennen Kinder mit einer Dysmelie keine Phantomphänomene, und es besteht grundsätzlich eine vollständige körperliche Integrität – etwas, was nie da war, fehlt auch nicht.
Andererseits zeigt die Erfahrung klar und manchmal hart auf, dass es sich eben doch um ein „Anderssein“ handelt und dass die von einer Amputation oder Dysmelie betroffenen Kinder ihre besondere Situation nicht immer gut einordnen können. Hier spielen die Familie und das weitere soziale Umfeld eine entscheidende Rolle und beeinflussen erfahrungsgemäß deutlich, wie das Kind die eigene Situation wahrnimmt und sich in der Gesellschaft wiederfindet – unabhängig davon, ob es sich um eine angeborene Situation oder eine Amputation handelt.
Bei einer Amputation lässt sich im Hinblick auf technische Aspekte feststellen, dass Prothesen funktionell betrachtet eine bekannte Funktion bis zu einem gewissen Maß wiederherstellen und damit die Patienten ein Stück weit aus ihrer zumindest anfänglichen Hilflosigkeit erlösen. Patienten mit Dysmelie hingegen weisen in der Regel keine physischen Pathologien auf – allein die Extremität hat eine ungewöhnliche Form oder fehlt möglicherweise ganz. Die Drucktoleranz des gesunden Gewebes unterscheidet sich häufig von dem eines Amputationsstumpfes; insbesondere Rudimente haben eine hohe Taktilität und sind, wie Fingerkuppen, besonders empfindlich gegenüber kontinuierlichem Druck. Gelenkachsen und ‑beweglichkeiten sowie der Verlauf von Blutgefäßen und weichteiligen Strukturen können von der durchschnittlichen Physiologie abweichen. Diese Aspekte müssen sich auch in der Schaftgestaltung widerspiegeln.
Funktionell erlernen Menschen mit Dysmelie früh Kompensationsmechanismen und setzen die betroffene Extremität ganz natürlich so ein, wie sie es zulässt. Dabei spielt die eingangs erwähnte psychologische Komponente eine entscheidende Rolle – Körperteile (dies gilt für eine dysmele Extremität, aber auch für einen Amputationsstumpf), die versteckt werden, weil man sich ihrer schämt, können nicht funktionell genutzt werden und führen möglicherweise zu einer zusätzlichen Einschränkung. Fällt die Wahl auf eine Prothesenversorgung, so darf angenommen werden, dass insbesondere bei Kindern die mentale, aber auch die kortikale Plastizität hoch ist. Auch Patienten, bei denen in sehr jungem Alter eine Amputation vorgenommen werden musste, sind in der Lage, schnell Kompensationsmechanismen zu erarbeiten. Diese Mechanismen sind prinzipiell begrüßenswert: Auch bei einer regelmäßigen Prothesennutzung wird es Episoden geben, in denen durch eine wachstumsbedingt mangelhafte Passform oder einen Defekt auf diese Mechanismen zurückgegriffen werden muss, um eine gewisse Selbstständigkeit zu erhalten. Damit sind sowohl Alltagsaktivitäten mit als auch ohne Prothese zu beüben und Defizite für die eine oder andere Situation nicht nur zu tolerieren.
Gleichzeitig können diese Mechanismen anfänglich eine Herausforderung bei der Aufgabe darstellen, die Notwendigkeit einer Prothesenversorgung festzustellen. Oft erkennen Kinder nicht auf Anhieb mögliche Defizite, die über ihre eigene Kompensationsfähigkeit hinausgehen, und es sollten ihnen weder Defizite eingeredet noch übertriebene Ängste vor Folgeerscheinungen bei ihnen geweckt werden. Vielmehr geht es in einer umfassenden Aufklärung darum, die Vor- und Nachteile einer Versorgung transparent aufzuzeigen und ihnen die damit verbundenen Chancen zu eröffnen. Bereits kleine Anregungen (eine bessere Körperhaltung und mehr Stabilität auf dem Rad erzielen, die Gabel rutscht nicht mehr weg, Tasche und Kuscheltier können gleichzeitig getragen werden etc.) wecken Neugier, bieten einen Einstieg in den Alltag und führen dazu, dass Kompensationsmechanismen auf ihre Effizienz hin hinterfragt werden.
Fazit
Die Versorgung von Kindern mit Armprothesen birgt besondere Herausforderungen. Oft steht dabei nicht alleine der Patient im Fokus der Aufmerksamkeit. Das Umfeld – insbesondere Eltern, aber auch Geschwister – müssen für die besonderen Anforderungen, die damit zusammenhängen, sensibilisiert werden. Es muss aber auch verdeutlicht werden, dass dabei nicht die Wahrnehmung des vermeintlich Normalen seitens der Gesellschaft, sondern das Kindeswohl und die Förderung der persönlichen Entwicklung im Vordergrund stehen. Dies schließt Versorgungskonzepte mit ein, die das Kind gezielt funktionell unterstützen, sich mitunter von physiologischer Ästhetik lossagen oder Sonderlösungen erfordern. Das Kind muss als eigenständige Person wahrgenommen und an Entscheidungen beteiligt werden. So kann sichergestellt werden, dass alle Beteiligten gemeinsam das gleiche Ziel verfolgen.
Die Autoren:
Boris Bertram, OTM
Dipl.-Ing. (FH) Merkur Alimusaj
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Universitätsklinikum Heidelberg
Schlierbacher Landstraße 200a
69118 Heidelberg
merkur.alimusaj@med.uni-heidelberg.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Bertram B, Alimusaj M. Armprothetische Versorgungen bei Kindern. Orthopädie Technik, 2021; 72 (3): 30–39
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Verein zur Qualitätssicherung in der Armprothetik e. V. (Hrsg.). Kompendium Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik, 2014
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G‑BA). Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsM-RL) in der Fassung vom 21. Dezember 2011/15. März 2012, veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 10.04.2012 B2), in Kraft getreten am 1. April 2012, zuletzt geändert am 17. September 2020, veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 30.09.2020 B2), in Kraft getreten am 1. Oktober 2020. https://www.g‑ba.de/downloads/62–492-2260/HilfsM-RL_2020-09–17_iK-2020–10-01.pdf (Zugriff am 30.12.2020)
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- Rass E. Kontaktaufnahme mit der Wahrnehmungswelt des Kindes: (Unerkannte) Störungen in der Wahrnehmungsorganisation und deren Auswirkungen auf die psychische Entwicklung. Theorie und Praxis für pädagogische und therapeutische Verstehens- und Interventionsmöglichkeiten. Norderstedt: Books on Demand, 2013